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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


Freiheiten geknebelt hatte, nicht sehr wirksam sein; von um so größerer Wirkung waren aber seine Angriffe auf die äußere Politik Napoleon’s, welche den großen Blick, die hohe staatsmännische Begabung des kleinen Thiers wieder glänzend erhärteten. Er verdammte die äußere Politik des Kaiserreichs in Bausch und Bogen und in allen Details, und sobald derselbe zu einer neuen That ausholte, erhob sich drohend Thiers.

Er war ein Gegner des italienischen Krieges, ein Gegner der Einigung Italiens, da er eine Schwächung Oesterreichs zugleich als eine Schwächung Frankreichs ansah; er trat mit aller Energie gegen die mexicanische Expedition auf – nach der Schlacht von Königgrätz betritt er, vor Aufregung bleich und zitternd, die Tribüne und stößt den Angstschrei aus: „Wir können keinen Fehler mehr begehen.“ Und als 1870 die Kammer mit dem Säbel zu rasseln und ihr Kriegsgeschrei anzustimmen beginnt, da erhebt sich der Greis mit der vollen Energie seines Wesens, mit der ganzen Leidenschaftlichkeit seines Temperaments, verjüngt und gestärkt, und warnt, bittet und beschwört die Kammer, einzuhalten, und sich nicht in eine wilde Kriegswuth hineinzureden; unter dem Gebrüll der Kammer-Mameluken, dem Geheul, Gejohl und den Beschimpfungen des Galerie-Pöbels in Frack und Cylinder und den Insulten und Drohungen der vor seinem Hôtel angesammelten, als Arbeiter verkleideten Mouchards, uneingeschüchtert, ungebeugt, ein Feldherr ohne Armee, kämpft er todesmuthig, bis er zuletzt erschöpft mit den Worten schier zusammenbricht: „Beleidigen Sie, schmähen Sie mich, legen Sie Hand an mich – ich bin ein Greis und stehe am Rande des Grabes: aber ich bin bereit, Alles zu erdulden, um das Blut meiner Mitbürger zu vertheidigen, das Sie so leichtsinnig und gewissenlos vergießen wollen – es kommt ein Tag, und er ist nicht ferne – ich weiß es – wo Sie furchtbar bereuen werden, was Sie jetzt beginnen.“

Am 4. September legte Thiers der Kammer das Project vor: eine gemischte Commission aus Mitgliedern der Regierung und der nationalen Vertheidigung zu ernennen und sofort eine constituirende Versammlung einzuberufen. Doch es kam nicht mehr zur Abstimmung darüber – es war der letzte Tag des Kaiserreichs; die Dynastie war gestürzt; die neue Regierung wurde proclamirt. Aber nicht alle Deputirte waren mit diesem Gewaltacte einverstanden; noch am Abende des 4. September vereinigte sich ein Häuflein, darunter Girault Buguet, Pinard, Saint-Germain u. A., um gegen den „schmählichen Gewaltact“ zu protestiren, und es wäre vielleicht schon damals zu einer Contre-Revolution und einer gegenseitigen Abschlachtung in Gegenwart des Feindes gekommen – da gelang es Thiers, als Präsident der Versammlung gewählt, in einer wunderbaren, von Thränen und Aufregung halb erstickten Rede, deren Refrain stets „Hannibal ante portas“ war, zur Resignation zu bewegen. „Ich bin ein Feind jeder Gewaltthat, und ich mißbillige auch die, deren Zeuge wir heute sind, sowie ich stets gegen jede Vergewaltigung der Kammer war und sein werde, aber heute ist nicht der Tag der Anklagen und Beschuldigungen. Heute keinen Protest, heute keinen Kampf, keine Feindseligkeiten, keine Schwierigkeiten der provisorischen Regierung, denn der Feind steht vor den Thoren,“ rief er beschwichtigend aus.

Aber Thiers begnügte sich nicht mit der Resignation. Angesichts der Gefahr des Vaterlandes fühlte er sich nur als Franzose; er bot der neuen Regierung seine Dienste an. Sein Passionsgang zu den Höfen, um ihre Intervention zu Gunsten Frankreichs zu erringen, ist bekannt.

Siebenundzwanzig Departements wählten Thiers in die Nationalversammlung nach Bordeaux, die ihn zum Chef der Executivgewalt erwählte. Am 1. März legte er die Versailler Friedensbedingungen der Versammlung vor; der Mann, welcher den Friedensvertrag von Luneville für ein Meisterstück, ebenso hoch stehend durch seine Weisheit wie durch seine Mäßigung, erklärt hatte, mußte jetzt für den Frankfurter Frieden eintreten. Mit fünfhundertsechsundvierzig gegen einhundertundsieben Stimmen nahm die Versammlung nach einstündiger Berathung den Frieden an, und drei Tage später verließen die Deutschen Paris, und die Nationalversammlung siedelte nach Versailles über.

