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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)

No. 4.   1877.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Hohe Fluth.
Erzählung von Hans Warring.


Mehrere Tage lang hatten heftige Nordstürme die See aufgewühlt, mit Ungestüm die Wogen auf den Strand geworfen und die Baumwipfel auf den hohen bewaldeten Strandbergen geschüttelt. Es war ein Wetter gewesen, das eher an den November, als an den Juni erinnerte, und doch zeigten die noch in jungem Blätterschmucke prangenden Bäume und das frische Grün der Wiesen, daß man sich in diesem wonnigsten Monate des Jahres befand. Auch jetzt noch, obgleich die Wuth des Sturmes sich gelegt hatte, konnte das aufgeregte Meer sich nicht beruhigen. Man vernahm sein Toben bis in die letzten Häuser des Badeortes, und die Stadtbewohner, welche eben erst zur Sommerfrische in dem Orte angelangt waren, versicherten, daß es besonders zur Nachtzeit, wenn alle anderen Stimmen schwiegen, entsetzlich wäre, das Wüthen des Elementes zu hören. Man könnte kein Auge zuthun bei dem Tosen, sagten sie, und wenn das noch längere Zeit so fortginge, dann thäte man am besten, seine Zelte wieder abzubrechen und zurückzukehren in die sichere Stadt. Was nun ersteres anbelangte, so hatte der Nordwind ihnen diese Mühe erspart. Er hatte die leichten Sommerbuden zusammengeworfen, wie ein ungeduldiges Kind seine Kartenhäuser, und die Leinwand hin und her gezaust, daß man gemeint, es würde kein Faden neben dem andern bleiben. Mehr Widerstand hatten ihm die Villen geleistet, welche sich die reichen Handelsherren der benachbarten Großstadt in dem Orte gebaut hatten. Zwar hatte er sie bis in ihre Grundvesten erschüttert, aber sie dennoch nicht zum Wanken gebracht; sie fühlten festen, soliden Grund unter sich, ebenso wie ihre Besitzer. Dafür aber hatte sich der Wind mit desto größerer Wuth an den Gartenanlagen vergriffen, die jene Villen umgaben. Er hatte auf den Rasenplätzen die hochstämmigen Rosen und Lilien geknickt und die sorgsam hinaufgerankten Reben von den zierlichen, sommerlichen Veranden gerissen. Und als alle diese Gewaltthaten vollbracht waren, hatte er aufgehört zu toben und, zufrieden mit seinem Werke, sich in seinen Krystallpalast am Nordpole zurückgezogen. Die Sonne wurde endlich Herr über den Aufruhr und lächelte vor ihrem Niedergange so mild auf die Verwüstung herab, als wollte sie mit ihrem Blicke alle Schäden heilen. –

Vor dem großen Logirhause, das seine offene Halle der See zukehrte, hatte sich eine Gruppe von Herren zusammengefunden, welche den Sonnenuntergang beobachteten und dabei die Aussicht auf kommende schöne Tage erörterten. Sie hatten so stetig in die Gluth des niedersinkenden Gestirns geschaut, daß, als es endlich langsam in der Fluth verschwunden war, ihre Augen nur unsicher und geblendet durch den schnell aufsteigenden Abendnebel zu blicken vermochten. Dies mochte wohl auch der Grund sein, daß einer der Herren von dem Reiter, der, von einem Reitknechte gefolgt, langsam die chaussirte Dorfstraße daher kam, bereits als Bekannter mit einem Schwenken des leichten Hutes begrüßt worden war, ehe Jener noch etwas Anderes wahrgenommen hatte, als den schön gebogenen Hals und die ebenmäßigen Formen des herrlichen Rappen, und daß die Hand des Ankommenden, der sich schnell vom Pferde geschwungen hatte, schon auf seiner Schulter ruhte, als er sich noch damit beschäftigte, die goldene Brille abzureiben, um schärfer ausschauen zu können. Zu gleicher Zeit tönte eine Stimme in sein Ohr, die trotz der langen Zeit, in der er sie nicht gehört hatte, dennoch plötzliche Erinnerungen an vergangene frohe Stunden in ihm wachrief.

„Guten Abend, König David!“ sagte die Stimme, und der Eigenthümer derselben, ein großer Mann mit braunem, schönem Vollbarte, blickte lächelnd den Angeredeten an, der, etwa um einen Kopf kleiner als er, ernsthaft und forschend ihm in's Gesicht schaute. Doch dauerte sein Schwanken nur kurze Zeit. Ein Ausdruck freudigen Erstaunens breitete sich über seine Züge, als er, Jenem die Hand kräftig schüttelnd, ausrief:

„Sehe ich recht? Gerhardt! Wo in aller Welt kommst Du her, so plötzlich und erfreulich wie das gute Wetter nach den kalten stürmischen Tagen? Und verändert hast Du Dich, daß ich Dich beinahe nicht wiedererkannt hätte. Mir scheint’s, Du bist kleiner geworden – oder liegt es daran, daß Deine Breite jetzt in besserem Verhältnisse zu Deiner Länge steht? Deine stattliche Gestalt giebt auch dem ärgsten Spötter nicht mehr das Recht, Dich, wie wir es einst thaten, für eine mathematische Linie zu erklären, die bekanntlich zwar Länge, aber keine Breite hat.“

Der Andere lächelte.

„Ja,“ sagte er, „die Jahre haben ihr Werk an mir gethan. Sie haben, wie ich hoffe, alles Schwankende an mir gefestigt, nicht allein die lange, schmale Figur. Was aber Dich anbetrifft, König David, so bist Du merkwürdig der Gleiche geblieben. Du bist noch so schlank und behende wie damals, als Dein prächtiger Tenor und Dein lockenumwalltes Haupt – 'bräunlich mit schönen Augen' – Dir den Namen des israelitischen Sängers eintrugen. – Wo ich herkomme, fragst Du mich? – Nun, darüber ist bald Auskunft gegeben! Ich habe mir hier in der Nachbarschaft eine alte Ritterburg erstanden, auf welcher ich als Nachfolger der Deutschherren hause. Es ist dies ein altes Nest mit öden hohen Gemächern und hallenden Gängen, welches seinen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 57. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_057.jpg&oldid=- (Version vom 29.5.2018)