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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


den Kehlkopf entzündet, die Lungen stark angegriffen. Er läßt dem Singen sofort Einhalt thun, aber vielleicht in einzelnen Fällen zu spät, denn die betreffenden Organe sind in einem Grade afficirt, daß, wenn nicht gar ein Siechthum eintritt, eine jahrelange Ruhe und unter Umständen gänzliches Aufhören des Singens eintreten muß. Es ist nur zu beklagen, daß diese Singtyrannen nicht den Egoismus besitzen, derartige Herculessingarbeit mit fünfzig Pferdekraft zuerst an sich auszuprobiren. –

Eine andere Gattung von Singtyrannen präsentirt sich in Gestalt jüngerer Damen, welche die Gesangskunst durch Entnahme von zehn bis zwölf Stunden bei einem, wie natürlich, berühmten Lehrer an sich bringen und nun beispielsweise unter der Firma „Fräulein N N, Schülerin des berühmten Gesanglehrers N N“, ein eigenes Gesangunterrichtsertheilungsgeschäft in Scene setzen. In der Regel beginnt Fräulein N N damit, auf zeitungsinseratem Wege eine „soeben freigewordene Stunde“ um den billigen Preis von fünfzig Pfennigen wieder besetzen zu wollen. Da sie ihren Lehrer bei der Kürze der Lehrzeit und sehr oft ohne genügende Basis für den empfangenen Unterricht theils falsch, theils gar nicht verstanden hat, so sucht sie ihr erstes Debut dadurch günstig zu gestalten, daß ihre Schülerin zum allgemeinen Staunen schon beim nächsten großen Familienkaffee das hinlänglich eingepaukte Lied von Mendelssohn: „Leise zieht durch mein Gemüth“ mit dem üblichen Fortezug (wahrscheinlich um das „leise“ zu charakterisiren) stimmlich von sich giebt. Der Gesang ist zwar falsch und unrein, die Textaussprache incorrect und undeutlich, – – „aber die Stimme! – nein, diese Stimme, ist die in der kurzen Zeit stark geworden!“ – so tönt es aus Aller Munde. (In der That! Wozu Mutter Natur bei ruhigem Wachsen der Stimme zwei bis drei Jahre gebraucht hätte, das hat Fräulein N N in sechs Wochen zu Stande gebracht. Die Stimme hat zwar den jugendlichen Schmelz und den sinnlich reizvollen Klang eingebüßt, gleichwie der Schmetterling, dem man die Farbe vom Flügel wischt, zwar immer noch ein Schmetterling bleibt, aber seinen eigentlichen Reiz verloren hat, aber sie ist doch stark – das ist die Hauptsache. Und was gehörte dazu? Nur ein energisches Bestreben von Seiten der hochbegabten Lehrerin, jeden Ton mit höchstem Athemaufwand, mit gewaltigem Druck des Kehlkopfes singen, d. h. schreien oder quetschen zu lassen – sonst nichts.) Das Lied ist zu Ende. Die junge Sängerin wird allgemein umhalst, geküßt und beglückwünscht. Fräulein N N schraubt ihr Gesangunterrichtsertheilungshonorar in Folge dieses kolossalen Erfolges bis auf fünfundsiebenzig Pfennige. Die junge Schülerin munkelt zwar nach und nach immer mehr von Hals- und Brustschmerz etc. nach dem Singen, was aber in der Regel von der Lehrerin mit „ach, dummes Zeug!“ beantwortet wird und so lange fortgeht, bis der Arzt sein „bis hierher und nicht weiter!“ ausspricht.

Eine dritte Kategorie absoluter Stimmenverstärker oder Singtyrannen, welche unter Umständen sogar eine respectable Gesangsbildung erhalten hat, geht von dem Grundsatze aus, daß jede Stimme, von unten bis oben, einen egal-starken Ton produciren müsse. Wie falsch dieser Grundsatz ist, beweist hinlänglich die Thatsache, daß, wenn man ruhig gehaltene Töne in Absätzen mit egalem Athemverbrauch und in egaler Ansprache, ohne zu forciren, von unten aufwärts in Secundenschritten angiebt, die tiefere Lage der Stimme sich stets in einer gewissen Tonbreite und Fülle ergeht. Je mehr man nach der Höhe zu kommt, verliert sich diese Breite und macht dafür einer gewissen Tonhelle Platz, welche den Klang mehr und mehr dünner und lichter erscheinen läßt. Daß dies ein tief aus dem innersten Wesen des musikalischen Tones entsprungenes Resultat und als solches seit Jahrhunderten anerkannt ist, beweist die Thatsache, daß kein Streichinstrument, kein Pianoforte mit egalen Saiten bezogen ist, daß keine Flöte, Oboe, Clarinette etc. und kein Blechinstrument, möge es einen Namen tragen, welchen es wolle, so construirt ist, daß es möglich wäre, auf demselben von der untern bis zur obern Tonlage egal-starke Töne produciren zu können. Von einem leicht ansprechenden Tone der Mittellage aus nimmt nun die Minirarbeit ihren Anfang. Im Ganzen waltet hier bis zu einem gewissen Punkte mehr Vorsicht, als in den früher erwähnten Fällen. Man steigt vermittelst kleiner Uebungen in halben Stufen nach der Höhe, später auch nach unten zu, natürlich immer mit voller Stimme. Endlich hat der Schüler einen Punkt in der Höhe erstiegen, von welchem ab das Hinaufdrängen, auch selbst eines halben Tones, nur noch mit größter Gewalt seinerseits geschehen kann. Die Töne schlagen um; die Stimmbänder wirken nur noch mit größtem Athemaufwand; der Schüler verzagt, nur der muthige Lehrer nicht, denn er hat ja Nichts zu riskiren. Endlich kommt der Schüler an den Punkt, wo nach Ausspruch eines bekannten Hofcapellmeisters „die Stimme biegen oder brechen muß“, oder wo eine sehr bekannte einstmalige Hamburger Gesanglehrerin ihrer Schülerin zurief: „Halten Sie sich an dem Tische und schreien Sie den hohen Ton mit Gewalt heraus, denn wir müssen ihn stark haben.“ Die Folge einer solchen Methode ist im günstigsten Falle, wenn nämlich die Stimme während des Studiums überhaupt aushält, ein kurzes Aufleuchten und ein baldiges Abnehmen der Stimmmittel.

