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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


flößte ihm kein anderes als ein rein sachliches Interesse ein. Indessen regte das Raffinirte dieser Schurkerei ihn so lebhaft an, daß er dieselbe einen Augenblick wie etwas Gegenwärtiges betrachtete und während des Lesens seiner Müdigkeit vergaß. Erst als er mit dem letzten Blatte zu Ende war, dachte er daran, noch einmal die Daten zu vergleichen. Die Geschichte war eben alt, fast fünfzehn Jahre. C. Frickhöffer, aus dessen vergessenen Papieren Herr Christian Zehren das aufgehoben haben mochte, was ihm bemerkenswerth erschienen, moderte mit zerschossenen Schläfen im Grabe; jener Hendricks war allem Vermuthen nach für immer verschollen, und die unterschlagenen Gelder waren jenseits des Oceans durch tausend Hände gewandert; Hornemann war ja auch todt. Die Sühne des Todes lag über dem Verbrechen. Aber Hornemann – wer war das? Donner kannte die Familie dieses Namens, den wunderlichen Pascha vom Wiedenhofe, welcher als Agent einer Anzahl überseeischer Firmen thätig war, dessen schöne Schwester und die Mutter, welche den Droguenladen am Canal besaß. Stand diese Familie in Beziehung zu dem dunklen Geheimnisse, von dem jene Blätter dort plauderten? War das verstorbene Familienhaupt mit dem Hornemann dieser Briefe identisch? Wenn dies der Fall war, dann lag wohl die Möglichkeit offen, auch hinter die Buchstabenräthsel der angedeuteten Firmen zu kommen.

Aber was für ein praktisches Interesse konnte es haben, ein fünfzehn Jahre altes criminalistisches Räthsel zu lösen, dessen Folgen allem Anscheine nach verwischt waren und wobei es Niemanden mehr zu bestrafen gab?

Donner legte die Briefe getrennt von dem großen Haufen und stöberte, von Neuem seiner eigentlichen Fährte nachgehend, den Rest durch. Die schlafende Frau nebenan in der Kammer beschäftigten mancherlei Morgenträume, und ihre unzusammenhängenden Worte verschmolzen mit dem Knistern der Blätter.

Endlich sprang der Commissar auf und preßte einen Fluch zwischen den Zähnen hindurch: seine Mühe war vergeblich gewesen. Er warf eine Faust voll Briefe nach der andern, sie rücksichtslos zusammenknitternd, in den Kasten, nur die einzigen, welche sich auf den Fall Hendricks’ bezogen, ließ er zurück; zuletzt schlug er den Kasten heftig zu und schloß ihn ab, worauf er eine Weile überlegte.

„Ich behalte diese Briefe,“ murmelte er entschlossen. „Ich werde erfahren, ob sie auf jene Hornemann’s Bezug haben und ob sie zu irgend etwas zu brauchen sind.“ Er nahm die Briefe auf und barg sie in einem Schubfache seines Schreibsecretärs; dann schritt er in die Kammer und schüttelte die Schlafende am Arme, der über den Bettrand herunterhing, bis sie erwachte.

„Bist Du schon aufgestanden?“ fragte sie verwundert, indem sie sich halben Leibes aufrichtete und die Augen rieb.

„Ich will erst schlafen,“ entgegnete er verdrießlich. „Vor sieben Uhr brauchst Du mich nicht zu wecken, Marie; es müßte denn etwas ganz Besonderes passiren. Vorläufig kümmere Dich weiter um nichts, was mich betrifft!“ Er warf sich in voller Kleidung auf die Steppdecke und zog den Mantel über sich. Wenige Augenblicke später verkündigten seine schnarchenden Athemzüge, daß er fest eingeschlafen war. –

Es war bereits acht Uhr vorüber, als sich Donner schon wieder auf dem Wege nach dem „Fuchseisen“ befand, wie der Volkswitz das Polizeigefängniß benannte. Von den Folgen einer durchwachten Nacht spürte er nur wenig; das Nervensystem dieses Mannes schien aus Fäden von Stahl zu bestehen, wie es denn Niemand in der Stadt gab, der da hätte behaupten können, ihn leidend gesehen zu haben. Dennoch war seine Laune keine rosenfarbene. Um vieles deutlicher als in der verflossenen Nacht sah er jetzt im Sonnenlicht, wo die Morgenluft so frisch und nüchtern um ihn wehte, das Voreilige der Verhaftung Zehren’s. Dazu bewegte sich allerlei vor seiner Erinnerung, was die Behörde betraf, vor welcher er diese Verhaftung rechtfertigen mußte. Die politische Gesinnung der städtischen Obrigkeit lag für ihn völlig im Nebel, und das allein genügte, einen stillen Verdacht in ihm aufkeimen zu lassen, der in Worte umgesetzt etwa lautete: Wer nicht für mich ist, der ist wider mich. Aber um diesen Verdacht schossen sofort einige Reminiscenzen an wie Eisenfeilspähne um den Magnet, und wie diese magnetisch werden, so hauchte jene der Verdacht an. Warum war vor Kurzem erst so dringend die Verlegung von Militär in die Stadt abgewehrt worden? Warum hatte man ihn wenige Wochen zuvor plötzlich in einer unbedeutenden Commission nach auswärts gesandt, während er drei flüchtigen Polen so nahe auf den Fersen gewesen? Die einzigen Aufträge, welche sich auf politische Vergehungen bezogen, waren seinem Collegen übertragen worden, der sich ebenso durch bemerkenswerthe Ungeschicklichkeit ausgezeichnet hatte, wie er selber Eifer und Glück zu zeigen pflegte. Warum? Weshalb war er überhaupt nicht beliebt und bevorzugt bei seiner Brauchbarkeit und Pflichttreue?

