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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


Ich übergehe all’ die Dummheiten, die ich in der erster Zeit aus Mangel an Sachkenntniß anrichtete und die mir derbe Knüffe von Jochen’s erziehender Hand eintrugen. Im Ganzen fand ich mich schnell zurecht und eignete mir des Seemannes ABC bald an.

Am andern Morgen in aller Frühe lichteten wir die Anker; erst wurden die Marssegel, dann die Untersegel, zuletzt Bram- und Oberbramsegel gesetzt, und von oben bis unten in weiße Leinwand gehüllt, flog die „Clara“, zierlich’ zur Seite geneigt, mit günstigem Winde und auslaufender Ebbe die Elbe hinunter. Die untergehende Sonne sah uns schon bei Helgoland – ein freundliches Bild. Fischerboote mit grün-weiß-rother Flagge umkreuzten uns dort, und im warmen Frühjahrssonnenschein leuchtete die seeumbrandete Insel zu uns herüber.

Grün ist der Rand;
Weiß ist der Strand;
Roth ist die Wand –
Das sind die Farben von Helgoland.

Wir standen mit vollen Segeln in die Nordsee hinein und hielten auf den englischen Canal zu; wie eine Gazelle flog die „Clara“ durch die blaue See, mit scharfem Bug die Wellen durchschneidend; so weit das Auge reichte, zeigte ein breiter weißer Schaumstreifen den zurückgelegten Weg. Mit Untergehen der Sonne änderte sich jedoch das Wetter; der bisher günstig und „raum“ von hinten wehende Wind „schralte“ weg und wurde conträr; die dicke Luft und eine im Südwesten drohende Wolkenbank deuteten an, daß schlechtes Wetter im Anzuge sei.

„Schmierige Luft, Cap’tain,“ brummte der Steuermann zu dem neben ihm auf der Luvseite des Achterdecks stehenden „Alten“. „Die Nordsee läßt keinen ungehudelt durch. Noch vor Nacht haben wir das Wetter auf dem Halse.“

Und so war’s; die Brise frischte mehr und mehr auf; in kurzen, heftigen Stößen wehte der Wind uns kalt in die Zähne; Masten und Stängen bogen sich knackend unter dem gewaltigen Drucke aller noch stehenden Segel, und schwer stieß das zitternde Schiff in die mißfarbene See.

„Müssen Segel bergen, Steuermann. Es wird der ‚Clara‘ zu viel, und das Barometer fällt noch immer. Weg mit den Bramsegeln! Untersegel fest und zwei Reefe in die Marssegel gesteckt!“

Aber zu spät. Brausend kam die Bö über das Wasser hergefegt; die Kuppen der Wellen abkämmend, trieb sie den in Staub verwandelten Gischt, eine undurchsichtige Wolke, mit rasender Schnelle auf uns zu.

„Alle Mann auf! Segel bergen und fest! Auf das Ruder! Hart auf!“ hallte der Nothruf.

Zu spät. Mit wüthendem Stoße hatte sich die Bö in die Segel geworfen; mit unwiderstehlicher Gewalt hielt sie die Brigg tief auf die Seite gepreßt; das Wasser kochte über die Leeverschanzung auf Deck. Wir drohten zu kentern. Gelang es nicht, den Bug des Schiffes vom Winde ab und die „Clara“ vor den Wind zu bringen, so stand uns das Schlimmste bevor. Da – ein Prasseln oben in der Takelage, ein donnerähnliches Geknatter: die Großbramstänge stürzte gebrochen von oben; das Großsegel war beim Bergen zerrissen und in Fetzen vom Sturme fortgeführt worden. Das hatte uns gerettet; der durch die noch unversehrt stehenden Segel des Fockmastes auf dem vorderen Theil des Schiffes lastende Ueberdruck, ließ die „Clara“ allmählich dem Ruder gehorchen und vom Winde abfallen; langsam richtete sich das Schiff wieder auf, mit wahnsinniger Schnelle vor dem Wetter her durch den Gischt schießend.

Jetzt ging es an die schwere Arbeit des Segelbeschlagens; von der würgenden Seekrankheit und dem Schreck ganz des guten Muthes und fast der Kräfte beraubt, mußten wir zuerst auf den Klüverbaum hinaus, das Klüversegel zu beschlagen; dann ging es hinauf in die Masten, zum Festmachen der Raasegel; Neptun ließ mich auch dort oben nicht in Frieden, sondern forderte ununterbrochen seine Opfer von mir. Mit dem Bauche auf der Raa liegend, die Füße in ein unter die Raa gespanntes Tau gestemmt, mit beiden Armen in das mit unglaublicher Kraft schlagende und sich sträubende Segel fassend, rangen wir oben mit dem Unwetter. Die Nacht war hereingebrochen; nicht mehr in einzelnen Böen, mit heulender Wuth und unverminderter Gewalt hatte jetzt der Sturm das Schiff überfallen. Schnee und Regen peitschten uns in das Gesicht, und weiße Wolken von Schaum und Gischt stürzten über das Deck weg und spritzten bis hinauf zu uns auf die Raaen.