Die Früchte dieser letzteren Species sind leider nur zu häufig an den deutschen Theatern vertreten und bieten dem kunstverständigen Beobachter hinlänglich Gelegenheit, den widernatürlich geschraubten Gesangston (besonders in der Höhe) vernehmen zu können. Von einem natürlichen Wachsthum der Stimmmittel, wie sich solches überhaupt bei normal gebildeten Stimmen bis in die Mitte der dreißiger Jahre eines Menschen beobachten läßt, ist bei ihnen keine Rede. Der Lehrer hat bereits, gleichwie bei einer Citrone, Alles herausgepreßt, was an Saft und Kraft in der Stimme keimte; dieselbe kommt demnach fix und fertig als Treibhauspflanze aus dem Atelier des Lehrers hervor und hat nur eine Zukunft: die des allmählichen Hinschwindens. Die dehnbaren Organe eines jungen Menschen fügen sich willig so mancher Ungeheuerlichkeit in der Behandlung, und eine solche liegt in der oben geschilderten Methode. Ist aber das Jünglingsalter überschritten, fängt der Körper an, an seiner Elasticität einzubüßen, so rächt sich die Natur durch schnellen Rückgang der forcirten Organe zur Schlaffheit und Unwirksamkeit. Wird auch die Gesundheit der so Behandelten in der Regel seltener gefährdet, als in den früher vorgeführten beiden Fällen, so werden dadurch doch zweifelsohne unzählige Hoffnungen, welche durch regen Fleiß und edles Streben zu Tage treten, vernichtet.

Ein junger Mensch (männlichen oder weiblichen Geschlechts), der sich beispielsweise der Oper widmet, hat nach vorhergegangenem Gesangsstudium einige Lehrjahre am Theater selbst erst durchzumachen, ehe man bei ihm von künstlerischen Leistungen sprechen kann. Sind diese Jahre nun überstanden, steht der junge Sänger nun nicht mehr unter, sondern über seiner Aufgabe und tragen seine Leistungen künstlerisches Gepräge – welche Errungenschaften sich kaum vor Beginn der dreißiger Jahre geltend machen können – so würde ihm vielleicht eine glänzende Zukunft bevorstehen, wenn nicht die Natur käme und ihren Tribut auf eine grausame Weise durch schnelles Sinken der Stimmmittel einforderte.

Auf die nun vollständig gerechtfertigte Frage des geehrten Lesers: „Wie soll den aber eigentlich der Gesangsunterricht gehandhabt werden, um eine Stimme zu bewahren und um keine gesundheitsgefährlichen Symptome an den betreffenden Singorganen des menschlichen Körpers aufkommen zu lassen, und auf welche Basis haben sich Eltern, Vormünder und Gesangsschüler zu stellen, um sich ein wenigstens annähernd richtiges Urtheil über den betreffenden Unterricht zu bilden?“ – diene Folgendes als Antwort, welches freilich, der Tendenz dieses Blattes gemäß, nur kurz und in allgemeinen Umrissen – gleichsam als eine Art Präservativ gegen falsche und gesundheitsgefährliche Behandlung der Stimmorgane – gehalten sein kann.

Die Grundregel eines guten Gesangsunterrichtes ist, daß der Gesangston sich vor Allem aus dem Sprechton entwickele, und daß, ebenso wie jeder Mensch das Wort nicht hinten im Gaumen bildet, sondern vorn auf den Lippen entstehen läßt, auch der Gesangston von hier (von den Lippen) seinen Ausgangspunkt zu nehmen hat. Es ist daher gut, wenn man den Schüler, ehe er zum eigentlichen Gesangston übergeht, Silben in einer bestimmten Tonhöhe kurz abgebrochen sprechen läßt. Wenn dann der Sington, gleichsam als die Verlängerung einer solchen Silbe, sich aus derselben heraus entwickelt, so wird er keine falsche Richtung nehmen und die inneren Singorgane in keiner Weise schädigen. Man bemühe sich ferner, dem Gesicht beim Singen seinen natürlichen Ausdruck zu erhalten und die inneren Theile des Mundes mit der Zunge nur in schlaffer Haltung zu verwenden.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 871. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_871.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)