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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


Er schielte seitwärts nach dem Berge hinüber, konnte aber keine Spur von Zigeunern entdecken. Sollten diese schon weiter gezogen sein?

„Ich hörte heute, daß hier draußen eine Zigeunerfamilie sich gelagert hätte,“ warf er hin. „Die Familienmutter sollte krank sein, und da ich einmal hier bin, so hätte ich nach dem Weibe sehen können. Aber ich sehe die Gesellschaft nirgendwo.“

„Das wäre für hiesige Verhältnisse ganz romantisch,“ versetzte Bandmüller, der plötzlich wieder lebendig wurde. „Wir müssen die Gegend einmal untersuchen.“

Der Berg ging an der Stelle, bis zu welcher die beiden Nachtwandler gelangt waren, hart an die Chaussee vor, sodaß die Pappeln sich fast an die glatte Wand lehnten. Kurz vor der Schmiede trat derselbe indeß mit rascher Einbiegung zurück, sodaß nur eine niedrige Wandung, einer Lehmmauer ähnlich, hinter den Bäumen entlang lief. Es wuchs massenhaft Teufelszwirn auf dem Kamme, wie man an dem niederhängenden Gewirr der Zweige selbst in der Dunkelheit erkennen konnte.

Kaum waren die Zwei ein Stück an dieser Wand hingegangen, so hörten sie hinter derselben vernehmlich Knurren, dann ein scharfes Gekläff und zugleich eine menschliche Stimme, welche besänftigende Worte zu reden schien.

„Oho, wir sind auf der Fährte,“ sprach Bandmüller. „Der Platz ist gut gewählt – das muß man sagen.“ Damit schritt er um die Ecke der Mauer, welche plötzlich abschnitt.

Es zeigte sich, daß man den Berg von der Schmiede aus abgeräumt hatte, sodaß eine nicht unbeträchtliche Ausschachtung entstanden war; die niedrige Mauerflucht an der Chaussee hatte man stehen lassen. An dieser geschützten Stelle stand in der That der Wagen der Zigeuner.

Das Pferd lag neben der Stange abgesträngt auf dem Boden. Hinter dem quergestellten Gefährt konnte man ein helles Feuer erblicken; unter dem Wagenboden hing eine Art Hängematte, in welcher nach Urban's ausgesprochener Vermuthung den jüngeren Sprößlingen der Familie ihr Nachtquartier angewiesen sein mochte. Zwei Hunde, welche man an die Räder gebunden hatte, knurrten die Ankommenden mißtrauisch an und ließen sich auch durch das leise Zischen einer Gestalt nicht beruhigen, welche sich von drüben spähend unter den Wagen bog.

Als die Beiden den Wagen umgingen, kroch diese Gestalt zurück, und sie sahen, daß es ein junger Bursche war mit unverfälschtem Zigeunertypus. Er lag halben Leibes aufgerichtet zwischen dem Feuer und dem Wagen im Grase und starrte neugierig auf die unerwarteten Gäste. Jenseits des Feuers, über welchem an drei zusammengestellten Stangen ein Kessel hing, war eine zweite Männergestalt sichtbar, welche, platt ausgestreckt, sich um nichts zu kümmern schien. Unmittelbar vor dem Doctor und seinem Begleiter aber kauerte die braune Juschka, das Gesicht mit einer halben Wendung auf Urban gerichtet, dessen Anblick sie völlig gelähmt zu haben schien. Das schwarze, schlichte, glänzende Haar war von dem Kopftuch befreit; ihren Oberkörper umhüllte lose nur das Linnenhemd und die vollen Schultern schimmerten im Wiederschein der Gluth wie Goldbronze.

Nur ein paar Secunden saß sie, tiefe Angst im Antlitz, unter dem Banne der Ueberraschung gefangen. Plötzlich, noch ehe einer der Beiden Zeit fand ein Wort zu sprechen, schnellte sie mit der Elasticität einer Schlange vom Boden auf und sprang, einen schwachen Schrei ausstoßend, zwischen ihnen hindurch, indem sie Bandmüller's ausgesteckten Arm bei Seite schlug; sie flog dann in der Richtung zwischen der Schmiede und dem Berge hin, wo sich im Dunkel übermannshohes Gebüsch hinzog, und lautschallend folgte ihr das heulende Gebell der beiden Köter.

„Eine Zigeunerschönheit, eine echte Zigeunerschönheit!“ rief Bandmüller; „ich will Ihnen das braune Schätzchen einfangen, Herr Doctor.“ Und blitzschnell rannte er hinter der Flüchtigen drein. Seine schweren Schritte hallten von der Bergwand wieder; aus der Entfernung konnte man das Knacken und Knistern des Gehölzes vernehmen, welches die Zigeunerin erreicht hatte; endlich waren die zwei Gewalten im Dunkel der Nacht verschwunden.

Die beiden Zigeuner waren aufgesprungen und standen mit feindlichen Blicken neben Urban. Das krause, zottige Haar des älteren zeigte schon Spuren von Grau.

