Seite:Die Gartenlaube (1877) 103.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


Mohren und braunen Indianern, Apfelsinen essend, unter Palmen spazieren und hatte kaum ein Auge für die stille Bekümmerniß meiner guten Mutter. Meine Siebensachen waren schnell gepackt – die See-Ausrüstung konnte doch erst in Hamburg beschafft werden –, und so sah mich schon der nächste Morgen aus meiner Vaterstadt scheiden, leichten Herzens, denn hinter mir lag das dumpfe und enge Zimmer der Quarta, in dem ich nur lustig sein konnte, wenn es galt, die Lehrer zu foppen, und vor mir lag die ganze weite Welt offen da.

Meine Mutter begleitete mich nach Hamburg, half noch mit sorglicher Hand bei der Beschaffung meiner Ausrüstung und trat dann nach schwerem Abschiede die Rückreise nach S. an. Mit beklommenem Herzen sah ich sie scheiden; zum ersten Male dämmerte mir damals die Erkenntniß auf, was es heißt, eine Mutter, eine Heimath zu besitzen.

Mein Schmerz währte jedoch nicht lange. Die Eindrücke der großen Seestadt und meine leicht erregbare Phantasie halfen mir darüber fort. Und wie stolz war ich auf meine See-Ausrüstung! Das „beste Päckchen“, die blaue Jacke, das rothe Hemd und die glanztuchene Mütze sahen auch gar zu flott aus. Aber nun erst der ölduftende Südwester, die thranigen Seestiefel, die mir bis hoch auf die Lenden reichten – sie schienen mir für meine Toilette schon ganz unentbehrlich, und erregte ich, so angethan, eine stete, mir aber damals unerklärliche Heiterkeit bei den Matrosen unten am Hafen, bei denen ich mich bald angefreundet hatte. In der That mußte ich so einen höchst komischen Anblick gewähren, denn damals noch ein Knirps, konnte ich die Last der auf Zuwachs berechneten Stiefel kaum schleppen und trug den Südwester, nach Mützenart, mit dem langen Rückenschirme nach vorn bis ich später an Bord eines Bessern belehrt wurde.

Dieses mein erstes Seemannsleben an Land war nur von kurzer Dauer; nach wenigen Tagen wurde ich angewiesen, an Bord der „Clara“ zu gehen, die segelfertig sei. Da lag sie vor mir, die schmucke „Clara“, als ich in einem gemietheten Boote die weite Strecke stromabwärts bis zum Ankerplatze des Schiffes zurücklegte; zierlich und sauber vom Flaggenknopfe bis zur Wasserlinie, mit scharfem Bug und schlanken Masten, war sie als das schnellste und beste Schiff im ganzen Hafen bekannt.

„‚S ist ein sauber Ding, die ‚Clara‘,“ schmunzelte mein Bootführer beifällig, das Boot mit starken Ruderschlägen vorwärts treibend, „wenn ich noch 'mal auf See ginge, möcht‘ ich's mit keiner andern thun, als mit der ‚Clara‘.“

Wie stolz machte mich das damals schon, obgleich ich noch gar nichts vom Seewesen verstand und ihre guten Eigenschaften noch nicht zu würdigen wußte! Aber das Gefühl der Zugehörigkeit erhob mich – es war ja nun auch „meine Clara“. Mühsam und abwechselnd für den Verlust des rechten oder linken Seestiefels fürchtend, klomm ich die Jacobsleiter in die Höhe, die aber nicht in den Himmel, sondern an der Schiffsseite hinauf auf das Deck führt. Niemand empfing mich dort; das Deck war leer. Mein Onkel hatte mich instruirt, daß der Capitain in einem auf dem Deck stehenden Häuschen wohne und daß ich mich bei dem gleich anzumelden habe. Richtig! da stand ja solch ein Häuschen, und schnell stolpere ich über Tauwerk und Fässer hinweg darauf zu. An der geöffneten Thür saß ein Mann in Hemdärmeln – für mich der Capitain; allerdings machte seine Beschäftigung mich stutzig – er schälte Kartoffeln – aber wie durfte ich mir merken lassen, daß ich das anstößig fand! Da hätt‘ ich‘s ja gleich mit dem Herrn Capitain verdorben. Ich schwenkte also meinen Südwester am falschen Ende, schleppte meinen linken Seestiefel zu höflicher Verbeugung etwas zurück: „Herr Capitain, Onkel Christian läßt schön grüßen,“ platzte ich heraus, „und läßt sagen, er hätte mich nicht eher an Bord geschickt, weil ich beim Laden doch blos im Wege gewesen wäre; ich wär‘ noch zu dumm.“

„Dien Onkel Krischahn is‘n kloken Mann, lütt Stäwelknecht,“ plattdeutschte der vermeintliche Capitain, auf mein Pedal vergnügt herabgrinsend; „dat Du man sihr dämlich büst, dat mark ick nu ok; lop glickst na dat anner End‘! Doa in dat letzte Hus sit ok so'n ollen grisen Kirl – dat 's de Kock; säg em, he sall ruth kamen un sick sine Kartüffel‘ alleen pellen! Ick hew keen Tid dortau as dien Captain.“

Ich stürze nach dem andern Ende des Schiffes, um meine erste Obliegenheit so schnell wie möglich zu erfüllen; da stand wahrhaftig auch ein Häuschen und am geöffneten Fenster saß ein Mann und rauchte. „Koch, Du sollst schnell zum Capitain kommen und Dir Deine Kartoffeln allein schälen,“ rief ich ihm zu, „aber schnell – er hat keine Zeit mehr.“

Der vermeintliche Koch sah mich erst verwundert an und lachte dann laut. „Wie heißt Du, mein Junge?“

Ich nannte meinen Namen.

