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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


beschließt, so dürfte dies ergeben, daß Lindau nicht minder vortrefflich schreibt.

Und er ist kein bloßes Kind des Glückes oder des Talentes; Fleiß und Willenskraft haben dieses gefördert und jenes angezogen; er hat von unten auf gedient und als Journalist und Schriftsteller eine so strenge und mannigfaltige Schule durchgemacht, daß der noch so jugendfrische Kämpe fast einem in den Waffen Ergrauten gleicht. Localreporter, Berichterstatter, Correspondent, Feuilletonist, Kunstkritiker, Leitartikelschreiber, Redacteur des Wolff'schen Telegraphen-Bureau, der „Düsseldorfer“ und „Elberfelder Zeitung“, sowie des „Neuen Blattes“, dies Alles ist er gewesen, noch ehe er das dreißigste Lebensjahr hinter sich hatte. Seit seinem fünfzehnten stand er auf eigenen Füßen, als Schüler und Student bereits ein sich selbst helfender Mann. Die „Elberfelder Zeitung“ hat er zu einem unsrer bedeutendsten Provinzblätter emporgebracht, auch in der besonders am Rhein so aufgeregten Zeit der Wahlen zum constituirenden und ordentlichen Reichstage als geschickter Agitator sich erwiesen und häufig den Muth gehabt, stürmischen Arbeiterversammlungen und ihrem Präsidenten von Schweitzer allein entgegenzutreten, dann aber mit der praktischen Politik unwiderruflich abgeschlossen und wiederholte Aufforderungen zur Candidatur abgelehnt. Noch heute ein sehr willkommener Ehrengast bei den Festen des Reichstages, hat er denselben auf seinen früheren Ausflügen und Luftfahrten allen als Berichterstatter begleitet. Lindau ist ein echt deutscher und wahrhaft freisinniger Mann, aber die Formen der Partei beengen ihn und der Lorbeer des Volks- und Parlamentsredners lockt ihn nicht; sein Kranz erblüht in einer reineren Luftschicht. Dagegen kommen jene reichen Erfahrungen dem Redacteur der „Gegenwart“ trefflich zu statten, dem auch die Leiden des Standes nicht erspart geblieben. Der so Bewegliche hat zweimal wider seinen Willen „gesessen“, vor Jahren ein paar Tage als Opfer des Zeugnißzwanges, vor Kurzem ein paar Wochen, auch für einen Anderen und zwar keinen Geringeren als Johannes Scherr, der in der „Gegenwart“ eine Religionsverspottung verübt haben sollte, aber für den Staatsanwalt nicht gegenwärtig war. Der Director von Plötzensee hat Lindau mit dem Zeugniß entlassen, daß er durchaus kein Talent zum „Sitzen“ habe, und noch heute geräth der nervöse Bestrafte in eine unbeschreiblich qualvolle Aufregung, wenn er seiner Gefängnißzeit gedenkt. Material aus der Gegenwart für die Gesetzgebung der Zukunft!

Dem Journalisten und vorzüglich dem Redacteur Lindau war es zunächst gelungen, weithin Ruf und Geltung sich zu verschaffen. Der Schriftsteller ließ 1864 ein Bändchen „Aus Venetien“ erscheinen, Reiseschilderungen, deren Stimmung bis zum lyrischen Erguß sich steigert, und die Verse erwecken fast das Bedauern, daß ihr Urheber diese Jugendsünde für immer abgeschworen. Nachdem er noch unter dem Titel „Aus Paris“ eine Sammlung von Aufsätzen über das kaiserliche Frankreich veröffentlicht, errang er seinen ersten großen Erfolg anonym.

Ein wirkliches Ereigniß waren die „harmlosen Briefe eines deutschen Kleinstädters“, die 1869 in Rodenberg’s „Salon“ abgedruckt wurden; mit jedem neuen wuchs Aufsehen, Spannung und Nachfrage nach dem Verfasser.

Diese Natürlichkeit der Sprache, diese Anmuth der Schilderung, diese neckische Grazie des Witzes, die auch dann noch bezauberte, wenn die Harmlosigkeit längst aufgehört, das Alles war neu, trat aus dem Rahmen des Gewohnten und Gewöhnlichen so vollständig heraus, daß es überraschte, fesselte und den Namen Lindau, als er endlich bekannt ward, mit einem Schlage zu einem allbekannten machte. Er selbst hat seine Schule nie verleugnet.

Lindau hatte nach Beendigung seiner Studien mehrere Jahre in Paris verlebt und dort Eingang in alle maßgebenden Kreise, namentlich die literarischen und gesellschaftlichen, gefunden. Er ist durchaus kein Nachahmer der Franzosen, auch nicht in der äußern Manier; er hat nur ihre Vorzüge so trefflich in sein eigenstes Deutsch übersetzt, daß sie für ursprüngliche gelten können und müssen. Das bei uns leider gewohnheitsmäßig vernachlässigte „Wie“ hat ihm zuerst Anerkennung und Ansehen im Sturme erobert; beide steigen stets höher und begründen sich immer tiefer durch die Erkenntniß der Einsichtigen, daß auch ihm das „Was“ die Hauptsache.

