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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)

Gambetta sieht, dank seiner Wohlbeleibtheit, weit älter aus als er ist, denn 1838 geboren, hat er das vierzigste Jahr noch nicht erreicht, aber er ist trotzdem ein alter politischer Kämpe, und kaum den Jünglingsjahren entwachsen, klopft er schon ganz gewaltig, als junger Advocat, dem Kaiserreiche auf die unsauberen Finger, führt in den Wählerversammlungen das große Wort, und als der Minister Pinard die Journale verfolgt, welche mit dem Klingbeutel zur Errichtung eines Monumentes für Baudin herumgehen, öffnet sich dem Vertheidiger in der Affaire Baudin sofort die große Pforte zur politischen Arena.

1869 candidirt er für die Kammer zugleich in Paris und in Marseille; hier gegen Thiers und Lesseps, dort gegen Carnot. „Ich nehme nur ein Mandat an,“ ruft er seinen Wählern zu, „das der unversöhnlichen Opposition,“ und ihm antwortet ein lautes freudiges Echo; in beiden Städten gewählt, nimmt er das Mandat von Marseille an, und Rochefort tritt in Paris an seine Stelle. Seine Wahl hält ganz Frankreich in Athem. Mit freudiger Erwartung sieht das Land auf den Neuerwählten; bange Ahnung beschleicht die Kaiserlichen. Da hält ihn ein Kehlkopfleiden von der Tribüne fern. Aber hergestellt, steht er bald an der Spitze der Unversöhnlichen – der Unversöhnlichste.

Keiner hat dem Kaiserreiche so wehe gethan wie er. Keiner hat es so energisch, mit solch meisterhafter Strategie und raffinirter Taktik bekämpft. Thiers kämpfte gegen Napoleon, wie er einst gegen Guizot kämpfte, Jules Favre wie ein findiger Advocat, der nebenbei sentimental ist, Rochefort wie ein Gassenjunge, aber Gambetta riß dem Kaiserreiche mit einem Griffe die falschen Feigenblätter des Liberalismus herab. Während noch ganz Europa den geheimnißvollen Mechanismus desselben anstaunte, nahm er eine Feder um die andere aus demselben heraus, und während noch die Welt vor dem schweigsamen Wundermanne zitterte, entlarvte er ihn als einen ganz gewöhnlichen Taschenspieler. Niemand begrüßt die „Krönung des Gebäudes“, Niemand die „liberale Aera“ mit solch grellauflachendem Hohne wie Gambetta. Mit zwingendster Ueberzeugung zeigt er die liberal geschminkte Lüge, die Unverträglichkeit des Kaiserreichs und der Freiheit. „Allgemeines Stimmrecht und Monarchie sind unverträglich; das Kaiserreich und die Freiheit schließen sich aus; sie bekämpfen sich auf Leben und Tod; sie harren nur ihrer Erbschaft; man kann nicht zwei so divergirende Meinungen an den Staatswagen spannen, ohne daß sie ihn zertrümmern und in den Abgrund stürzen“ – tönt es als ewige Melodie aus allen seinen Reden und aus dem Glaubensbekenntnisse vor seinen Wählern. „Der größte Fehler im staatlichen wie im sittlichen Leben ist die Lüge. Die Institutionen eines Staates müssen seinen Principien entsprechen; man kann nicht die Monarchie mit republikanischen, die Republik mit monarchischen Formen stützen“, ruft er warnend aus.

Als Ollivier in der denkwürdigen Sitzung vom 15. Juli 1870 mit „leichtem Herzen“ die Kriegserklärung an Preußen der freudig aufheulenden Kammer anzeigte, da bekämpfte ihn auch Gambetta mit wuchtiger Rede und verweigerte mit Thiers die Bewilligung der Kriegsmittel. Aber die enthusiastischen Verehrer und dithyrambischen Lobredner des Exdictators betrügen sich selbst, wenn sie ihn darob mit der Glorie eines Sehers umgeben. Damals gab es in der Kammer nur einen Mann, der die Kriegserklärung bekämpfte und verdammte in Kenntniß der unzulänglichen Mittel und der schwachen Kriegstüchtigkeit Frankreichs, nur Einen, der Frankreichs Niederlage ahnte – das war der kleine, fahle Mann im hohen bis zum spitzen Kinn zugeknöpften schwarzen Rock, mit der großen Hornbrille auf der Nase: Thiers, der vom Krankenbette herbei eilt und mit bebender Stimme die Versammlung beschwört, gegen den Krieg zu votiren, der, vom Geheule der Deputirten, bei welchem die Galerien mit brüllen, fortwährend unterbrochen, mit Schimpfworten und Drohungen überhäuft – man pfiff, polterte, erhob drohend die Fäuste – ruhig und muthig dastand und für Frankreich bat – ein dreiundsiebenzigjähriger Greis!