„Dann bist Du der neue Junge, den mir der Heuerbas schickt?“

Ich bejahte verdutzt.

„So laß Dir ein für alle Mal gesagt sein, daß Du an Bord 'hinten' und 'vorn' ebenso wenig verwechseln darfst, wie den Capitain mit dem Koch. – Aber laß nur!“ fügte er gutmüthig hinzu, als er meine verzweifelte Miene sah, „Du wirst Dich mit der Zeit schon zurecht finden, und dem Koch werd‘ ich seine Dummheiten austreiben.“

Dieses mein erstes Debüt an Bord der „Clara“ trug mir den Namen „lütt Stäwelknecht – kleiner Stiefelknecht“ ein, den ich auch behielt, so lange ich dort an Bord blieb. Ich fand mich bald in den neuen Verhältnissen zurecht, die für den Landbewohner geradezu eine unbekannte Welt bilden; ich lernte, daß man, mit dem Gesicht nach vorn stehend, die rechte Seite des Schiffes Steuerbord, die linke Backbord nennt, daß „luvward“ die Seite ist, von der der Wind herkommt, und daß er von da nach „Lee“ geht, daß das Steuer „Ruder“ genannt wird und der dort befindliche Theil des Deckes, das Achterdeck, ein geheiligter Raum ist. Nur das Gewirr der zahllosen „Enden“, wie die Seemannssprache Taue und Stricke getauft hat, machte mir das entsetzlichste Kopfzerbrechen, und mein Erstaunen war groß, als ich hörte, daß man „Wanten“ und „Mars“ sagt, statt „Strickleiter“ und „Mastkorb“. Beide Worte waren mir immer so seemännisch vorgekommen, und ich hatte sie oft gebraucht, um meinen Schulcameraden eine besondere Meinung von meinen Kenntnissen des Seewesens beizubringen. Sofort nach meiner Ankunft wurde ich einem Voll-Matrosen der Besatzung, einem alten, wettergegerbten Seebären, zur Beaufsichtigung und Ausbildung überwiesen.

Jochen Schütt, an Bord „grot Jochen“ genannt, weil er über sechs Fuß hoch in seinen Schuhen stand, hat mir nie etwas nachgesehen und mich später oft abgestraft, aber er vertheidigte mich auch stets gegen die Foppereien und Thätlichkeiten der übrigen Mannschaft, die nur zu sehr geneigt war, den „lütten Stäwelknecht“ als junge Landratte zu necken und zu malträtiren. Wir wurden sehr gute Freunde. Allerdings schien auch „grot Jochen“ von dieser seiner neuen Aufgabe, mich zu erziehen, wenig erbaut; ohne ein Wort zu sagen, schob er mich in fühlbarster Weise vor sich her auf das Verdeck, hing mir eine Theerpütze um den Hals – einen kleinen mit Theer gefüllten Eimer – und wies mich an, „das Vorgeschirr zu labsalben“, indem er nach dem Klüverbaum hinauswies. Gesagt, gethan. Ohne viel über „Vorgeschirr“ und „labsalben“ nachzudenken, fand ich die Erklärung für meine Arbeit in dem Wink nach dem Klüverbaum, in dem mir in die Hand gedrückten Pinsel und dem schwarzen Inhalt der Theerpütze. Ich kroch also über das Bugspriet hinaus und begann munter das glänzend sauber geschrapte Holz gründlich einzutheeren. „Schade,“ dachte ich bei mir, „weiß wie es war, sah's doch viel sauberer aus.“

„Ist denn der Junge rein des Teufels, Jochen?“ hörte ich plötzlich hinter mir die Stimme des Capitains; „statt bloß die Enden und Ketten einzutheeren, salbt der Teufelsbraten ja den Klüverbaum selbst ein, den der Zimmermann erst heute morgen mühsam blitzblank geschrapt.“ Ich fiel vor Schreck fast von dem verunzierten Klüverbaum herunter in's Wasser, in demselben Augenblick packte mich aber schon Jochen's Riesenfaust im Genicke: „Täuw, ick will Di dat Labsalben lihren!“ damit schüttelte er mich so gewaltig, daß die Theerpütze an meinem Halse mir rechts und links um die Ohren schlug, ihren zähen Inhalt über Haare und Gesicht entleerte und ich so selbst gelabsalbt wurde; er schien mich durch Anschauungsunterricht praktisch erziehen zu wollen. Da half kein Maulspitzen – mit meinem Taschenmesser mußte ich den nur zu dick aufgetragenen Theer wieder fortschrapen, bis das Holz in alter Weiße glänzte; drei volle Stunden brauchte ich, um den angerichteten Schaden wieder gut zu machen, drei volle Stunden mit dem Bauche auf dem harten Klüverbaum liegend, Augen und Nase fast vom Theer verklebt; vier Stunden mit dem Gefäß auf der Schulbank wären mir damals schon lieber gewesen.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 103. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_103.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)