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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


Weltweiser, der mit der Weisheit nicht blos liebäugelte, sondern sie zum heiligsten Lebensberufe erkor. Nicht wie ein Geschäft hat er die Philosophie betrieben, mit seinen Ueberzeugungen, seinem Leben und Thun hat er sie in völligen Einklang gebracht. So steht er vor uns als ein gefesteter, nach innen wie nach außen ebenmäßiger Charakter, der Sokrates der Neuzeit. Obgleich aber seine Moral, sowohl die, welche er lehrte, wie die, welche er selbst zur festen Richtschnur seines Daseins machte, von den besten Männern für die „reinste und erhabenste“ gehalten wurde, so war dennoch der Name Spinoza’s bei Mit- und Nachwelt als der eines „Religionsschänders“ und „Gottesleugners“ verpönt. Ein ganzes Jahrhundert nach seinem Tode war er sammt seinen Schriften sogar vergessen und verschollen, bis ihn der gewaltige Scharfsinn unseres großen Lessing von Neuem entdeckte und sich das Verdienst erwarb, wieder nachdrücklich auf die eminente Geistesgröße des verfehmten Denkers und auf den Werth seiner Werke hingewiesen zu haben. Seitdem ist die Anzahl der Schriften über diesen Philosophen und über die von ihm ausgegangene Richtung in der Philosophie (den Spinozismus) derart angewachsen, daß man beinahe von einer Spinoza-Literatur sprechen könnte.

Trotz aller Verketzerung war Spinoza ein echter Sohn seiner Zeit, obschon aber die geistige Strömung seines Zeitalters um Kopfeslänge hinausragend. Es war dies die Zeit, wo eine neue Ideenwelt von den knechtischen Anschauungen des Mittelalters sich losrang, die Epoche der Reformation und ihrer Gedankengährung, das erste Aufathmen des modernen Freiheitsgeistes, der alte Bande sprengte und neue Maßstäbe der Prüfung an alles Bestehende legte. Namentlich das eigene Vaterland Spinoza’s gab damals das kühnste Beispiel eines heldenmüthigen Abschüttelns aller politischen und religiösen Fesseln. Der Freiheitskampf der Niederlande, jenes „anziehende Capitel der Weltgeschichte“, wie es noch Goethe und Schillerr zu dichterischem Schaffen begeisterte, hatte sicher auch den nachfolgenden Geschlechtern die Erbschaft des Freimuths hinterlassen. In Holland herrschte seit seiner schwer errungenen Unabhängigkeit wie in keinem andern Staate jener Zeit umfassende Religionsfreiheit, Anerkennung und Vollberechtigung aller Religionen. Das Land hatte unter Spaniens Joch die schwere Hand des Glaubensfanatismus fühlen gelernt; es wählte den guten Theil, als es zum Freihafen aller verfolgten Meinungen und Religionen sich erhob und auch den der portugiesischen Inquisition entronnenen Juden eine Sicherheit gewährende Zufluchtsstätte bot. Aus einer solchen eingewanderten portugiesisch-jüdischen Familie war Benedict von Spinoza – mit seinem jüdischen Namen hieß er Baruch – am 24. November 1632 geboren worden. Seine Vorfahren in der frühern Heimath scheinen zu den vornehmen Geschlechtern gehört zu haben, seine nach Amsterdam geflüchteten Eltern jedoch nahmen hier keine besonders hervorragende Stellung ein. Sein Vater war ein Kaufmann von geringem Vermögen, der aber dennoch seinem vielversprechenden Sohne eine gründliche, obzwar zunächst auf’s Hebräische und Talmudische gerichtete Bildung in der gutorganisirten Lehranstalt der dortigen israelitischen Gemeinde angedeihen ließ. Die von allem öffentlichen Leben ausgeschlossenen Juden erzogen damals ihre Kinder zumeist nur für ihr inneres Gemeindeleben. Die Begabtesten wurden für das einzig erreichbare öffentliche Ehrenamt eines Rabbiners erzogen.

Der Talmud, in dessen besondrer Verehrung und Erforschung der junge Baruch aufwuchs, ist ein eigenartiges Studium, ein sehr dunkler Schacht, in den man tief hinabgestiegen sein muß, um edles Metall herauffördern zu können. Auf der Oberfläche sieht man da nichts als werthloses Gestein und Gerölle, und von Hunderten, die über den Talmud schreiben, hat ihn vielleicht Einer tiefer erfaßt, von Hunderten, die auf ihn schimpfen, hat kein Einziger eine Zeile in ihm gelesen. Der Talmud ist noch heute der großen Welt gegenüber ein Buch mit sieben Siegeln und wird es wohl noch lange bleiben, weil seine tiefere Kenntniß wegen der Knappheit der Ausdrucksweise und des fremdartigen Idioms, besonders aber wegen der ureigenen, bald schwerfällig fortschreitenden, bald kurz nur andeutenden Methode eine ganz besondere Hingabe und Jahre hindurch den angestrengtesten, ausschließlich nur diesem Studium gewidmeten Fleiß erfordert. Verschrobene Menschen macht dieses Talmudstudium allerdings noch verschrobener, aber für geisteshelle Köpfe hat es sich meistens, wegen der Vielseitigkeit des logisch bearbeiteten Stoffes aus den entlegensten Gebieten und den verschiedensten Zeiten, als ein Gedankenwecker und Geisteshebel von ganz besonderer Kraft erwiesen. Die fromme Scheu vor der Göttlichkeit der heiligen Schrift, die darin angeregt wird, hat unser Baruch allmählich abgeschüttelt, aber die Geistesschärfe und Begriffsklarheit, das Erbtheil diesem Studiums, blieb ihm durch’s ganze Leben eigen und hat jedenfalls bedeutend dazu beigetragen, ihn zum vielbewunderten Denker zu machen.

