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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


Die übrigen Anwesenden waren mit neugierigem Erstaunen Zeugen seines auffallenden Benehmens gewesen, ohne den Grund desselben zu ahnen. Die Spannung wuchs, als Urban, vom Fenster zurücktretend, aufmerksam seine rechte Hand musterte.

„Was ist Ihnen denn, Herr Doctor? fragte endlich Toni.

„Sehen Sie hier: die Hexe hat mich gebissen. Ich werde mir künftig die Gutmüthigkeit gänzlich abgewöhnen.“ Er reckte die Hand hin, in deren Fleisch die Spuren der kleinen Zähne tief eingebohrt waren, obschon nicht bis zur Verwundung tief genug. „Das Ehrgefühl dieses hübschen Vampyrs ist für eine Zigeunerin merkwürdig entwickelt.“

„Da sehen wir's ja. Habe ich's nicht vorher gesagt, Fräuleinchen, daß diese Heidin nicht weg gehen würde, ohne ein Unheil angerichtet zu haben?“ murrte der Kutscher, welcher nunmehr gleichfalls den Muth gewann, seinen Platz im Hintergrunde zu verlassen. „Wenn nur der Herr Commerzienrath dazu gekommen wäre, er würde ihr den Marsch schon gepfiffen haben. Und ein Christenmensch darf sich von solch einem verworfenen Geschöpf nicht wahrsagen lassen, wie Saul von der Hexe zu Endor.“

„Sie haben ganz Recht, Johannes,“ bekräftigte Urban, der sich auf die gebissene Stelle hauchte, „und ich habe meinen Lohn dafür schon bekommen, daß ich mich habe verführen lassen. Es ist gewöhnlich so, daß der Verführte die Kosten bezahlen muß, und der Verführer leer ausgeht.“ Dabei fiel ein Seitenblick auf Toni, die etwas verschüchtert zurückgetreten war. „Den Thaler dort mögen Sie zu Ihren Sparpfennigen legen.“

„Mit Verlaub, Herr Doctor, den nehme ich nicht, nachdem ihn das Satanskind in der Hand gehabt hat. Die Künste des Bösen sind von mancherlei Art, und ein Christenmensch soll allerwegen auf seiner Hut sein.“

„So legen Sie ihn in den Opferstock, damit er unschädlich wird, oder tragen Sie ihn zum Armenpfleger!“

„Das will ich thun, aber gleich, auf daß er aus dem Hause kommt,“ brummte der Kutscher, setzte seine Mütze auf, zog die waschledernen Handschuhe auf die Finger und nahm behutsam das Geldstück vom Boden.

„Also es bleibt bei unserer Verabredung, Fräulein Toni?“ fragte Urban und reichte dieser, im Begriffe zu gehen, die unversehrte Linke hin; „und Sie haben die Güte, mir Nachricht zu geben?“

Sie nickte und schlug ein.

Urban schritt hinter dem Kutscher her in den Hof, der in der Mittagsgluth dalag. Die ganze phantastische Scene hatte ihn eigenthümlich berührt, so wenig auch die Prophezeiung des Mädchens ihn kümmerte. Er hatte nicht übel Lust, der Prophetin noch einmal zu begegnen, nur um zu sehen, wie sich dieselbe ihm gegenüber nach dem wunderlichen Attentate benehmen würde. Die Veranlassung dazu war ja gegeben; er brauchte nur den beschriebenen Ruheplatz der Familie aufzusuchen, um nach dem kranken Weibe zu sehen. Zunächst indeß fiel ihm etwas Anderes ein.

Er näherte sich der Thür mit dem Comptoirschilde und trat durch dieselbe in einen schmalen, mit Backsteinen gepflasterten Flur, von welchem rechts eine Thür in das Comptoir, links eine zweite, unmittelbar neben der Dampfmaschine, in die Fabrikräume führte; er wählte die letztere.

Die Maschine stand still; in dem weiten, kühlen Raume war kein Mensch mehr zu erblicken, denn die Mittagsglocke hatte längst geläutet und die Arbeiter waren zum Essen gegangen. Er schritt weiter, auf den entgegengesetzten Flur hinaus, von welchem die Treppe in die oberen Räume führte, und stand im Begriffe hinaufzusteigen, als sich hinter ihm die Thür des Kesselhauses öffnete und das melancholische Gesicht des langen Abraham Fenner erschien.

„Ist Herr Bandmüller schon zu Tische gegangen?“ fragte Urban.

„Zu Befehl, Herr Doctor,“ antwortete der tiefe Baß des Heizers. „Vor ein' zehn Minuten ungefähr.“

„Wenn er heute Nachmittag wiederkommt, so können Sie ihm sagen, daß er diesen Abend, sobald er von der Arbeit frei ist, mich besuchen soll. Ich hätte Wichtiges mit ihm zu besprechen. Hören Sie, Fenner?“

„Will’ schon bestellen.“




12.

