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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


war und sich in Wolkenballen auflöste, deren Ränder das Mondlicht säumte. Abgerissene Töne der Nachtigalltriller klangen aus dem Walde zu ihm herüber.

Er blickte sich nach dem Ruder um, das er weggeworfen hatte; es schwamm weitab seitwärts; die Strömung entführte es nach einer völlig andern Richtung als den Kahn. Dann spähte er an der Linie der Ufer hin und über die glänzende Fläche des Flusses, als ob doch in ihm der Wunsch nach Rettung erwachte, und als er nichts gewahrte, außer daß die Entflohene dem Ufer nahe war, beugte er den Kopf und versank in dumpfes Brüten.

Emilie war in der That in den Schatten der Uferbäume gelangt; ihre Brust keuchte und ihre Kraft war dem Erliegen nahe, aber die Geistesgegenwart hatte sie keinen Moment verlassen. Am Ufer stand Harro und hielt ihr mit begeistertem Zuspruche eine lange Stange entgegen, welche er irgendwo aufgetrieben hatte; sie erfaßte dieselbe mit beiden Händen, und er mußte sie bis zum Rande hin ziehen, denn das Wasser hatte auch hier noch über Mannestiefe. Dann sank er auf die Erde, nahm ihre bloßen Arme und zog sie zu sich hinauf. Einen Moment hielt er das schöne Mädchen, welches todtenblaß war und schwer athmete, an seiner Brust, und ein Schauer durchrieselte den starken Mann bis in's Mark.

„Nun habe ich eine Nixe im Mondscheine schwimmen gesehen,“ sagte er mit heimlichem Jubel. „Aber was ist geschehen? Wer ist der Schuft, der dort in den Tod treibt? Stützen Sie sich auf mich! Wir müssen Ihre arme kleine Freundin aufsuchen; ich glaube, daß sie zehn Minuten von hier im Grase liegt und ohnmächtig ist.“

Emilie hatte ihre Kraft wiedergefunden und drängte ihn ängstlich zurück. „Retten Sie ihn!“ stieß sie hastig hervor, „um Gotteswillen! Sie müssen eine Möglichkeit finden; es ist die höchste Zeit: er darf nicht sterben. Hier unten, hundert Schritt weiter hinter dem Gestrüpp, liegt noch ein Kahn. Ich habe ihn gesehen. Eilen Sie – helfen Sie.“

Der Friese eilte davon, und kurz nachher klang eine Kette in der Richtung des Weidengebüsches, und ein zweiter Kahn glitt pfeilschnell in den Mondschein hinaus. Zugleich rauschten Kleider auf der andern Seite, und kaum im Stande, sich aufrecht zu halten, schwankte Toni herbei und stürzte der Freundin zu Füßen, deren Kniee sie krampfhaft schluchzend umfaßte.

„Milli, er muß ja sterben,“ stöhnte sie, „er wird hinabstürzen wie der Knecht und die Wasser werden sein schönes, edles Gesicht gegen die gräulichen, schwarzen Zacken schleudern daß es zerschmettert wird und daß sie ihn bei der Brücke als Leiche herausziehen. Ach, und ich liebe ihn so sehr, viel mehr als Du, ich habe mir nur nichts davon merken lassen, denn ich weiß, daß ich ihm ganz und gar gleichgültig bin, und daß er nur Dich anbetet, die jetzt gar nichts mehr von ihm wissen will. Jetzt darf ich es Dir sagen, wo ihn die tückischen Wasser schon haben, gegen die er sich gar nicht wehren kann; denn ich habe wohl gesehen, daß er das Ruder von sich geworfen hat. Ach Gott, wenn ich nur beten könnte, aber es liegt mir Blei im Kopfe. Ich glaube es nicht, daß ihn Dein Freund im Kahne dort noch erreichen wird – siehst Du, wie weit sie noch von einander sind, und er hat nur ein kleines Stückchen noch – da – Milli – Milli – –“

Ihre Arme lösten sich schwerfällig von den Knieen der Freundin, und sie sank dieser in tiefer Ohnmacht vor die Füße. Emilie warf nur einen Blick nach dem Falle hin; dann kauerte sie sich auf dem feuchten Boden nieder, die Hände vor das Gesicht drückend und leise ächzend: „Engel des Himmels, steht ihm bei – –“

Urban hatte das Erscheinen des zweiten Kahnes bemerkt; er maß die kurze Strecke Wassers, die ihm noch zu durchmessen blieb, und murmelte: „Vergebliche Mühe!“ Er blickte vorwärts und sah das Wasser pfeilschnell sich bäumen wo es hinter das Profil des Falles tauchte. Sein Gesicht wurde feucht; der Wasserdunst rieselte auf seine Haut.

„Rettung!“ sagte er heiser; „es ist doch kein rechter Grund vorhanden, warum ich jetzt dem Nichts in den Rachen springen soll.“

Er fühlte, wie seine Kehle ausgetrocknet war und wie ein leichter Schauder über ihn kam.

