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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)

entgeht, und wehe den unseligen, unbußfertigen, verstockten, in eitler Weltlust schwelgenden, den heillosen Spöttern und Glaubensverächtern im hochnothpeinlichen Halsgericht dieser gottselig „erheiternden Gespräche“! Ueber ein Kleines wird den vervehmten Schächer die Zuchtruthe des Herrn ereilen, unfehlbar und sicher im Pfuhl seiner Sünden, dann muß offenbar werden, ob noch ein gutes Haar an ihm ist, ob er ein Sohn Belial's oder einer von Jenen, über den mehr Freude und Wohlgefallen entsteht, denn über tausend Gerechte.

Eine scharf ausgeprägte patriarchalische Eigenthümlichkeit der allerfrömmsten „Gemeinschaft im Herrn“ ist jedenfalls ihr fein organisirter Erwerbssinn; sie sammeln und heimsen mit bienenemsiger Freudigkeit und solch erschöpfendem Nachdrucke, daß, wo sie einmal geerntet haben, auch in der Regel kein Gras mehr wächst. In der sophistischen Auslegung des bürgerlichen Rechts nicht minder bewandert als im Labyrinth der Offenbarung Johannis, werden sie nur höchst selten einen Proceß verlieren, niemals einen geschäftlichen Fehlgriff thun, und der unter ihnen so beliebte tröstliche Zuspruch „der Herr giebt’s den Seinen im Schlafe“ zeigt uns die patriarchalische Segensfülle jener „Auserwählten“ recht eigentlich in ihrer überschwenglichsten Macht. Man beobachte nur, mit[WS 1] welch praktischem Scharfblicke sich der „christliche Jüngling“ unter den Töchtern seiner Sippe umthut, wie rasch und sicher er dem Hafen der Ehe und einer behäbigen Existenz zusteuert! Wie die angesäuerte „Schwester im Herrn“ mit ihren lieben Sparcassenbüchlein und Kuxen einen melancholisch-erleuchteten Hagestolz beglückt! Ja, es geht nichts über die Kaffee-Visiten eines frommen Vereinshauses mit ihren erbaulich forschenden und erheiternden Gesprächen in der Wupperthaler Festwoche. Die süße Herzlichkeit der „Begrüßung im Herrn“ räumt schon alle conventionellen Schranken hinweg; der christlich warme Händedruck, sowie der liebliche Bruder- und Schwesterkuß schmilzt die Seelen zu ahnungsfreudigem Verständnisse.

Doch geben wir Etliches aus jenen Kanzelvorträgen zum Besten, die mit geringen Abweichungen stets in derselben Tonart an das gottselige Gemüth der Versammlung appelliren! Die frommen Herrschaften werden mir’s Dank wissen, daß ich die Gedankenfruchtbarkeit ihres „himmlischen Mannas“ an dieser Stelle auch auf einem „dürren und steinigten Arbeitsfelde“ wirken lasse. Ich folge dabei wörtlich ihrem christlichen Organe, genannt „Mittheilungen der evangelischen Gesellschaft für Deutschland“ (sechsundzwanzigster Jahrgang). Es sind da nämlich im fünften Hefte (1876) folgende Auferstehungsgedanken verzeichnet:

„Die Auferstehung Jesu, in der sein irdischer Schwachheitsleib in die Unverweslichkeit und Herrlichkeit Gottes verklärt worden ist, bürgt uns dafür, daß er auch den Leib seiner Gläubigen, die er seine Brüder und Schwestern nennt, erneuern und seinem Leibe ähnlich machen wird. … Seht, der Gläubige bekommt aus dem verklärten Leibe Jesu durch das Essen seines Fleisches und das Trinken seines Blutes im Worte und Abendmahle, durch das Anziehen seiner göttlichen Natur im heiligen Geiste einen inwendigen Geistleib um seine Seele, einen göttlichen Bau, der ihn im Tode nicht verläßt, der seine Behausung ist: sowie die Erdenhülle im Sterben von ihm abfällt, so umgiebt ihn diese Behausung, diese Himmelshülle, die nun offenbar wird und an's Licht tritt. Der äußere Leib ist aber ein wesentlicher Bestandteil des Menschen: der Mensch besteht aus Geist, Seele und Leib; wir sind nach Geist, Seele und Leib im Bilde Gottes erschaffen; das ist nun der Triumph des Erlösungswerkes Christi, daß er auch unser verderbtes Hüttenhaus, unseren nichtigen verweslichen Demüthigungsleib erneuert und in die Herrlichkeit nachholt. Bis dahin ist die Seele auch im Paradiese noch in einem Wartezustande. Die Seele verlangt nach ihrem Leibe, nach Auferweckung und Erneuerung ihres Leibes.“[1]

Dieselbe Nummer der von Herrn Rinck, Pastor der ersten lutherischen Kirche Elberfelds, redigirten „Mittheilungen“ tischt dann noch Folgendes „Ueber die jetzige Lage in Deutschland“ auf: „Zu keiner Zeit hat die amtliche Schönfärberei in einem grelleren Gegensatze zu der wirklichen Lage der Dinge gestanden als heute. Der Liberalismus rühmt sich, der Träger von Licht, Recht, Freiheit und Sittlichkeit zu sein, und überall brechen unter seinem Regimente die scheußlichsten Krebsgeschwüre auf, die in einen bodenlosen Abgrund von Halbbildungs-Verdummung, Rechtsverachtung, Rohheit, Gottlosigkeit und Mangel an dem gewöhnlichsten Ehrgefühle blicken lassen. Wohin wir uns wenden, überall derselbe trostlose Eindruck von Verfall, Rückgang, Auflösung. Nie hat die Gesetzesfabrikation so riesige Actenstöße aufgehäuft, allein Alles ist unfruchtbar, das Facit immer ein Minus; für die geistige und sittliche Erhebung des Volkes kommt nichts heraus. Unser nationales Leben wird immer mehr zur wüsten Einöde etc. .“