Urban ging hinaus.

Die heißen, blendenden Straßen waren jetzt, um die Mittagszeit, doppelt öde. Der glühende Staubdunst wirbelte um die Gestalt des rasch Dahinschreitenden; das Erdreich in den Fugen des Pflasters klaffte wie lechzend, und das spärliche Gras, welches sich in der Nähe des Rinnsteins und unter den Dachtraufen angesiedelt hatte, hing vergilbt und verdorrt. Aus den Häusern quoll häßlich der Speisedunst, und Urban, um ihm zu entgehen, drückte den Strohhut tief in das Gesicht und suchte die Mitte der Straße auf.

Endlich bog er in eine schattige Quergasse, und sein Auge gewahrte hier in einiger Entfernung eine Polizei-Uniform, als deren Träger der Arzt den Commissar Donner erkannte. Er beschleunigte seine Schritte, und sobald er in die Nähe des Commissars gelangte, begann er halblaut zu singen:

„Der Vogelfänger bin ich ja,
Stets lustig, heisa, hopsasa.“

Donner drehte sich herum, und sein zorniges von der Hitze geröthetes Gesicht hellte sich nur wenig auf, als er den Sänger erkannte.

„Mit Ihren niederträchtigen Spottversen, Doctor! Es würde mir sehr lieb sein, wenn Sie sich das abgewöhnen wollten.“

„Mein Himmel,“ versetzte Urban mit der Miene gekränkter Unschuld, „was wollen Sie wieder? Sie haben eine fatale Manier, Alles auf sich zu beziehen – das müssen Sie zugeben, Donner. Man kann den harmlosesten Vers singen, gleich finden Sie etwas darin, was wie Spott aussieht. – Nichts Neues sonst?“ fuhr er zutraulich fort; „keine frische Demokratenfährte?“

„Die Jagd ist mir verleidet,“ meinte Donner mürrisch, als er Urban dicht neben sich hatte. „Ich wollte, daß ich die Zehren’sche Angelegenheit erst verdaut hätte. Diesen Aerger danke ich Ihnen allein mit Ihren dummen Winken; ich glaube nicht einmal mehr, daß der Mann seine Taubheit blos heuchelt.“

„Warum das?“

„Ich bin ein Narr gewesen, daß mir die Idee nicht schon früher gekommen ist: der Mann, der ihm die Warnung geschrieben hat, war sicherlich Einer, der um Zehren’s Gehör Bescheid wußte.“

„Das ist gar nicht nothwendig,“ entgegnete Urban. „Im Uebrigen, geschätzter Freund – nehmen Sie mir das nicht übel! – sind Sie viel zu hitzig vorgegangen. Es fehlte jede gehörige Vorbereitung. Ich hätte zum Beispiel zuvor vierzehn Tage lang auf der Post seine sämmtlichen Correspondenzen untersucht. Ich möchte eine Wette darauf eingehen, es ist nicht alles unschuldig, was er schreibt und was er empfängt. Sie haben in seinem Hause nur das richtige Nest nicht gefunden; auf der Post gehen Sie sicherer, – Sie wissen ja, wie man das macht; das Siegel in Thon drücken und so weiter.“

„Sie haben Ideen, Doctor, das ist nicht zu leugnen,“ sagte der Commissar, den dieser Einfall sichtlich beschäftigte. „Apropos, wissen Sie schon, daß am Sonntag vor St. Kilian großer Empfang des Abgeordneten Herrn vom Rath sein wird?“

„Keine Silbe weiß ich; also er kommt zurück? Und wer wird den Empfang veranstalten?“

„Verstellen Sie sich doch nicht! Sie wissen so gut wie ich, daß das Ganze ein Demokratenstückchen wird. Natürlich wird eine Ehrenpforte gebaut und Hurrah! gerufen und ich – ich“ – fügte der Commissar zähneknirschend hinzu – „kann nichts daran ändern, denn Jemand Hochmögendes hier will ja durchaus nicht, daß wir Militär kommen lassen. Ich werde es mit ansehen müssen, daß sie mit schwarz-roth-goldenen Fahnen angezogen kommen, vielleicht gar hören müssen, wie sie die Marseillaise singen. Es wird immer besser; mich wundert nur, daß nicht der ganze Magistrat in corpore dem schwarz-roth-goldenen Bruder entgegen fährt. Aber wenn ein gewisser Jemand nach Berlin berichtet, so wird ihm dort Alles geglaubt. Was kann Unsereiner dagegen thun? Nur Eins freut mich: ich werde bei dieser Gelegenheit wenigstens erfahren, was für Volk sich dabei zu betheiligen den Drang fühlt. Ich werde eine hübsche Liste bekommen. Halten Sie es für möglich, daß man nicht einmal nöthig gefunden hat, mir die Namen der Haupträdelsführer zu nennen?“

(Fortsetzung folgt.)
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