Seite:Die Gartenlaube (1877) 002.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)

das Mädchen rasch die Arme unter der vollen Brust hervor und die hohe, geschmeidige Gestalt trat in das Zimmerdunkel zurück. Ein paar Männer aus der Gesellschaft mochten sie doch erblickt haben, denn ein scherzendes „Gute Nacht, schöne Emilie!“ tönte hinauf, und sie stampfte, Worte des Verdrusses flüsternd, leicht mit dem Fuße auf. Die Thür öffnete sich dann noch einige Male, um Gäste herauszulassen; die Lampen drüben verloschen allmählich; das Hôtel schloß seine Augen wie die übrigen Häuser.

Spät noch trat ein Einzelner auf die Straße, warf die Thür heftig hinter sich zu und schritt, mit verhaltener Stimme das Ständchen aus Mozart's Don Juan vor sich hinsingend, über den schmalen Steg, welcher seitwärts von einer Querstraße her den Bach überbrückte.

Als er mitten auf dem schwankenden Brette stand, hielt er einen Moment inne und blickte den Canal hinunter bis dahin, wo die dunklen Brückenbogen die Kaiserstraße mit der Wallstraße verbanden. Das Mondlicht flimmerte auf dem hellen breitkrämpigen Strohhute, der sein bis auf ein Schnurrbärtchen bartloses Gesicht beschattete, und der schlanke, ungewöhnlich große junge Mann hob wie in Ekstase den rechten Arm empor und begann halblaut vor sich hin zu declamiren:

„Freiheit! Du schlachtenfreudiges Weib, das ich anbete, blitzäugige Walküre Du, wir wollen kämpfen. Wappne Dich mit der Wehr aus der Götterschmiede! Wir wollen den Tyrannen die Köpfe zerschlagen. Zweihundert begeisterte handfeste Männer und ein paar anständige Officiere für sie stelle ich Dir zur Verfügung, und wir werden ihrer mehr werden; wir werden wachsen wie das Schneekorn, das über die Winterhänge der Alpen rollt. Und wenn uns die Teufel mit zehn neuen Baststricken binden: wir werden die Kraft von zehnmal zehn Simsons zeigen. Zu Boden mit den Schergen! Zu Boden!“

Seine kräftige Gestalt hob sich höher, und das Brett zitterte unter ihm. War es nur der verhaltene Ausbruch einer heißblütigen Natur, der aus ihm sprüht, oder war es echte Begeisterung? Oder hatte auch der Wein des Wiedenhofes drüben seinen Antheil an der letzteren?

Er nahm den Hut vom Kopfe. „Ich wollte, ich könnte mich hier baden,“ murmelte er; „ich möchte der Nix dieser Pfütze Wassers sein, wenn es nur nicht über allen Kehricht zu laufen hätte. Mir ist heiß, als ob ich ein Glas voll Grog wäre.“

Ueber ihm im Fenster lehnte sich ein Weißes heraus und halblaut und dringend rief es hernieder: „Heinrich!“ Ueberrascht blickte er auf, und seine Haltung ward plötzlich eine ruhigere. Er durchmaß schnell die paar Schritt bis zum Ufer und trat so vorsichtig, wie er vermochte, unter den Erker. „Heinrich,“ flüsterte das junge Mädchen droben, „Du mußt warten; ich will und muß Dich sprechen. Gott verzeih' mir's, aber ich kann nicht anders.“

„Komm!“ sagte er hinauf und nickte, und dann setzte er den Hut wieder auf und bog, als er nach einer Pause das leise Knarren der Hausthür vernahm, in die Seitenstraße, welche auf den Steg mündete. Es war ein schmales Gäßchen, in welchem die silberne Dämmerung der Mondesschatten webte.

Die helle Gestalt des Mädchens schritt rasch auf ihn zu und lag einen Moment leise weinend an seiner Brust. Er schlug die Arme um sie und bog sich nieder, um sie zu küssen. „Heinrich,“ stieß sie angstvoll heraus, „es muß anders werden mit uns; wir müssen die Mutter zu gewinnen trachten und das bald, sonst wäre ich wahrlich nicht herunter gekommen zu Dir bei der Nacht, gegen alle Zucht und gegen eine Stimme in mir, die mich warnte. Du darfst nicht den Stolzen und Trotzigen spielen, und Du darfst die Mutter um ihrer Schwächen willen nicht beleidigen – – aber nein, nein – es ist doch alles vorüber; ich sinne und zersinne mir den Kopf und weiß keine Hülfe zu finden.“

Er preßte sie fest an sich, so fest, daß sie hätte aufschreien mögen, und sagte endlich: „Hast Du Sorge, daß wir uns verlieren? Ich hoffe, daß der Himmel und meine guten Engel, wenn ich deren habe, uns beisammen halten werden. Und nun weine nicht und nimm Deinen lieben Kopf zusammen! Ich kann nicht Weiber weinen sehen und Dich am wenigsten. Sei stark, Milli, und sprich, was Dich ängstigt! Du weißt, daß ich der Letzte bin, welcher verzweifelt.“

Sie machte sich aus seinen Armen los und nahm das Tuch, das sie in der Eile umgeschlagen hatte, fester um die Schultern. „Wir werden doch nicht gesehen werden?“ fragte sie ängstlich. „Bist Du denn nicht im Club gewesen, und wo kommst Du jetzt schon her?“