„Beruhigt Euch!“ sagte Urban, indem er furchtlosen, stolzen Auges die fremdartige Nachbarschaft musterte; „es wird dem Mädchen nichts geschehen. In wenigen Minuten, denke ich, soll mein Begleiter sie Euch wieder zuführen. Ich bin Arzt und hörte, daß Ihr eine Kranke im Wagen habt; vielleicht kann ich ihr mit meiner Kunst helfen.“

Die zwei Männer tauschten beredte Blicke aus und wechselten ein paar Mal Rede und Gegenrede in einer dem Doctor unverständlichen Sprache. Dann ging der Jüngere rasch, an diesem vorüber, in der nämlichen Richtung davon, welche die braune Juschka und ihr Verfolger eingeschlagen hatten.

Das Wasser im Kessel schäumte zischend über, und der Alte nahm das Gefäß vom Gestell herunter und setzte es auf den Boden. Urban sah dem Manne schweigend zu; sein Auge fiel seitwärts auf die Hängematte, in welcher es sich regte. Drei schwarze, blitzende Augenpaare schielten verstohlen zu ihm herauf; das Ganze sah aus wie ein Nest voller junger Vögel, welche ein Knabe erschreckt hat.

In diesem Moment ließ sich im Wagen eine klagende Stimme vernehmen. Der Zigeuner ging rasch zum hinteren Theile desselben, löste eine Schleife vom Pflock und schlug die Plane ein wenig zurück. Das krampfhafte, blasse Gesicht eines Weibes wurde sichtbar, vom flackernden Schein der Flamme überflogen. Der Alte begann mit seiner tiefen, heiseren Stimme in abgebrochenen Sätzen zu erzählen, von schwachen, jammernden Interjectionen der Kranken begleitet. Urban verstand wieder von alledem nichts; er sah nur, daß zuletzt von ihm die Rede war, denn die Augen der Frau, welche tief eingesunken waren, hefteten sich auf ihn.

„Laßt mich die Kranke untersuchen!“ sprach er, in die Mitte des Wagens hinübertretend, sodaß ein breiter Streifen Beleuchtung zwischen seinem Schatten und demjenigen des Zigeuners blieb. „Wie lange ist Euer Weib leidend?“

„Schon seit ein paar Monaten, Herr.“

„Gebt mir die Hand, Frau!“

Der heftige Fieberpuls und ein kurz darauf folgender Hustenanfall sprachen für den erfahrenen Arzt deutlich genug. Er legte die abgezehrte Hand, die er in der seinen hielt, auf die Lumpen zurück, zwischen denen die Kranke lag.

„Es ist gut,“ sagte er; „kommt ein paar Schritte mit mir, Mann!“

Der Zigeuner folgte ihm hinter den Wagen. „Die Frau muß sterben,“ sagte er halblaut. „Fahrt nicht so viel mit ihr herum, sondern sucht Euch einen ruhigen Platz aus, wo Ihr bleibt, bis Alles vorüber ist! Es kann nur ein paar Wochen noch dauern. Werft Alles von Euch, was Ihr an Hoffnung noch übrig habt!“

Der Alte stöhnte aus tiefster Brust.

Urban griff in die Tasche und zog seine Börse, aus welcher er unbesehen einen Theil des Inhaltes auf seine Hand schüttete und dem Alten hinreichte, der sich blitzschnell bückte und den Rockzipfel des Arztes an die Lippen drückte, ehe dieser es verhindern konnte.

„Kauft ihr, was ihr Freude macht! Es ist traurig sterben zu müssen, ohne das Leben genossen zu haben.“

Eine Gestalt bewegte sich langsam auf sie zu; es war der junge Zigeuner. Urban wurde unruhig, denn der Alte sprang mit lebhafterer Bewegung, als er bisher gezeigt, auf die Seite und vertrat ihm den Weg, und der Arzt meinte die Augen desselben im Dunkel zornig funkeln zu sehen. Ein heftig hervorgesprudelter Zuruf, welcher dem Ankommenden galt, wurde von diesem mit kurzer Rede beantwortet, und es schien, daß diese Beruhigendes enthielt, denn der Zigeuner wandte sich seitwärts und ließ den Doctor passiren.

Dieser erreichte mit wenigen Schritten die Chaussee und sah sich um, aber von Bandmüller war nichts zu entdecken. Er schwankte einen Augenblick kopfschüttelnd, ob er ohne denselben zur Stadt zurückkehren oder im Weitergehen dessen Ankunft erwarten sollte, und die Begierde zu erfahren, welchen Ausgang die Verfolgung des jungen Geschöpfes genommen, entschied für das Letztere.

Er ging zwischen den Pappeln hin, an der Schmiede vorüber, in welcher der Hammerschlag verklungen war und vor welcher der dunkel-verworrene Haufe von Geräthschaften ihn gespenstisch anblickte. Ein Stück hinter der Schmiede rückte das Gebüsch an den Weg, und die Blätter regten sich leise im Lufthauche, während zur Linken das stille Rieseln und Rauschen des Flusses klang. – –

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 191. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_191.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)