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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)

No. 6.   1877.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Aus gährender Zeit.
Erzählung von Victor Blüthgen.
(Fortsetzung.)


6.

Wer den Wein schüttelt, der rüttelt auch die Hefe auf.

Es geht eine Sage, und die Schiffer erinnern sich ihrer, wenn sie die Einöde von Meer und Himmel um sich haben. Ruhig liegt die See um das Schiff her, zum Verzweifeln ruhig; es ist Windstille, und die Segel hängen schlaff von den Masten nieder. Da regt sich's eines Tages in der Ferne und furcht mit langer, blauer Flosse das Wasser: der Haifisch. Näher und näher kommen die Ungethüme; die Kugeln pfeifen um ihre Leiber, aber keine trifft sie; die trügliche Angelkette mit der Lockspeise rollt nieder, aber sie beißen nicht an. Um das regungslose Schiff schwimmen sie mit den beweglichen Zähnen und den gierigen, tückischen, lauernden Augen. Die wetterharten Theerjacken aber auf dem Verdecke gehen mit verständnißvoll ernsten Blicken an einander vorüber, denn sie wissen, was das zu bedeuten hat.

Es wird Sturm kommen, und es wird Leichen geben auf dem Schiffe. Der Haifisch weiß es, und sie wissen es jetzt auch.

Wenn die großen Stürme der Weltgeschichte drohen, dann kommen die Haifische. Sie regen sich und tauchen auf, da und dort. Sie haben einen Instinct, der ihnen sagt, daß etwas in Gefahr ist zusammenzubrechen, und sie begehren nach Beute. Ob es wenig ist, was der Sturm für sie vom Deck fegen wird, oder ob das ganze Schiff zerschellen wird und die Wogen ihnen ein ganzes Festmahl zuschleudern werden – gleichviel. Sie rüsten sich.

Es war in der Morgenfrühe des nächsten Tages. Im Kesselhause der Baumwollspinnerei von Seyboldt und Compagnie waren die beiden Heizer, Abraham Fenner und Sebulon Trimpop, soeben damit fertig geworden, den nöthigen Kohlenvorrath aus der Kelleröffnung heraufzuschaffen. In einer Ecke aufgeschichtet lag das „schwarze Gold“, und Sebulon Trimpop stieß die Schaufel mit kühnem Schwunge in den Haufen hinein, während sein ihn fast um Kopfeslänge überragender Gefährte die Fallthür schloß, welche zu den Vorräthen unter der Erde hinabführte.

Die Sonne war schon aufgegangen, und durch etliche neu eingesetzte Scheiben der eisendurchgitterten Fabrikfenster, die sonst von Staub und Alter blind waren, konnte man den lichtdurchflutheten Morgenhimmel sehen. Sonst war es noch frisch in dem nach Westen zu gelegenen Raume; das Metall der Kessel, der Kalk der Wände und das Steinpflaster des Bodens hauchte eine fühlbare Kühle aus.

Sebulon zog ein buntes, baumwollenes Taschentuch aus dem blauen Kittel, der die Arbeiterbekleidung der Gegend bildet, und wickelte mit listigem Gesicht eine gefüllte Flasche heraus. Er entkorkte sie vorsichtig und that ein paar Züge aus derselben.

Der lange Abraham lehnte sich an den Ofen und sprach melancholisch: „Du wirst Dich noch um den Dienst trinken, Sebulon; ich warne Dich immer, aber Du hörst nicht eher, bis es zu spät sein wird. Der Alte kann's nun einmal nicht leiden.“ Dabei schielte er mit einiger Verlegenheit im Gesicht nach der Flasche hinüber.

„Ja, er hat uns neulich erst wieder eine Rede darüber gehalten, wie gottlos es wäre, etwas Geistiges zu genießen, ausgenommen wenn man krank wäre. Aber es ist früh am Tage und mich friert, und das macht mich allemal krank. Uebrigens laufen so viele Leute durch unsres Herrgotts Arme, die Geistiges zu sich nehmen, daß es so schändlich nicht sein kann. Und weil nunmehr die einzige Zeit ist, wo uns Niemand sieht, so wollen wir in Gottes Namen diesen Rest hinunterschlucken, Abraham.“

Er reichte die Flasche hinüber, worauf Fenner kopfschüttelnd seinen Standort verließ und dem gegebenen Beispiele folgte. „Es ist doch Sünde,“ seufzte er, sich den Bart wischend, während Trimpop die Flasche wieder einwickelte und in den Kittel steckte; „denn wir müssen thun, was der Alte sagt; weß Brod ich esse, deß Lied ich singe.“

„Ich werde ihm etwas pfeifen,“ bemerkte Sebulon verwegen, indem er die Eisenthür des Kesselofens aufhob und zu dem aufgeschichteten Brennholz schritt. „Meine Arbeit verkaufe ich ihm; das andre geht ihn von Rechtswegen nichts an. Wer heißt ihn alle Morgen mit meiner Seele Kirche zu halten und den Segen darüber zu sprechen?“ Und er warf ärgerlich ein paar schwere Holzscheite in den Schlund des Ofens.

„Das kann Deiner Seele wahrhaftig nichts schaden, Sebulon. Rede nur nicht so gottlos! Schwerenoth,“ fuhr er plötzlich leiser fort, „da ist ja schon der Herr Bandmüller. Mach' schnell, sonst giebt's was.“

In der That blickte das struppige Gesicht des Herrn Bandmüller durch eine der hellen Scheiben, er kam aber nicht in das Kesselhaus, sondern stieg die Treppe empor. Zehn Minuten später prasselte die Gluth, und der Zugwind heulte und brummte in dem Flammenschlunde hinter der Eisenthür, und spärliche Aschenfunken rieselten durch die Roststäbe in den Behälter. Bald nachher kamen auch die ersten Arbeiter, und es wurde lebendig auf Gang und Treppe neben dem Kesselhause.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 93. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_093.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)