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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)

Der Spiritismus vor dem Gerichtshofe der Wissenschaft.


II.

Hätten wir es nun im Spiritismus nur mit den bisher besprochenen Betrügern und Betrogenen zu thun, so würde ein ernsteres Eingehen auf diese Materie kaum lohnen, aber es begegnen uns innerhalb dieser Gesellschaft noch Individuen und Thatsachen, die nicht in die oben genannte Rubrik gehören und die man bisher in allen Ausführungen gegen den Spiritismus fast geflissentlich zu besprechen vermieden hat. Aber gerade diese sind von der allergrößten Wichtigkeit und verdienen eine ganz besonders genaue Prüfung. Wir meinen die wirklich ehrlichen und ehrenhaften Medien. Unmöglich scheinende Sachen, ausgeführt von Leuten, deren Ehrlichkeit über jeden Zweifel erhaben ist – wer sollte da nicht stutzen und befremdet sich fragen, ob denn der Spiritismus wirklich so gar keine Beachtung verdiene?

Ich kenne drei solcher Medien, die zweifellos ebenso wenig im Stande sind, Andere zu täuschen, wie einer bewußten Selbsttäuschung zu unterliegen; namentlich Eines dieser drei habe ich hierbei im Auge; es ist ein wissenschaftlich gebildeter, logisch denkender und vorurtheilsfreier Mann, für dessen Ehrenhaftigkeit ich unbedingt einstehe. Dieser Mann, ein sogenanntes „schreibendes Medium“, hat oft genug in meiner Gegenwart Verkehr mit den „Geistern“ gepflogen und dabei Resultate zu Tage gefördert, die seiner gewöhnlichen Denkweise, seinen gewöhnlichen geistigen Fähigkeiten entschieden weit überlegen waren und die deshalb – so müßte man doch ohne gründlichere Prüfung annehmen – nicht von ihm herrühren konnten, sondern von einem ihm überlegenen, von ihm getrennten Wesen, also einem „freien Geiste“ zu stammen schienen. Der Mann nimmt einen Bleistift und weißes Papier zur Hand; plötzlich krümmt und windet sich die Bleifeder, preßt sich wie selbstthätig in die zum Schreiben geschlossene Hand und beginnt, bald langsam, bald in fliegender Hast, auf dem Papiere zu schreiben, oft unzusammenhängende Wörter, unsinnige Sätze, oft nur Striche und allerlei Schnörkel, aber auch sehr oft überraschend logische und im elegantesten Styl gehaltene Antworten auf gestellte Fragen – Logik und Styl in einer den gewöhnlichen Fähigkeiten des Mediums sehr überlegenen Weise.

Der Mann versichert – und man darf ihm, wie bereits bemerkt, auf’s Wort glauben – daß die Feder ohne sein willkürliches Zuthun schreibe, daß er unmittelbar vorher erst wisse, was er schreiben werde, gleichsam als dictire es ihm Jemand, oder noch richtiger ausgedrückt, als setze sich in seinem Centralorgane[WS 1] ein fremder Wille fest, der nun an Stelle seines eigenen Willens die Bewegung der Arm- und Handmuskeln übernehme und das Schreiben bewerkstellige.

Spiritistisch ist der Vorgang sehr einfach zu erklären: der fremde freie Geist setzt sich durch sein „Perisprit“[1] mit dem des Mediums in Verbindung und theilt dann seine Ideen dem Verständnißvermögen des Mediums mit, welch letzteres nun durch seine Organe diese Ideen in gewohnter Weise zum Ausdrucke bringt. Es klingt wunderbar, aber wir haben einen natürlichen Weg, uns das Vorkommen dieser glaubwürdigen Medien zu erklären, die im „inspirirten“ Zustande etwas zu leisten vermögen, dessen sie im gewöhnlichen Leben nicht fähig sind; wir brauchen uns in dem bewunderungswürdigen Haushalte des menschlichen Organismus nur etwas näher umzusehen.

Die Fähigkeit des Menschen, zu denken, geistig zu arbeiten, ist eine gesetzmäßig vollkommen geordnete und an ein bestimmtes Organ im Körper, das Gehirn, gebundene; das bestreitet heute Niemand mehr, der von dem körperlichen und geistigen Leben des Menschen überhaupt etwas weiß, auch derjenige nicht, der an eine vom Körper gesonderte menschliche Seele glaubt. Letzterer weicht nur darin von unserer Anschauung ab (derjenigen nämlich, daß die geistigen Fähigkeiten lediglich eine Eigenschaft des Gehirns seien), daß er annimmt, die Seele bediene sich des ihr untergeordneten Gehirnes als eines Organes, durch das sie ihren Willen und ihre Eigenschaften kundgiebt, – und diese Abweichung in der Anschauung ist für unsere Erörterung, bei der wir nur die geistigen Fähigkeiten an sich im Auge haben, unerheblich; es ist im vorliegenden Falle gleichgültig, woher die geistigen Fähigkeiten des Menschen stammen, ob von einer gesonderten Seele oder von dem körperlichen Gehirne; wichtig für uns ist nur, daß diese Fähigkeiten als solche existiren, daß sie mithin in verschiedener Kraftfülle bei verschiedenen Individuen gefunden werden und bei ein und demselben Individuum einer (momentanen oder bleibenden) Steigerung und Verminderung fähig sind. Wichtig ist ferner, daß diese geistigen Fähigkeiten, wenn auch erheblich gesteigert, doch deshalb immerhin menschliche Fähigkeiten bleiben, und von größter Wichtigkeit endlich der zweifellos feststehende Umstand, daß sie nicht nur normal, sondern auch abnorm, krankhaft, gesteigert werden können. Untersuchen wir nun einmal, ob wir innerhalb der so mannigfachen krankhaften Erscheinungen am menschlichen Organismus nicht auch solche finden, die den oben erwähnten scheinbar überirdischen Leistungen wahrhaft ehrlicher „Medien“ analog sind, ob nicht vielleicht gar die „mediale Kraft“ eine ganz bestimmt gekennzeichnete Erkrankungsform des menschlichen Geistes ist.

