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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)

in besten Zeiten so viel Geld zu finden, wie Sie fordern, jetzt aber ist es ganz unmöglich, auch nur den zehnten Theil der Contribution aufzubringen, und Alles, was das Dorf erschwingen kann, sind fünfhundert Franken.“

„Ah!“ sagte Wendt entrüstet, „das ist stark. Ich fordere neuntausend Franken, und Sie bieten mir fünfhundert? Was unterstehen Sie sich, Herr?“ und das Blut schoß ihm in die Stirn.

„Sergeant Bernhard,“ wandte er sich zu dem neben ihm stehenden Unterofficier, „nehmen Sie die Section vom linken Flügel und lassen Sie das gesammte Vieh aus dem Dorfe hierher zusammentreiben!“

Der Sergeant marschirte ab, und die Früchte seiner Thätigkeit begannen sich bald zu zeigen. Stattliche Stiere, Kühe und Kälber wurden in der Dorfstraße sichtbar. Der Curé hatte sich achselzuckend an den Maire gewendet; die Dorfältesten sprachen mit leiser Stimme, aber heftig gesticulirend untereinander. Die abmarschirende Section erregte offenbar ihre Spannung auf das Höchste. Als sie den Zweck derselben in dem Heraustreiben des Viehes erkannten, erreichte ihre Leidenschaft den höchsten Grad und der Maire wandte sich mit heftiger Geberde gegen den Officier.

„Sie wollen uns unser Vieh nehmen, Monsieur?“

Die Angst und der Zorn der Bauern berührte den Landwirth in der Uniform sympathisch, doch es handelte sich hier darum, dem Meuchelmorde und dem Banditenwesen zu steuern, und Wendt runzelte finster die Stirn.

„Gewiß, Monsieur,“ erwiderte er kurz.

„So theilen Sie mir mit,“ sagte der Maire, entschlossen vortretend, „welches die äußerste Summe ist, mit welcher wir uns loskaufen können!“

„Monsieur,“ erwiderte der Lieutenant, ruhig und langsam jedes Wort[WS 1] betonend, „es wird dieses jetzt das letzte Wort sein, welches Sie von mir hören werden: Berathen Sie die Sache noch einmal mit den Dorfältesten, und dann sagen Sie mir, welches die äußerste Summe ist, welche dieses stattliche Dorf zu erlegen im Stande ist! Genügt mir dieselbe, so werde ich sie acceptiren, genügt sie mir nicht, so werde ich nachträglich auch nicht mehr die volle Summe annehmen und unnachsichtlich sämmtliches Vieh des Dorfes forttreiben lassen. Nun überlegen Sie Alles genau, ehe Sie sprechen, mit dem Curé aber verschonen Sie mich! Mit dem will ich nichts zu thun haben,“ und er schnippte geringschätzig die Asche von seiner Cigarre.

In diesem Augenblicke fuhr Wendt erschreckt auf, denn an sein Ohr war der Angstschrei einer weiblichen Stimme gedrungen. Er richtete seinen Blick die Dorfstraße hinab und sah ein junges Mädchen von auffallender Schönheit aus einem der nächsten Häuser treten, aus welchem soeben ein Soldat eine Kuh hinausgetrieben hatte. Weinend wandte sich das Mädchen an den Sergeanten und kam, als dieser achselzuckend sein „Nix comprends – verstehe nichts“ erwiderte, direct auf den Lieutenant zu.

„Na, nun geht’s los,“ dachte Wendt angsterfüllt, und war nicht wenig erfreut, als er sah, daß der Maire in diesem Augenblicke auf ihn zutrat.

„Monsieur,“ sagte der Maire, „wir werden versuchen, zweitausend Franken aufzubringen.“

„Meinetwegen,“ erwiderte Wendt, froh, einen so guten Handel gemacht zu haben, „aber beeilen Sie sich etwas, wenn ich bitten darf!“ und er wandte sich, nun sehr erleichtert, dem jungen Mädchen zu, welches ihre von Thränen erfüllten Augen angstvoll auf ihn gerichtet hatte. „Womit kann ich Ihnen dienen, mein Fräulein?“ sagte er, von dem Schmerze und der Schönheit der jungen Französin bewegt, mit freundlicher weicher Stimme.

„O Monsieur,“ sagte sie mit zuckenden Lippen, und die Thränen stiegen von Neuem in ihre großen braunen Augen, „man hat meiner armen kranken Tante die einzige Kuh fortgenommen; es ist Alles, was sie hat – der Hunger ist unser Loos.“

Wendt räusperte sich, um seine Bewegung zu verbergen. Er verabscheute in diesem Momente seinen Auftrag und wünschte dringend, in den Augen des Mädchens nicht als so vollkommener Tiger zu gelten, wie es jetzt der Fall zu sein schien, denn der Ausdruck der braunen Augen bildete eine seltsame Mischung von Schmerz und Grauen.