Wenn aber Gambetta mit seinen Genossen gegen den Krieg stimmte, so war es wahrlich nicht sein friedlicher Sinn und nicht seine Furcht vor Niederlagen, die ihn dazu drängten; Gambetta dachte nicht geringer von der französischen Armee und hielt sie für ebenso unbesiegbar, wie dies die Schreier auf den Boulevards thaten, die ihr „Auf nach Berlin!“ anstimmten und heulend vor den Fenstern Thiers' vorüberzogen. Auch Gambetta war eine Schlacht gleichbedeutend mit einem Siege, und ein französischer Krieg galt ihm gleich einer Eroberung; deshalb eben stimmte er mit den Seinen gegen den Krieg. Er fürchtete, daß, wenn das Blut vertrocknet, der Pulverdampf verraucht und das Todesröcheln der Gefallenen verstummt sein werden, das Kaiserreich, gestärkt und gefestigt mit der ganzen nationalen Glorie aus dem Kriege hervorgehen werde. Nicht die Furcht vor den Niederlagen der Armee, sondern vor ihren Siegen, nicht die Furcht vor Verlusten, sondern die Furcht vor Eroberungen, die Furcht vor den siegreich heimkehrenden kaiserlichen Adlern stimmte Gambetta gegen den Krieg. Nicht der Franzose, sondern der Parteimann Gambetta stimmte am 15. Juli 1870 gegen den Krieg mit Deutschland.

In die Regierung vom 4. September trat er als Minister des Innern neben Trochu als Kriegsminister und Ministerpräsident und Jules Favre als Vicepräsident und Minister des Aeußern. Seine Luftfahrt von dem rings eingeschlossenen Paris nach Tours und seine Wirksamkeit als Organisator des Widerstandes gegen die deutschen Truppen sind bereits zur Legende geworden. Seine Thätigkeit, seine Energie, sein Genie als Organisator des bewaffneten Widerstandes sind auch in der That bewundernswerth; staunenswerth ist es, mit welcher Leichtigkeit und Gründlichkeit er sich in Dinge findet und hineinarbeitet, die ihm noch kürzlich ganz fremd sind, von welch hohem Standpunkte er sie sofort überschaut und den Fachmännern dadurch Achtung und Vertrauen abringt; er stampft Armeen aus dem Boden – die Loirearmee, die Westarmee und die des Centrums – er bekleidet, bewaffnet, drillt und verproviantirt sie; er prüft die Bewaffnung, leitet Schießproben mit den neuen Gewehren, sitzt im Kriegsrath, correspondirt mit Jedem und Allen, wirkt überall anregend, aufmunternd und anspannend, und Alle fühlen die Uebermacht seines Genies, dem sich auch die alten Generale und die zur Vertheidigung des Vaterlandes herbeigeeilten Prinzen von Orleans beugen; er weiß die Departements mit der Hauptstadt zu versöhnen, das sinkende Vertrauen neu zu beleben und mit den heißen Flammen seiner Begeisterung die oft erlöschenden Gluthen des nationalen Patriotismus und Fanatismus zu neuem Brande zu entflammen.

Was ein ganzer Mann in den Tagen des Unglückes vermag, was er seinem Vaterlande werth ist – Gambetta hat es bewiesen; Frankreich hat es anerkannt, indem es ihm eine Viertelmillion seiner Söhne gab, um den Krieg bis auf's Aeußerste zu führen, den er auch noch forderte, als das Friedensparlament nach Bordeaux berufen wurde, welches er mit Protest gegen den Friedensschluß und gegen die Abtretung von Elsaß-Lothringen verließ.

Die wenigen Jahre seit dem Friedensschlusse haben Gambetta sehr verändert. Der einst schlanke, nervöse, rasch in heller Flamme auflodernde und wild dahinstürmende Jüngling ist heute ein wohlbeleibter, angenehm temperirter, maßvoll ausschreitender Mann. Die harte Schule des Septennats hat ihn gereift; sie gab ihm Zeit, Ein- und Umschau zu halten. Aus dem Agitator ist ein Organisator geworden, aus dem Parteimanne ein Staatsmann. Nicht Umstürzen, Aufbauen ist heute seine Parole. Und er weiß, daß über Nacht nur Luftschlösser gebaut werden, um beim ersten Morgengrauen wieder einzustürzen. Er weiß auch, daß das Wort wenig ist, der Name nichts zur Sache thut und die großen Phrasen seinem Vaterlande stets das größte Unheil brachten. Thiers, der ihn noch vor wenigen Jahren als „einen wüthenden Narren“ von der Tribüne herab stigmatisirte, sucht heute in ihm den Mann der Zukunft. Die Bourgeoisie, die Welt des Geldes und die Industrie, Handel und Börse, von der er sich kürzlich noch berühmen konnte, daß er, wie der Räuber Jaromir, „in ihrem Nachtgebet hart neben dem Teufel steht“, erkennt in ihm den wahren Bändiger der Revolution und den Bürgen des socialen Friedens. Baron Rothschild liest zwei Mal die „République française“, bevor er an die Börse geht. Wenn Gambetta spricht, ist die Diplomatenloge stets gefüllt; seine Reden werden nach dem stenographischen Protokoll im „Reichsanzeiger“ reproducirt, und der zwei Mal geschlagene Exrepublikaner Flognet nennt ihn bereits einen Abtrünnigen.

Gambetta ist heute vielleicht der friedliebendste Mann in Frankreich und derjenige, dessen Nachtruhe am wenigsten durch Revancheträumereien gestört wird. Seine Friedensstimmung ist echtfarbig. Er hat die Franzosen bei der Kriegsarbeit gesehen, wie Wenige; er weiß jetzt, daß die Franzosen nur im phantastischen Haupte Victor Hugo’s an der Spitze der Civilisation marschiren,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 16. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_016.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)