„Vorwärts! Vorwärts! Fort mit den Segeln, oder sie gehen alle zum Teufel!“ klang die Stimme des Capitains vom Deck herauf durch den Sturm. Und immer wieder riß uns das Wetter das zusammengeraffte Segel aus den erstarrten Händen; immer von Neuem wurde die Arbeit wieder begonnen. Das Blut strömte aus den zerrissenen Nägeln; mit Fäusten und Zähnen konnte die schwere peitschende Leinwand nur Zoll für Zoll dem Sturme aus dem Rachen gerissen werden. Undurchdringliche, gähnende Finsterniß unter mir, das lähmende Gefühl der Todesgefahr in dem solcher Eindrücke ungewohnten Herzen, an dünnes Tauwerk geklammert vom Sturme umtost, und in sausendem Bogen sinnbetäubend hin- und hergeschleudert – dazu wie Geisterruf der heulende Schrei der mit den übrigen Segeln kämpfenden Matrosen, Eindrücke wie ich sie nie erlebt, nie für möglich gehalten, raubten mir allmählich die letzte Kraft. Arme und Füße versagten den Dienst, ich drohte herabzustürzen; „Täuw, mien Jung! För’t irste Mal büst nü woll taufreden,“ ließ sich zur rechten Zeit Jochen’s Stimme neben mir durch den Sturm vernehmen; seine starke Faust packte mich mit sicherem Griffe; er lud mich auf seine Schulter und trug mich abwärts in den Mars, wo er mich festband. „Süh so, lütt Stäwelknecht, nu schlap ut, bet ick baben (oben) farrig bün!“ Mit unverdrossenem Muthe stieg er wieder hinauf, um die erst halbgethane Arbeit zu vollenden. Schlafen! oben im Mars, von allen Schrecken des Wintersturmes umtobt, vom eisigen Schneetreiben fast erstarrt, und nur durch einen dünnen Strick davor gesichert, in die schwarze Nacht, in die See hinausgeschleudert zu werden! Später konnte ich es, und habe manche Stunde oben im Mars verträumt, aber in jener Nacht nicht.

Stundenlang lag ich so da, fast sinnlos; endlich, endlich kamen Jochen und die übrigen Matrosen zu mir herunter; „nu sünd wi farrig,“ damit lud er mich wieder auf seine Schulter, und durch die Nacht ging es die schwanken Wanten hinunter auf das sichere Verdeck. Als Jochen mich dort hinstellte, brach ich zusammen; es war zuviel gewesen für den Knaben.

Vier volle Stunden, in eisiger Nacht, in erstarrendem Schneetreiben und heulendem Sturme hatte dieser Kampf zwischen Himmel und Wasser gedauert. Auch grot Jochen und die andern Matrosen waren zum Tode erschöpft und vor Kälte erstarrt. Mit dickbauchiger Flasche trat der Capitain zwischen uns; „de Oll giwt’n Lütten ut,“ ging es durch die schmunzelnde triefende Gesellschaft, und im Vorgenuß der kommenden Belohnung wischte sich Jeder den Mund, ob der Anerkennung verlegen greinend und die bekannte Flasche beliebäugelnd.




Hohe Fluth.
Erzählung von Hans Warring.
(Fortsetzung.)


Diese Beobachtungen hatten in dem jungen Mädchen eine Gemüthsstimmung erzeugt, vor welcher sie selbst oft erschrak. Es hatte sich ein tiefer Groll ihrer bemächtigt, ein Groll, der sich in manchen Augenblicken bis zu leidenschaftlichem Hasse steigerte. Sie konnte nicht mehr unbefangen, wie sonst, die vielfachen Beweise der Großmuth, welche sie von Helene empfing, hinnehmen; sie hatte angefangen, das Mein und Dein strenge zu sondern. Auch an Helenens Wesen, das ihr früher als das Musterbild hoher Weiblichkeit erschienen war, hatte sie begonnen, den Maßstab nicht nur einer strengen, sondern, wie sie sich selbst gestehen mußte, böswilligen Kritik zu legen. Besonders aber war es Helenens Verhalten gegen den Arzt, das sie mit eifersüchtigem, grollendem Blicke überwachte. Während ihr angeborner Gerechtigkeitssinn anerkennen mußte, daß Helene sich stets gleich geblieben war in offener, herzlicher Zuneigung, legte sie ihr dennoch unlautere Motive unter. Sie nannte sie intriguant, berechnend und coquett, und es war gestern nicht zum ersten Male

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 106. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_106.jpg&oldid=- (Version vom 5.2.2019)