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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


den Distelfink und den kleinen Zeisig. Der Vogel sitzt auf einem kleinen Gerüste, welches einem Diminutivschaffot nicht unähnlich sieht; in der Tiefe befinden sich auf einem leichten Geleise der Fruchtbehälter und der Trinknapf, oft der letztere auch allein. Das Vögelein, welches durch einen Hamen auf seiner Stange festgehalten wird, muß, wenn es trinken will, die Schnur mit dem Schnabel erfassen und so das Gefäß zu sich heraufziehen. Anfänglich bereitet ihm die Arbeit jedenfalls viel Anstrengung und Qual, bald aber gewöhnt es sich an die Situation und arbeitet und sitzt oben, so lustig wie nur immer ein gefangener Vogel sitzen kann. Noch gelehriger als der Stieglitz erweist sich der Zeisig, welcher wahrscheinlich vermöge seines sanften Naturells sich überraschend schnell dem Zwange bequemt. Die Lehrmeister bezeichnen ihn deshalb als einen überaus gescheidten und anstelligen Vogel. Man kann auch bemerken, daß der Zeisig in dieser Lage nach gethaner Arbeit ganz munter singt und zwitschert; bei dem Stieglitz habe ich wenigstens das nicht beobachtet. Man kann jetzt von jedem dieser Abrichter hören, daß ein ähnlicher Versuch mit einem Buchfinken oder mit einem Gelbfinken zu keinem Resultate führt. Der Buchfink geht bei den Versuchen zu Grunde; er sieht den Wasserbehälter, aber er denkt nicht daran ihn emporzuheben, auch wenn man ihm die Sache hundertmal vormacht. Ganz vergeblich sind ferner die Versuche mit der gewöhnlichen Kohlmeise; sie ist derart wild und unbändig, daß sie sich würgt oder die Beine zerbricht, sobald sie nur auf dem Stabe losgelassen wird. Die Versuche, welche mit vielen anderen Singvögeln angestellt wurden, waren ebenfalls vergeblich. Selbst der Spatz will nichts von einer derartigen Dressur wissen, und er würde lieber verhungern, als sein Brod bei harter Arbeit verdienen. Wollte man den Grad der Intelligenz, der solcher Weise bei den Arten zur Erscheinung kommt, untersuchen, so müßte man (von unserem Standpunkte) zugeben, daß er bei jenen ein bedeutender ist und jedenfalls größer als bei den anderen Arten. Indessen zeigt sich bei anderen Gelegenheiten wieder, wo es sich um Sein oder Nichtsein handelt, der Stieglitz keineswegs so klug, wie etwa der Buchfink.

Der Stieglitz fällt dem Vogelsteller nur zu leicht in das verrätherische Garn, während der Buchfink, selbst wenn ein Lockvogel vorhanden ist, oft plötzlich Halt macht und die Gegend recognoscirt. Der Zeisig wiederum erweist sich unter allen Umständen als ein überaus intelligentes Vögelein; er wird auch im Zimmer schneller heimisch und sucht förmlich den Umgang mit Menschen. Die wilde, trotzige Meise ist ebenso klug wie gewandt, nur ihre Freßgier und ihre Neugierde können sie leichter in die Falle bringen, als irgend einen anderen Vogel. Das Kunststück des Futterholens erlernt übrigens ein solider Papagei schier ohne Bemühung und ganz auf eigene Faust. Wenn man diesen „Menschenvogel“ auf seiner Stange beobachtet, wie er die Gegenstände mit Kralle und Schnabel bearbeitet, wird man unwillkürlich an einen ungelenken Affen erinnert. Daher ist der Papagei vor allen Anderen berufen, unsere Kenntniß der Vogelseele zu erweitern und zu vertiefen.