„Beruhigen Sie sich, Mademoiselle!“ sagte er freundlich. „Ihre Tante soll sogleich wieder in den Besitz der Kuh gelangen; haben Sie, ich bitte, noch einige Minuten Geduld, und Alles wird in Ordnung sein.“

Die Französin athmete erleichtert auf. „O, wie danke ich Ihnen, mein Herr!“ rief sie mit einem so fröhlichen Aufleuchten der Augen, daß ihre lieblichen Züge wie von einem Sonnenstrahl verklärt wurden.

Als sie fröhlich ihrem Hause zusprang, trat einer der Dorfältesten an sie heran und sprach auf sie ein. Sie fuhr erschreckt zusammen und schüttelte mit dem Kopfe. Nur das Wort: „Unmöglich!“ verstand der Lieutenant.

„Aber es hilft nichts,“ erwiderte der Bauer, „Jeder muß opfern, was er hat,“ und dann schritt die Französin, wie es schien wieder enttäuscht, weiter. Unterdeß hatte sich die Scenerie sehr verändert.

Der stille Marktplatz hatte sich angefüllt mit Rindern, Kühen, Kälbern, welche theils wild umher sprangen, theils ängstlich brüllten, und eine ganz respectable Anzahl älterer und jüngerer Weiber und alter Männer hatte den Platz vor der Mairie ausgefüllt. Der Maire lud den Officier ein, in die Mairie einzutreten und an dem großen Tische in der Mitte der geräumigen Stube Platz zu nehmen, welche sich schnell mit Männern und Frauen anfüllte. Einer der Aeltesten des Dorfes setzte sich mit einer Verbeugung gegen Wendt ebenfalls an den Tisch, entfaltete eine Liste und rief den daselbst obenan verzeichneten Namen auf.

„Pellissard der Aeltere – hundert Franken!“

Pellissard tritt an den Tisch, ein alter Mann mit weißem, dünnem Haar an den Schläfen des kleinen Kopfes; er knüpft zitternd ein rothes baumwollenes Taschentuch auf und zählt in Gold, Silber und Kupfer hundert Franken auf. Der alte Mann schob das Geld dem Lieutenant hin, welcher, beide Hände auf den Säbel gestützt, aus seiner Cigarre ganze Wolken von Rauch zog. Ein Name folgte dem andern; theils mit stiller Resignation, theils unter Schluchzen und Jammern wurde das Geld aufgezählt, und die Haufen Gold, Silber und Kupfer wuchsen immer höher an.

1990 Franken waren bereits eingezahlt, als „Madame Vivier“ als Letzte auf der Liste aufgerufen wurde.

„Aber Madame Vivier ist krank,“ rief eine weibliche Stimme aus der Menge.

„Eh bien,“ sagte der Maire, „wo ist denn aber Madelon, ihre Nichte?“ und ertheilte, als Niemand antwortete, einem Weibe Ordre, Madelon zu holen.

Gleich darauf trat die junge Französin, welche sich vorher hülfesuchend an den Officier gewendet hatte, an den Tisch heran.

„Madame Vivier,“ wiederholte der Aelteste mit eintöniger Stimme, „zehn Franken.“

„Monsieur Valure,“ erwiderte Madelon und ihre Stimme kämpfte mit Thränen, „die Tante hat nicht einen Centime im Hause.“

„O,“ sagte ein Weib aus der Menge mit rauher Stimme, „ich habe auch mein Letztes daran gegeben und wünsche vergeblich meiner kranken Tochter das Kraftsüppchen zu machen, welches der Doctor zu ihrer Genesung so dringend wünscht.“

„Ja, Madelon,“ sagte der Aelteste, „Jeder ist nach seinen Verhältnissen eingeschätzt, und es ist unnütz, sich dagegen zu sträuben; Glück oder Unglück des Ortes hängen von dem guten Willen jedes Einzelnen ab.“

Madelon flog die Röthe der Scham über ihre öffentlich discutirte Armuth und den Zweifel an ihrem guten Willen hell über Stirn und Hals. Sie nestelte mit bebender Hand an einer aus Haaren geflochtenen Schnur, welche um ihren Hals unter dem Kleide hing, und zog an derselben ein armseliges, goldenes Heiligenbildchen hervor, dessen Werth wohl noch kaum an zehn Franken heranreichte, löste es von der Schnur, küßte es und legte es auf den Tisch. Eine große Thräne floß über ihre vorher so rothe und nun so bleiche Wange.

Wendt, welcher starren Blickes der Scene gefolgt war, erhob sich schnell und heftig.

„Halt!“ rief er, und seine Stimme klang rauh vor Bewegung, „so ist es nicht gemeint;“ und vor den Augen der verwundert dareinschauenden Franzosen trat er an die andere Seite

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Wout
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 55. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_055.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)