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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)

Engel' hinausgefahren; er wird wohl eben den Engelwirth aus den Federn geholt haben.“

„Sechs Mann hinunter!“ rief Karl Hornemann, und wieder verschwanden die Leute im Dunkel des Stollens, und bald darauf abermals sechs, und so ging es, bis die Schritte der letzten unten im Hofe zu hören waren. Es war eine eigenthümliche Scene, diese Männer in den verschiedensten Anzügen, Graubärte mit verwitterten Gesichtern und junge Bursche, welche eben der Militärzucht entwachsen sein mochten, verwegene Gesichter darunter, aber doch ohne den Ausdruck von Rohheit, welcher die Arbeiterclasse jener Gegend sonst kennzeichnet – all Diese kauernd oder stehend und truppweis in der gähnenden Oeffnung verschwindend und das Ganze beleuchtet von dem schwachen flimmernden Lichte der Kerze.

Der Doctor und Karl Hornemann folgten den Uebrigen. Letzterer schloß sorgfältig die Diele über sich und schob unter ihr einen Riegel ein; mit gleicher Vorsicht behandelten Beide den Bretterverschlag im Hofe. –

„Pascha,“ sagte der Doctor draußen auf der Straße, als der alte Rottmann hinter ihnen zugeschlossen hatte, „weißt Du, wer uns im Grunde gerettet hat?“

„So weit reicht mein Ahnungsvermögen nicht,“ war die lakonische Antwort.

„Deine Schwester.“

„Emilie? Bist Du denn mit ihr zusammengetroffen?“

„Ich habe sie flüchtig gesehen,“ meinte leicht der Arzt, „soviel man im Mondscheine von ihr sehen kann. Ich habe sogar mit ihr gesprochen; wenn ich es nicht gethan haben würde, so läge ich ruhig im Bette und hätte den Spitzbuben Donner weder beim Spioniren erwischen, noch ihn aushorchen und auf eine falsche Fährte locken können. Sie wissen Alles, sogar die Zeit, wann wir die Versammlung begonnen haben. Ich habe die moralische Ueberzeugung, daß Ihr ohne meinen Einfall, Dich noch einmal aufzusuchen, noch diese Nacht in einigen Proben das Gefängniß geziert hättet, morgen früh vielleicht wir Alle, denn daß die Burschen, wenn man sie auf der Polizei gehörig bearbeitet, reinen Mund halten werden, dafür garantire ich nicht. Uebrigens muß Donner die Sache auf eigene Faust betreiben, sonst hätte ich vom Oberbürgermeister längst einen Wink bekommen. Der Junge hatte wirklich Recht: wenn es nur irgendwo brennen wollte! In Paris noch nichts, in Baden wieder Abwiegelung, die Polen wieder ruhig wie der Kirchhof! – Kommst Du mit mir schlafen, Karl?“

„Wenn Du mir wieder Herberge geben willst, ja. Ich störe die Frauen des Nachts nur ungern. Unterwegs könntest Du mir gut erzählen, wie meine Schwester in die Abenteuer dieser Nacht verwickelt wurde.“

Der Doctor schwieg eine Weile. Endlich sagte er: „Karl, willst Du mir helfen zu einer Heirath mit Deiner Schwester?“

Karl Hornemann schien über diese Eröffnung wenig erstaunt zu sein. In ruhigem Tone erwiderte er: „Ehrlich gestanden nein! Ich weiß ja, daß mit Euch Beiden etwas im Werke ist und daß es zu einer Entscheidung kommen muß. Ich weiß, was Du werth bist, und ich liebe Milli über Alles, aber ebenso sicher ist mir, daß Ihr Zwei miteinander die unglücklichsten Menschen von der Welt werden würdet.“

„Du bist von bewundernswürdiger Offenheit,“ bemerkte der Andere bitter. „Und von wannen kommt Dir dieses Wissen?“

„Es gehört nicht viel dazu, um zu begreifen, daß Ihr Beide ziemlich harte Steine seid, daß Du eine rücksichtslose, herausfordernde Natur bist, wie Emilie leidenschaftlich auf der einen und sentimental auf der andern Seite. Darin liegen alle Bedingungen, welche zur Erzeugung eines ewigen Krieges erforderlich sind. Und ich habe noch einen triftigeren Grund für mein 'Nein': die Abneigung meiner Mutter gegen Eure Heirath.“

Der Doctor lachte etwas wegwerfend. „Und das also würde bei Dir, bei dem Manne, der seiner besseren Einsicht gegenüber sich keinen Moment scheut, die höchste staatliche Autorität zu erschüttern, in die Wagschale fallen?“