Dies bewies er schon durch seine „Literarischen Rücksichtslosigkeiten, gesammelte feuilletonistische und polemische Aufsätze“, die kurz nach ihrem Erscheinen (1871) vergriffen waren und seitdem wiederholt neu aufgelegt sind. Sie haben viel Staub aufgewirbelt wegen einiger Angriffe gegen namhafte Schriftsteller, die jedoch weder einem Mangel an Pietät noch der Lust am Scandale, sondern dem achtungswerthen Gerechtigkeitsgefühle entspringen, das da, wo es der Sache gilt, auch vor dem Ansehen der Person nicht zurückweicht. Ist doch der Angreifer wiederum der Erste gewesen, die Verdienste der Angegriffenen nach Gelegenheit und Gebühr zu würdigen. Jedes Jahr bringt neue Bücher von Lindau, nach Lage der Verhältnisse meist Sammlungen seiner journalistischen Arbeiten, aus denen er mit strenger Kritik das dauernd Werthvolle auszuwählen versteht. Die „Nüchternen Briefe aus Baireuth“, soeben in neunter Auflage gedruckt, üben noch die frischeste Wirkung und werden sie behalten, so lange jener wunderbaren Tage gedacht wird. Sie erinnern lebhaft an den „Kleinstädter“ und sind bemerkenswerth durch die tactvolle Beschränkung auf literarische und gesellschaftliche Gesichtspunkte bei völliger Schonung, ja Anerkennung der musikalischen Seite des Festes. Die unerbittlichen Schildknappen des „Meisters“ haben Unrecht, sich empört zu zeigen; jeder schwüle Sommerabend führt nothwendig Stiche in seinem Gefolge, die jucken mögen, aber kein Herzblut kosten.

Ganz vor Kurzem hat der Unermüdliche wieder drei neue Werke hinausgesandt. Die „Ueberflüssigen Briefe“ haben, zum größten Theile wenigstens, schon in der „Gegenwart“ durch ihren übersprudelnden Humor das allgemeinste Behagen erregt; „Wie ein Lustspiel entsteht und vergeht“ ladet in reizender Form zu Einblicken in die Dichterbrust und hinter die Coulissen ein, und eine solche Einladung wird niemals ausgeschlagen; von weitaus hervorragenderer Bedeutung aber ist „Alfred de Musset“, herausgegeben von dem verdienstvollen „Allgemeinen Verein für deutsche Literatur“. Berthold Auerbach, dessen neidlose Anerkennung Anderer auf das Bewußtsein des eigenen Werthes sich stützen darf, schrieb an Lindau, daß er sich mit diesem Buche „eine neue, unerschütterliche Position“ errungen habe, und daß „eine solche psychologische Ausgründung“ vielleicht noch niemals dagewesen sei. Durch eine ähnliche Arbeit über Molière hat sich Lindau vor Jahren die Doctorwürde erworben; Verständniß und Würdigung des großen Franzosen in Deutschland immer weiter zu verbreiten, ist ihm wirkliche Herzenssache, und mit schwermüthigem Lächeln schaut die wundervolle Büste Molière's, des eingebildeten Kranken, auf den Schreibtisch des deutschen Freundes hernieder.

Alfred de Musset war auch ein großer Dichter und kein eingebildeter, sondern ein wirklich und schwer Kranker, der lange vorher todt, ehe man den zerfallenen Leib endlich zur Ruhe trug, dessen Name aber unter die ewigen Sterne versetzt ist. Schon Heinrich Heine nennt ihn den ersten Lyriker Frankreichs, und keiner unter allen steht uns Deutschen in der Tiefe und dem Ausdruck des Gefühles näher; dessen ungeachtet ist er in Deutschland nur wenig bekannt geworden, am meisten vielleicht durch einige seiner frühesten Lieder, die Freiligrath mit gewohnter Vollendung übertragen hat. Ein großer Dichter und ein uns verwandter Dichter – gewiß eine so dankenswerthe wie dankbare Aufgabe, und schon die Wahl des Stoffes macht Lindau alle Ehre, die Meisterschaft aber, mit der er die Aufgabe gelöst, den Stoff bewältigt, fordert geradezu das Erstaunen heraus. Er rückt den Dichter und den Menschen in unsere unmittelbarste Nähe; er erklärt den einen aus dem andern mit solch überzeugungskräftiger Folgerichtigkeit, daß wir das unselige Leben auf jedem Schritte begleiten und jene duftigen Blumen, die unter diesen Schritten erblühen, aus den geheimsten Keimen und Wurzeln emporsprießen sehen. Auch die äußeren Einflüsse, die so mächtig auf die Entwicklung des Menschen und des Dichters einwirken: Zeit, Umgebung, Verhältnisse sind geschickt zu dem Hintergrund verwoben, von welchem das Einzelbild sich abhebt. Es ist ein Stück Geschichte, ein Stück Literatur, vor allem ein psychologisches Meisterstück; umfassendes Studium, ehrlichster Fleiß stecken und verstecken sich in diesem Buche. Auch über diesem Werke schwebt der Zauber reizvollster Anmuth; es unterhält und fesselt, während es belehrt. Leichtflüssig strebt die Entwicklung fort; wir lernen das Leben und die Werke des Dichters zugleich kennen, ohne jemals eine Lücke zwischen beiden zu empfinden. Die Nacherzählung der schönsten Dichtung Musset's: „Rolla“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 130. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_130.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)