In einigen Gegenden verwendet man gewisse Vogelarten zum Kartenschlagen. Vagirende Vogelhändler bringen dieselben auf den Jahrmärkten zur Schau und zum Verkauf. Ich habe solche Leute in Deutschland, in Belgien, in Frankreich und in Oesterreich gesehen, und sie besaßen immer die folgenden Arten: Canarienvögel, Zeisige, Kreuzschnäbel, Distelfinken und Staare. Ein Theil dieser Vögel ist „in der Freiheit“ dressirt. Jüngst zog ein solcher Kartenschläger in Wien auf der Elisabethbrücke die Aufmerksamkeit des Publicums auf sich. Er hatte in seinem Bauer mehr als ein Dutzend dressirter Thiere: Canarienvögel, Zeisige und deren Bastarde. Die Vögel mußten Nummern ziehen und das war eine neue Errungenschaft für das unheimliche Geschlecht der Lottoschwestern, die in Wien in gewissen Kreisen ihren Einfluß haben. Ein Vogel wurde hervorgeholt und mußte aus einem Behälter Karten hervorziehen und vor sich hinschleudern. Jede Karte zeigte eine Zahl, welche von den Weibern eifrig notirt wurde. Der Eigenthümer konnte einen Vogel veranlassen, zehn Mal Karten zu ziehen; das Thierchen war unermüdlich. Er konnte ihn auch durch kurzen Zuruf bewegen, den Schnabel von einer Karte zu entfernen und eine andere zu nehmen. Die Dressur ließ nichts zu wünschen übrig. Außerdem waren die Thiere so zahm, daß sie nicht einmal die Gelegenheit benutzten, um davon zu fliegen; der Künstler war seiner Gesellschaft so sicher, daß er es verschmäht hatte, ihr die Flügel zu stutzen. Es ist möglich, daß der Kreuzschnabel noch zugänglicher für die Dressur ist. Auf der Brücke von Notre Dame in Paris konnte man vor einigen Jahren einen alten Invaliden sehen, der eine Anzahl Kreuzschnäbel in ganz raffinirter Weise abgerichtet hatte. Er zählte un, deux, trois etc. und bei jeder Nummer, bei welcher er Halt machte, mußte der arme Kreuzschnabel den Kopf hervorstrecken und die Ziehung bewerkstelligen. Das war denn ganz komisch anzusehen, und die braven Kreuzschnäbel irrten selten. Da der Künstler mit seinen Zöglingen mörderlich schimpfte und fluchte, so vermuthete ich, daß er es mit dieser Methode so glücklich weit gebracht hätte, eine Methode, die sich auch zuweilen bei anderen Kreuzköpfen bewähren soll. In Berlin machte vor etwa zehn Jahren ein „auf das Kartenschlagen dressirter Canarienvogel“ Aufsehen und es wurden von seiner Anstelligkeit Wunderdinge erzählt. Er soll leider, als er einmal seinem Käfig entschlüpfte, ein trauriges Ende unter dem Fuße einer vornehmen Dame gefunden haben. Wenn uns der Canarienvogel immer wieder als einer der dressurfähigsten Vögel begegnet, so dürften wir wohl nicht fehl gehen in der Annahme, daß die lange Gefangenschaft und die Fortpflanzung in der Gefangenschaft ihn dem Menschen vertrauter und zugänglicher gemacht hat.

Freilich kann man wiederum nicht dasselbe sagen von den verschiedenen Vögeln, die wir als Hausthiere hegen. Das Huhn erweist sich ganz unzugänglich für alle „Bildung“ und Cultur, ebenso die Ente; die sogenannte „dumme Gans“ dagegen zeigt entschiedene Anlagen. In jedem Dorfe, welches seine Gänseheerde hat, weiß man daß die Gans, wenn sie von der Weide herein kommt, auf dem gehörigen Punkte sich absondert und vor ihre Hausthür hintritt, um mit lautem Geschrei Einlaß zu begehren. In den langgestreckten ungarischen Dörfern geht es allabendlich wie bei einer Procession, wo Stück um Stück, oder auch die Paare, sich absondern, um ihr Heimwesen zu erreichen. In der Frühe erfolgt in derselben Weise die Sammlung und der Abmarsch. Dieselbe „dumme Gans“ hat entschieden Anlage zur militärischen Disciplin. Ueberdies erzählt man noch da und dort ganz interessante Geschichten über die Gelehrigkeit der Gänse, wobei man nicht einmal bis auf das römische Capitol zurückzusteigen braucht, Geschichten, welche die immerhin erfreuliche Andeutung liefern könnten von den tiefinnerlichen Beziehungen zwischen der Menschen- und Gänseseele, doch möchte ich ausdrücklich die schönere Hälfte unseres Geschlechtes, welche mitunter von solchen Anspielungen heimgesucht werden soll, ausgenommen wissen.

Zu den dressurfähigsten unserer Vögel gehört gewiß in erster Linie die Taube. Dabei muß aber wieder so wie bei den Finken nach den Arten unterschieden werden: Die gemeine Feldtaube, die Kropftaube, der Pfauenschwanz werden nicht als besonders gelehrig bezeichnet. Dagegen die Reisetaube und der Tummler, und die Reisetaube um so mehr, je besser und feiner die Race ist. Bekanntlich beruht der vielbewunderte Heimflug der Reisetaube auf Dressur. Die Taube wird in immer weiteren Distancen von ihrem Standorte aufgelassen. Nur ist ganz wunderbar und dem menschlichen Vermögen völlig unfaßbar die Schnelligkeit, mit welcher die Brieftaube sich orientirt und „instinctmäßig“ die Richtung findet. Da redet der Mensch oft von der „einfältigen Taube“ und hat keine Ahnung, wie hundertfach sie ihm überlegen ist an gewisser Sinnesschärfe. Die edlere Brieftaube ist auch dieselbe, welche sich im häuslichen Kreise, im Taubenschlage, am gründlichsten dressiren läßt. Sie lernt und ist gefügig, wo bei anderen Racen Hopfen und Malz verloren ist.

Man weiß, daß ägyptische und indische Taubenzüchter auf offenem Markt ihre Thiere auslassen und ihnen mit einem Stabe die Touren vorzeichnen, welche sie in den Lüften zu machen haben. Dasselbe bringt jeder ordentliche Taubenzüchter in Lüttich oder Brüssel zuwege. Er kann, wenn er die Tauben ausgelassen hat, durch die Bewegungen des Armes ihren Flug dirigiren, oder durch Pfeifen, indem er bald in diese, bald in jene Richtung lockt, je nachdem er den Schwarm haben will. Eine gute Sorte hockt auch niemals stundenlang auf dem Dache. Nach vollendetem Fluge fällt sie auf den bestimmten Dachvorsprung und von dort direct in den Schlag. Nur die geringeren Sorten bummeln auf den Dächern herum.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 875. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_875.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)