„Das mag Dir inkonsequent erscheinen, mir nicht. Die Pietät der Familie hat ganz andere Wurzeln, als die gegen eine staatliche Autorität. Dort wirkt der elementare Zusammenhang von Blut und Leben. Was ist das Staatswesen? Eine Einrichtung, welche auf einem Vertrage zwischen Gleichberechtigten beruht. Was ist ein König? – Ein Symbol, der Repräsentant der Gesammtheit, an dessen Schmuck eine Nation so viel wenden soll, wie im Verhältnisse zu ihrer Macht und ihren Hülfsquellen steht. Ich gehorche hier, weil und soweit ich es für richtig halte, und es ist Verstandessache, die Grenze zu bestimmen. Mein Verhältniß zu meiner Mutter ist Gemüthssache.“

„Aber was um des Himmelswillen hat Deine Mutter gegen mich einzuwenden? Daß ich eine ungezogene Behandlung meiner Person – verzeihe mir den Ausdruck! – mit ein paar nicht minder ungezogenen Versen auf sie vergolten habe, kann doch eine so wichtige Frage nicht entscheiden!“

Karl Hornemann zuckte die Achseln. „Frauen sind darin eigenthümlich,“ sagte er. „Die Hauptsache aber ist ja, daß sie es im Familieninteresse für geboten hält, ihre Zustimmung zur Heirath mit Emilie Jedem – ausgenommen einen reichen Bewerber – zu verweigern. Du kennst ja wohl die Familientradition, auf der diese fixe Idee erwachsen ist?“

„Nur aus Andeutungen.“

„Die Geschichte klingt etwas romantisch. Es heißt, daß bei der Belagerung Wiens durch die Türken ein osmanischer Prinz, Ali, gefangen und später in den Norden des Reiches geschafft worden wäre, wo es ihm gefiel und wo er freiwillig verblieb. Er wurde Christ und vermählte sich, und meine Familie mütterlicherseits stammt, wie es heißt und wie irgendwo lagernde Papiere beweisen sollen, von ihm ab. Meine Mutter schwärmt im Hinblick darauf für eine angemessene Restauration unsrer äußeren Verhältnisse. Kannst Du ihr diese Idee ausreden und ihren Groll gegen Dich besänftigen – gut, so heirathet Euch, wenn Ihr durchaus wollt! Es ist menschliche Bestimmung, immer erst durch Schaden klug zu werden.“

„Du hast eine verzweifelt verständige Art zu raisonniren,“ meinte der Doctor verdrießlich. „Also auf Hülfe gegen Deine Mutter habe ich von Deiner Seite her nicht zu rechnen?“

„Gegen sie – nein!“ war die kühle Antwort.

„So will ich wenigstens versuchen, sie zu gewinnen.“

„Probire Dein Heil! Ich hoffe wenig davon.“

Eine Gestalt kam ihnen die Straße herauf entgegen, und als sie sich ihnen näherte, erkannten sie den Polizeicommissar. Der Doctor schritt auf ihn zu.

„Haben Sie die Vögel im Nest erwischt?“ fragte er mit affectirter Neugier.

„Das Nest war leer,“ antwortete ärgerlich lachend der Beamte, indem er vorübereilte. „Ich will nicht hoffen, daß die Vögel blos in Ihrem Kopfe genistet haben, Doctor.“




3.

Es war eine schwüle Zeit damals, besonders in den Rheinlanden – das weiß jeder, der sie mit vollem Bewußtsein erlebt hat, und auch mancher, der nur von ihr gelesen hat. Es gährte und brodelte im Verborgenen. Der Zorn einer Nation war im Aufschwellen begriffen und Diejenigen, welchen er galt, verstanden die Zeichen der Zeit nicht. Die Idee der Nation als eines in sich abgeschlossenen, bewußten Riesenkörpers, welcher mit empfindlichen Nerven bis in die letzten Glieder durchzogen ist, war etwas noch zu Neues. Erst die französische Eroberungszeit hatte die Idee lebendig gemacht, wie sie selbst aus derselben geboren war; diese Zeit erst, welche die Völker durcheinander warf, zerriß und wieder zusammensetzte, bis sie am Ende durchknetet und aufgereizt waren bis zum Kinde hinunter und aufstanden ein jegliches wie ein Mann, – sie hatte Volksbewußtsein, Volkswillen, das Vollgefühl einer Vollkraft erzeugt. Und gerade als es soweit war, da ging jene Giftsaat Roms auf, die Lehre von Thron und Altar, welche einander wider jede Gefahr zu schirmen vermöchten, und die Fürsten meinten, nachdem das Bündniß zwischen beiden geschlossen worden, nun könne der Absolutismus der Josephinischen Zeit von Gottes Gnaden die Völker weiter regieren. Aber die Giftsaat zeitigte Giftfrüchte. Was in Frankreich der Geist von 1793 zu wirken im Begriff war, der lebenskräftig wieder durch die Adern der Nation sprühte, das hatte in Deutschland die Eifersucht, die Furcht, der Hochmuth des Absolutismus heraufbeschworen mit seinen Verbannungen und Einkerkerungen, mit seiner Censur und Polizei. Noch ging es wie leichte Windwirbel erst durch das Land, Staub aufjagend und plötzlich verstummend, bald hier und bald da.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 23. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_023.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)