Wir kennen in der Medicin eine ganz genau charakterisirte und begrenzte Krankheit, die chorea major, auch „Chorea der Deutschen“ (chorea Germanorum) oder „großer Veitstanz“ genannt; diese Krankheit kennzeichnet sich (in ihrem generellen Ganzen aufgefaßt) durch ihr Auftreten in Paroxysmen von verschiedener Zeitdauer, während welcher Anfälle das Bewußtsein der Kranken aufgehoben ist, obgleich sie es der Außenwelt gegenüber zu besitzen scheinen, weil sie scheinbar ganz zweckmäßige Handlungen ausführen; nach dem Aufhören des Anfalls weiß der Kranke absolut nichts von dem, was er während desselben gethan hat, wogegen er in einem zweiten sich dessen sofort bewußt wird. Während der Anfälle sind die geistigen und körperlichen Fähigkeiten des Kranken in ganz abnormer und manchmal fast unbegreiflicher Weise gesteigert, wie wir dies an einigen aus dem Leben genommenen Fällen darthun wollen.

So beobachtete man einen Fall von chorea major, bei einem Knaben, der an verschiedenen Functionsstörungen und selbst Lähmungen litt und dabei während der Anfälle eine ganz unglaubliche Steigerung des Muskel- und Gleichgewichtsgefühls entwickelte. Er sprang z. B. vom Boden des Zimmers, auf einen Tisch, von diesem auf einen hohen Schrank, von letzterem über die ganze Breite des Zimmers hinweg auf den Ofen u. s. f., und all dies mit einer Sicherheit und Behendigkeit, die man einem Menschen nie zutrauen würde und die auch der kranke Knabe in seiner anfallfreien Zeit nie besaß; außer der Zeit der Anfälle war das Kind jedem andern in Bezug auf körperliche Geschicklichkeit gleich und wollte nie glauben, daß es derartige halsbrecherische Sprünge vollführt habe. Auch geistig führte der Knabe ein wahres Doppelleben: er erinnerte sich dessen, was er wachend gethan hatte, nur in einem wieder wachen Zustande, und dessen, was er während eines Anfalles vorgenommen hatte, wieder nur während eines andern solchen; er setzte ein Spiel fort im zweiten Anfalle, das er im ersten begonnen hatte; er versteckte Spielzeug während eines Anfalls, konnte es im normalen Zustande tagelang nicht finden, verfiel dann wieder in einen Paroxysmus und holte es sofort aus dem Verstecke hervor etc. – Der Zustand ging dann in ein permanentes Traumleben über, die Sprech- und Schlingmuskeln waren gelähmt, derart, daß der Knabe stumm und unfähig, auch nur den Speichel zu schlucken, Jahre lang umherging, während welcher Zeit er mit Hülfe der Schlundsonde gefüttert werden mußte. Endlich schaffte ihn seine Mutter zu dem bekannten „Wunderzuaven“ nach Paris, der es durch rein geistige Behandlung und lediglich durch den Einfluß seiner imponirenden Persönlichkeit dahin brachte, daß der Knabe nach dem dritten Besuche plötzlich ausrief: „Mama, ich kann sprechen.“ Von diesem Augenblicke an war und blieb er geheilt, aus dem springenden Knaben wurde ein gesetzter Mann, der im Vollbesitze seiner geistigen und körperlichen Kräfte jetzt noch in einer größern Stadt Badens wohnt oder wenigstens vor einigen Jahren dort gewohnt hat.

Wie in diesem Falle während der Paroxysmen – aber auch mir während derselben – das Muskelgefühl abnorm gesteigert war, so beobachtete man bei andern Kranken derselben Gattung eine krankhafte Steigerung der Sinnesthätigkeit und aller andern, durch dieselbe geweckten geistigen Fähigkeiten, aber

  1. Eine von den Spiritisten angenommene, materiell-ätherische Substanz, die im Leben die Seele mit dem Körper verbindet und erstere nach ihrem Abscheiden aus dem Körper in die Geisterwelt begleitet.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Ceutralorgane
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 98. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_098.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)