„Ruhig! Nur kaltes Blut behalten!“

Noch eine Secunde.

In dem Dunst vor ihm tauchte zwischen den sich überstürzenden Wassern etwas Dunkles auf und unter; es war eine Klippe. Mit einem heftigen Ruck flog das Fahrzeug dagegen und drehte sich in halber Wendung, und der verlorene Mann im Kahne griff plötzlich, sich hinausbeugend, mit beiden Armen um das Felsstück. Der Kahn schoß unter ihm hinweg, nicht ohne seinen Körper mit sich hinüber zu reißen, und schlug dann im Sturz um. Urban hing einige Augenblicke; er versuchte in die Tiefe zu blicken, um sich zu orientiren, aber Sturzwellen flutheten plötzlich über ihn hinweg und beraubten ihn des Gesichts und des Athems. Eine ungeheure Kraft drängte unablässig gegen ihn und schleuderte seinen Körper herüber und hinüber, wie der Wind ein Stück Wäsche an der Leine. Unter ihm brüllte und zischte es; er vernahm hohle, seltsame Töne, ein melodisches Murmeln und Singen dazwischen, welches die Wirbel in den Klippenhöhlen und Löchern verursachten.

Zuletzt ließ er den Anhaltspunkt fahren, und die Sinne schwanden ihm. –

Der Friese war auf halbem Wege umgekehrt; er hatte alle Kraft vonnöthen um dem Strome Widerstand zu leisten, und landete ein gutes Stück unterhalb des Ausfahrtplatzes. Als er den Kahn wieder an den Pfahl befestigt hatte, nachdem er ihn bis zu demselben stromaufwärts gezogen, stand er ein Weilchen still. Ein heimliches Bangen beschlich ihn vor dem Gedanken, zu den beiden Mädchen zurückzukehren, welche eine so leidenschaftliche Theilnahme an dem Schicksale des Unglücklichen gezeigt hatten, den er nicht hatte retten können. Wer war dieser Mann gewesen, dieser – glückliche Unglückliche? Jetzt erst kam ihm das Räthsel der Scene, deren Ausgang er mit angesehen hatte, zum vollen Bewußtsein: ein einzelner Mann im Kahne, – von den beiden Freundinnen nur die schöne, ernsthafte Milli Hornemann bei ihm, während die andere ohnmächtig am Ufer lag, – endlich sie, deren Brust er noch an der seinigen athmen zu fühlen meinte, deren nixenhaft blasses, schmerzlich flehendes Gesicht er mit heißer Empfindung dicht vor sich sah, wie er zuvor gesehen, sie, die verzweifelte Flucht durch das tückische Element wagend, während der Mann im Kahne ruderlos in den Tod trieb – was hatte das zu bedeuten?

Alles in allem: welch ein Empfang wartete seiner, wenn er wieder vor Milli Hornemann trat?

Der blonde Friese war eine viel zu gesunde Natur, um länger als eine Minute sich vor dem Anblick von Schmerzausbrüchen zu fürchten. Aber eine andere Empfindung hielt länger vor: ein heimliches eifersüchtiges Brennen und Nagen in seiner Brust, die leise Bitterkeit einer Enttäuschung. Die klare, edle Gestalt des jungen Mädchens, die ihn inmitten der Idylle der Erlenfuhrt so frei und harmonisch angemuthet hatte, die er hier gefunden wie eine einsame Sonne unter dunkeln Planeten, war plötzlich mit der Außenwelt verknüpft. Ein Nachtstück menschlichen Lebens forderte sie zu sich; finstere Geister der Leidenschaften hingen sich an ihre Ferse und starrten ihn fratzenhaft an. Während der Zeit ihres gemeinsamen Genießens in der traulichen Einsamkeit dieses Erdenwinkels war es ihm allmählich geworden, als gehörten sie Beide zu einander, als ginge sie die übrige Welt nichts an. Und nun war die Täuschung zerrissen; es gab – vielleicht besser: es hatte einen andern Mann gegeben, mit dem ihre Vergangenheit verknüpft war.

Hatte sie diesen Mann geliebt?

Er dachte einen Augenblick daran, in das Wirthshaus zu gehen und seine Tasche zu packen, um in aller Stille und so schnell wie möglich seine Kometenirrgänge durch die Welt fortzusetzen; er verspürte den Trieb, die ganze Nacht hindurch zu wandern. Aber da durchrieselten ihn wieder die süßen Schauer, die er vorhin empfunden, und erst langsam, dann schneller schritt er hinter den Uferbäumen hin, der Stelle zu, wo er sie verlassen hatte.

Plötzlich fuhr er aus seinem Brüten auf. Er war zuletzt lautlos in weichem Grase gegangen und befand sich kaum zehn Schritte von den Mädchen entfernt. Emilie stützte die todtmatte Toni, welche einen Moment aufschluchzte und dann schwieg, um kurz darauf wieder zu schluchzen.

(Fortsetzung folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 224. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_224.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)