„Es war zuviel Tabaksrauch oben,“ entgegnete er ein wenig nachlässig; „Du weißt, ich kann ihn nicht vertragen, und die da oben können erst donnern, wenn sie in Wolken sitzen. Sie sind herrlich im Zuge, und Dein Bruder ist ein geborener General. Es ist Volk unter ihnen, daß sich Gott erbarm! Aber wir brauchen sie alle, wenn die Stunde schlagen wird; wir erlösen die Freiheit, mein Engel, und der Freiheit Glockenläuten wird unser Hochzeitsgeläute sein. Mit oder ohne Blut,“ setzte er hinzu, „gleichviel; das Morgenroth ist auch blutig – –"

„Still!“ unterbrach sie ihn und horchte. Ein Wächter schlürfte durch die Canalstraße, und sie standen einen Moment lautlos, bis der Schritt in der Ferne verhallte. „Laß das jetzt, Heinrich! Wir haben Anderes zu reden. Es ist Jemand zurückgekommen aus Amerika: Franz Zehren ist wieder da.“

„Das wäre!“ fuhr der junge Mann auf. „Und er ist wieder Deiner Mutter erklärter Günstling wie vordem? Ein Mensch, der taub ist wie eine Nuß und trocken wie eine Backbirne, ein Mensch, der, glaube ich, kaum soviel Galle besitzt, wie man nöthig hat um einen Tropfen Wassers zu verbittern! Wie bezeichnend, daß er sich nicht wohl fühlt in einem Lande, wo es kein Königthum, keinen Adel und keine Spione giebt! Doch halt – irre ich nicht, so ist er ja der Erbe der Wattenfabrik Zehren und Compagnie. Ich habe auch seinen Onkel mit curiren helfen, nachdem ihn die Wassersucht schon beim Kragen hatte. Ist es nicht so, Emilie? – Nimm meinen Arm, Schatz, und laß uns einen Augenblick auf und nieder gehen! Das sieht unschuldiger aus, als wenn wir hier wie angewurzelt einander gegenüberstehen.“

Sie legte ihren Arm in den seinen, und dann schritten Beide langsam die kurze Gasse hinunter und wieder zurück. „Es ist wahr,“ sagte das schöne Mädchen, „er ist zurückgekehrt und reich geworden, reicher als man geglaubt hat. Acht lange Tage habe ich Dich nicht gesehen, und an jedem dieser acht Tage hat er ein paar Stunden bei uns zugebracht. Wie es die Mutter anfängt, sich mit ihm zu unterhalten, ohne die Geduld zu verlieren, verstehe ich nicht. Sie verständigen sich leider noch immer wenigstens so gut wie früher. Aber das ist alles Nebensache, Heinrich; er hat heute zur Mutter gesagt, daß er mich zur Frau wünsche, daß er mich leidenschaftlich liebe, wie vor Jahren –“

„Und,“ fügte der junge Mann hinzu, als sie wie vor innerem Widerwillen inne hielt, „die kluge Mutter hat eingesehen wie alle anderen klugen Mütter, daß es nichts Erwünschteres für ihre Tochter giebt als eine gute Versorgung und eine Hand, welche sie gegen sich selbst und gefährliche Männer schützt, welche keine 'guten Partien' sind.“

„Ich hasse ihn,“ fuhr sie leidenschaftlich auf, dann aber dämpfte sie die Stimme wieder und sprach weiter: „Zehren ist gewiß nicht dumm; er hat ein edles Gesicht. Aber er hat dabei etwas so Fertiges, so Unfehlbares, so Gleichmäßiges, daß ich ihm jede Beleidigung anthun könnte, nur um ihn aus dem Gleichgewichte zu bringen. Er steht da wie ein Heiliger, der zum Anbeten fertig geworden ist. Rette mich vor dem Menschen, Heinrich, oder ich werde unglücklich! Entführe mich, wenn es nicht anders geht! Du hast Freunde allenthalben, und es wird ja wohl irgend ein mitleidiger Pfarrer darunter sein, der uns zusammenspricht ohne ein anderes Ja und Amen als unser eigenes. Ich denke, daß ich meinen Bruder bewege uns behülflich zu sein; Du weißt, wie schwärmerisch er mich liebt, und ich habe Dir schon gesagt, daß er große Stücke auf Dich hält. Du bist Arzt und ungebunden; Du kannst Dich niederlassen, wo Du willst.“

Ihr Begleiter lachte kurz auf. „Du bist eine Himmelstürmerin,“ sagte er, „aber Du hast Muth. Ich denke, ich rede erst mit Deiner Mutter.“

„Nein, nein – sie hat ihm schon das Versprechen gegeben, daß ich die Seine werde; kein Mensch weiß sich zu erinnern, daß sie ein verpfändetes Wort zurückgenommen hat. Sie ist von Stahl und Eisen.“

„Gleichviel! Ich bin zu Allem fähig, aber ich greife nicht zum Aeußersten ohne Noth. Ich bin hier schwer entbehrlich, liebes Herz; ich muß helfen ein Werk thun, das ohne meine Mitwirkung leicht zusammenfällt, ein Werk für die Menschheit, Milli. Ich werde ein Stück Heiland sein, wenn es gelingt, und es ist süß, ein lebendiges Denkmal zu sein, dessen Piedestal tausende

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 2. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_002.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)