Allerdings damals, als er zu den Füßen seiner frommen Talmudlehrer saß, trübte noch kein Wölkchen religiösen Zweifels des Lehrens und Lernens selige Freude. Die Lehrer fühlten sich mehr als belohnt durch dieses Schülers ungewöhnliche Fortschritte, der Schüler aber war gehoben durch seinen wachsenden Scharfsinn, den schwierigsten Stoff eben so klar wie tief zu durchdringen. Nur ab und zu soll eine überraschende, an Ketzerei streifende Frage des fünfzehnjährigen Knaben seine Lehrer stutzig gemacht haben, aber die gewaltige Gährung in seinem Innern begann erst, als er über das begrenzte Wissensziel dieser Umgebung hinaus in mathematische und physikalische Studien, die zur Zeit in hoher Blüthe standen, wie in die Schriften neuerer und älterer Philosophen, namentlich des jüdisch-mittelalterlichen Maimonides etc., sich vertiefte. Zum Theologen von seinen Eltern bestimmt, hatte ihn noch während seiner eifrigen theologischen Studien ein jüdischer Schriftsteller aus dem zwölften Jahrhundert, ein heller Kopf von tiefem Forschergeiste, Ebn Esra, wegen seiner freisinnigen Ideen ganz besonders angezogen und doch wieder abgestoßen durch die Art, wie er den offenbarsten Ketzereien das Gepräge der Frömmigkeit zu geben verstand. Diese Bemäntelung mißfiel unserm jugendlichen Freigeist, obgleich er seine Seele von den freien Gedanken mächtig ergriffen fühlte. Indem er aber vom Baume der Erkenntniß pflückte, trieb es ihn nun immer weiter weg aus dem Paradiese der Glaubenstreue. Ein unbezwinglicher Reiz stachelte ihn, halb freie, halb verstohlene Blicke in andere Wissenszweige zu thun.

Hierzu aber mußte er zunächst die damalige Literatursprache, die lateinische, gründlich erlernten. Er nahm bei einem deutschen Philologen Privatstunden und vervollkommnete sodann sein classisches Wissen, wie seine naturwissenschaftlichen Kenntnisse bei einem berühmten Arzte und gründlichen Kenner des römisch-griechischen Alterthums, Franz van den Ende. Dieser stand in dem Rufe, auf den Geist seiner zahlreichen Schüler nicht nur durch die Feinheiten der classischen Sprachen, sondern auch durch den Samen des Unglaubens zu wirken. Van den Ende war ein vielseitiger Gelehrter, ein Weltmann und kirchenfeindlicher Freigeist, sein Haus ein Sammelpunkt zahlreicher lernbegieriger Jünglinge und Männer. Vielleicht war es nicht einzig und allein sein reiches Wissen und die tüchtige Lehrkraft, welche Viele an sein Haus fesselten. Er hatte auch eine ungewöhnlich kenntnißreiche Tochter, die ihn, so oft seine ärztliche Berufspflicht ihn vom Hause abrief, in gewandter Weise vertrat. Clara Maria unterrichtete die Jünglinge ebenso geschickt in der Musik wie in lateinischer Stylübung, und obgleich kein weltlicher Blick und Gedanke während des Unterrichts den erforderlichen Ernst unterbrach, sollen doch mit der Zeit lebhafte Regungen anderer Art die Lehrerin sowohl als zwei ihrer Schüler ergriffen haben. Unser streng jüdisch erzogener Philosoph wagte sich wohl anfangs kaum einzugestehen, daß es Liebe sei, die ihn so unwiderstehlich an Blick und Wesen der katholischen Maria gefesselt hielt. Im Uebrigen beweist der höchst elegante neulateinische Styl in allen seinen Werken, daß er bei Erlernung dieser Sprache nicht allzu viel Zeit auf den Liebesrausch verwendet haben kann. Es bestehen sogar Zweifel, ob er überhaupt jemals wirklich eine andere Liebe gefühlt, als die Liebe zur Philosophie.

Das Haus van Ende’s, wo er noch mit andern strebsamen Freunden verkehrte, ist der Rubicon gewesen, wo er den entscheidenden Schritt vom tiefwurzelnden Glauben seiner Kindheit in das freie Gebiet der Vernunftanschauung gethan. Von dieser Höhe ist er nur noch als Gegner in das Lager seiner streng orthodoxen Amsterdamer Glaubensgenossen zurückgekehrt. Seine Eltern und frommen Angehörigen gewahrten bald mit Schmerz den allmählichen Umschlag seiner Gesinnung und seiner Lebensweise, und je höher die Erwartungen in Bezug auf ihn gestiegen waren, desto erbitterter war man jetzt allgemein in seinem israelischen Kreise, als man ihn seine reichen Gaben und Kenntnisse zu einem

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 149. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_149.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)