Die Sammlungen für die Mission, gegen welche der Peterspfennigbettel reines Kinderspiel, sind in der drückenden Zeit etwas mager ausgefallen; da wird denn in den „Mittheilungen“ über die Gebetsversammlungen Londoner Banquiers folgender Wink mit dem Zaunpfahle gegeben: „Haben sie hier himmlische Gaben empfangen, so lernen sie den Geiz überwinden und dem Herrn mit ihrem irdischen Besitze dienen. – Als wesentlichstes Mittel beim Seelenfange dient die Colportage und Weihnachtsbescheerung in den Sonntagsschulen, weil sie den Brüdern Eingang in die Familien verschafft; so sind Tausende von Tractaten u. A. auch an Katholiken vertheilt worden. Einer der Brüder hat die Casernen durchcolportirt; ein anderer stand mit seinen Schriften auf dem Markte aus. Viel Gewicht wird auf die Hausbesuche gelegt, da sich die meisten der verlorenen Seelen nicht immer suchen und retten lassen wollen. Resumé: 300 Bibel- und Besprechstunden, „vielfach reichgesegnete Quartalfeste“, dito Gebetsstunden, „oft so erquickliche Gebetsvereinigungen, von denen gewiß mancher Segen in den betreffenden Gegenden herrührt“, reiche Erträge der Frauen- und Jungfrauenvereine, welch letztere fast ausschließlich für die Heidenmission arbeiten. Die Cassenverhältnisse liegen augenblicklich „nicht ganz günstig“, aber es wird betont, „daß trotz der ungünstigen Zeitverhältnisse, des Nichtvorhandenseins eines Budgets und größerer fester Einnahmen 29,000 Mark zusammengekommen sind“.

Es läßt sich denken, daß eine Gesellschaft solch exemplarischer Heiliger die Augen stammverwandter Verbindungen in der Ferne auf sich zieht. So soll die „evangelische Allianz“, welche zuletzt in New-York zusammentrat, dann in Jerusalem oder Rom, Edinburgh, Berlin oder Paris tagen wollte, im Wupperthale abgehalten werden, obschon sich die Pariser Freunde schon darauf gefreut hatten, bei dieser mit der Weltausstellung zusammengetroffenen Gelegenheit „sowohl Christen als auch andere Menschen“ in ihren Mauern zu sehen. – Nicht weniger kann es uns wundern, wenn unsere Frommen auf eine möglichst strenge Handhabung der sogenannten „Sonntagsheiligung“ bedacht sind. Als die „rheinisch-westfälische Gefängnißgesellschaft“ am 21. und 22. Juni dieses Jahres in Düsseldorf ihr fünfzigjähriges Bestehen feierte, sagte Herr Pastor Schröter vom Berliner Zellengefängniß nach einem Berichte der „N. ev. Kztg.“: „Wo die Sonntagsheiligung entschwunden, da hofft man vergeblich auf Achtung vor Gesetz und Obrigkeit. Mit dem sittlichen Ruin geht der physische wie materielle Hand in Hand – und der Verbrecher ist fertig. Der indirecte Zusammenhang zwischen Sonntagsentheiligung und Selbstmord liegt klar vor Augen. Namentlich Körperverletzung, Todtschlag. Unzucht und Notzucht sind häufige Sonntagsverbrechen. Mit der fortschreitenden Bildung nimmt die Zahl der Verbrechen zu, sowie es eine traurige Erfahrung ist, daß die literarisch Gebildeten verhältnißmäßig sehr stark bei den Verbrechen betheiligt sind.“

Obwohl vielleicht selten so große Worte gelassener und zugleich beweisloser ausgesprochen sein mögen, beauftragte die Versammlung dennoch ihren Ausschuß, die königliche Staatsregierung auf den Zusammenhang zwischen Sonntagsentheiligung und Verbrechen hinzuweisen und um strengere Wahrung der Sonntagsgesetze zu bitten. –

In solch trüben Tagen thut's den bekümmerten Herzen der „Stillen im Herrn“ gar wohl, wenn ein „vielgeprüfter und bewährter Bruder“ unter sie tritt und mit Worten lieblicher Tröstung ihre im Kampfe ermattenden Seelen erquickt. Ein solch „auserwählter Mann Gottes“, ein „Reiseprediger“ nach dem Herzen der orthodoxen Bibelhelden, ist nämlich ein gewisser Herr Georg Müller, dessen Erscheinen uns Pastor Rinck in seinen „Mittheilungen in einem frohlockenden „Georg Müller in Bristol und seine Werke“ überschriebenen Artikel ankündigt. „Da Georg Müller bald unser Wupperthal zu besuchen gedenkt,“

  1. Daher die Leichenverbrennung auch als ein „Werk des Teufels“ zu verdammen ist.
    Der Verfasser.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: mir
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 47. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_047.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)