Jetzt galt es, die Commune niederzuwerfen. Thiers war glücklich, das große Feldherrntalent, welches er seit seinen Studien für die Geschichte des Kaiserreichs in sich fühlte, endlich an den Mann bringen zu können; aus den Ueberresten der Armeen von Metz und Sedan bildete er eine streitbare Armee, „die schönste, welche Frankreich je besaß,“ rief er selbstgefällig aus; den Oberbefehl überließ er aber doch Mac-Mahon, und so begann die „zweite Belagerung“ von Paris, und während die deutschen Truppen die nordöstlichen Forts von Paris besetzt hielten, bombardirten die französischen ihre „einzige Stadt“ von den durch die Deutschen angelegten Parallelen aus, durch sechsundvierzig Tage hindurch. Aber nur der Verrath führte sie hinein. Thiers hielt furchtbare Musterung in der besiegten Stadt; ungefähr fünfzigtausend Socialisten wurden gefangen, erschossen, deportirt, und stets von Neuem begann die blutige Jagd auf Communisten; die Nationalversammlung votirte Thiers den Dank des Vaterlandes und ernannte ihn für die Zeit ihrer Dauer zum Präsidenten der Republik.

Wie früher die tief unterschätzte Verproviantirung von Paris in Erstaunen setzte, so jetzt der ungeahnte Reichthum und die bewunderungswerthe Willfährigkeit des Landes; die Subscription für die drei Milliarden zählt am Tage ihrer Eröffnung bereits einundvierzig Milliarden. Aber am 24. Mai 1873 bricht der Kampf zwischen den Monarchien und den Republikanern in der Nationalversammlung, der durch den „Vertrag von Bordeaux“ nur hinausgeschoben war, in offene Fehde aus. Durch den Herzog von Broglie herausgefordert, betrat Thiers nochmals die Tribüne und sagte offen, daß unter den gegebenen Verhältnissen die conservative Republik die einzig mögliche Regierungsform für Frankreich sei, die Majorität der Versammlung aber, welche die Monarchie fordere, möge nicht vergessen, daß Frankreich drei Dynastien und nur einen Thron zur Verfügung habe.

Nachdem die Nationalversammlung die von der Regierung geforderte einfache Tagesordnung verworfen, forderte Thiers seine Entlassung.

Als Thiers, ein dreiundsiebzigjähriger Greis, die Präsidentschaft übernahm, lag Frankreich aus allen Wunden blutend. Seine eigenen Söhne zerfleischten sich; sein Boden erdröhnte vom schweren Tritt der Feinde; eine Kriegsschuld, schier unerschwingbar, lastete auf ihm; Handel und Wandel standen still, ein Bild des Jammers, des Mitleids und Entsetzens, und als er jetzt herabsteigt, haben die Sieger das Land geräumt; die Kriegsschuld ist abgetragen; wieder rauchen die Schlote der Fabriken, und ihre Hämmer arbeiten, und Frankreich beginnt, wenn auch noch schwach – wie nicht anders möglich nach solchen Blutverlusten – sich langsam wieder frei aufathmend zu erheben.

Selten hat das Schicksal einem Menschen so aufgespielt wie dem Thiers; er scheint verdammt, Alles, was er in seinem Leben ersehnt, erstrebt, erkämpft – bekämpfen und zerstören zu müssen, sobald es zur That wird. Ein Saturn im Frack! Er, der überzeugungstreueste Anhänger der constitutionellen Monarchie, ihr glänzender Vorfechter während der Restauration, hat wie Keiner der Revolution und dem zweiten Kaiserreich vorgearbeitet; die Asche Napoleon’s, welche Louis Philipp auf Thiers’ Antrieb von St. Helena[WS 1] zurückbrachte, war lange noch nicht verglommen, und Thiers selbst blies sie zu neuer Flamme auf; die schwarz drapirte, trauerbeflaggte Barke, in welcher der Prince von Joinville die Leiche Napoleon’s die Seine heraufschiffte, war der Sarkophag des Juli-Königthums – und als endlich das Kaiserreich hereinbricht, schreit er Alarm, und als es fertig ist, bekämpft er es unermüdlich, leidenschaftlich, zerstörungswüthig; er, der einst so laut mit dem Säbel rasselte und im Jahre des Becker’schen Rheinliedes nach Deutschland marschiren wollte, muß gegen den Krieg mit Deutschland in die Schranken treten – er, der den Frieden von Luneville als einen Act der weisen Mäßigung bewundert hat, muß den Frieden von Frankfurt abschließen und den Franzosen mundgerecht machen – er, der einst Paris in eine Festung gegen die Deutschen wandelte, muß sie in ihrer Gegenwart erstürmen und sein Paris zusammenschießen.



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Elba, vergl. Berichtigung in Heft 14.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 186. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_186.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)