Er hatte noch nie an die Möglichkeit gedacht, daß die letztere Eigenschaft ihn mit seinen Vorgesetzten in Conflict bringen könnte, und er hätte nicht die Träume von Carrière und Auszeichnung im Kopfe haben müssen, um nicht eine gewisse innerliche Schwüle bei diesen Gedanken zu empfinden. Dieser Zehren im Polizeigefängniß konnte ihm fatal werden, und es war das Klügste, wenn er dessen Entlassung bewirkte und die ganze Angelegenheit vertuschte, bis er zum mindesten besser mit Belastungsmaterial gerüstet war.

Der Entschluß machte ihn ruhiger. Er kam auf den Marktplatz, in das Gewühl eines Wochenmarktes. Während der Duft von frischem Gemüse und Blumen, zwischen die er trat, seine Nüstern streifte und durcheinander wirrendes Schreien und Summen sein Ohr umtönte, spähte er mit übergehaltener Hand nach einem Polizisten, den er hier mit Sicherheit vermuthen durfte. Der nächste war zwischen den Strohhüten und rothen Kopftüchern der Butterweiber sichtbar, und Donner schritt, ziemlich unbekümmert um das Geschick der Waare, durch welche seine plumpen Stiefel sich den Weg bahnten, auf denselben zu. Er gab ihm den Auftrag, sofort den Kasten, welcher in seiner Wohnung bereit stände, in das Zehren’sche Haus abzuliefern. Dann verließ er den Markt, um das Polizeigefängniß aufzusuchen.

Das „Fuchseisen“ war ein schmaler, hoher Bau, dessen Aeußeres ziemlich verwahrlost aussah. Der Kalkbewurf hatte stark von der Feuchtigkeit gelitten; große Stücke waren herausgefallen. In den Fugen der steinernen Fensterumrahmungen und da, wo die Eisenvergitterung in den Stein mündete, hatte sich fettgrünes Moos angesetzt. Der Invalid, welcher den Schließerposten bekleidete und welcher den Commissar durch das Fenster bemerkt hatte, kam Donner entgegen, als derselbe eben die schwere beschlagene Eichenthür aufgedrängt hatte, und grüßte militärisch.

„Was macht der Gefangene, Marquard?“ fragte der Commissar kurz.

„Sehr ehrenwerther Mann; nicht gemuckst, Herr Commissar,“ war die stramme Erwiderung des Freiheitskriegers. „Wollte bei Nacht noch Billet an gewissen Hornemann schreiben; ging natürlich nicht an. Heute Morgen Frühstück besorgt für sein Geld.“

„Es ist gut. Schließen Sie mir seine Thür oben auf und lassen Sie mich allein mit ihm!“ Donner stieg langsam voraus, die schmale steinerne Wendeltreppe empor, und der Alte stampfte ihm nach, sobald er die Schlüssel geholt hatte.

Zehren saß beim Eintritte der Beiden auf einem Holzschemel und blickte durch’s Fenster in den engen Gefängnißhof. Er hatte weder das Geklirr der Schlüssel noch das Knarren der Thür vernommen und gewahrte die Anwesenheit des Commissars erst, als ihm dieser die Hand auf die Schulter gelegt hatte. Sein Aeußeres war etwas vernachlässigt im Gegensatze zu seiner sonstigen Erscheinung, sein schlichtes Haar nur oberflächlich geordnet. Die lichtblauen Augen richteten sich fragend, ohne sichtliche Aufregung, auf den Beamten, der ihm mit einem Anfluge von Verlegenheit zunickte. Zehren griff wieder zu seiner Tafel, während der Schließer die Thür einklinkte.

„Sie sind frei,“ sagte Donner deutlich.

Der Fabrikant hatte dies verstanden, aber die Eröffnung machte durchaus nicht den gehofften Eindruck. „Frei?“ wiederholte er; „frei, ohne Verhör, ohne vor einen Richter gestanden zu haben? Sie scherzen, Herr.“

Der Commissar zuckte die Achseln.

„Auf diese Art Freilassung werden Sie mir erlauben zu verzichten,“ fuhr Zehren sehr kühl fort. „Ich denke, der Richter wird entscheiden, ob ich das Recht habe frei zu sein; ich begehre keine Freiheit von Ihrer Gnade, mein Herr Commissar, nachdem Sie mich gezwungen haben, eine Nacht in dieser elenden Zelle zuzubringen. Ich wünsche vielmehr ein- für allemal einen Verdacht auf Ihrer Seite zu entkräften, der mir eine geheimnißvolle Warnung eingetragen hat.“

(Fortsetzung folgt.)



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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 112. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_112.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)