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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


Belladonna?
Aus den Papieren eines Arztes.
(Fortsetzung.)


„Ja, was zu thun ist?“ wiederholte Waldow mechanisch wie ein Automat Sibyllens Worte.

„Unsere Pflicht!“ mußte ich dumpf entgegnen.

Wie eine Löwin fuhr Sibylle auf: „Nichts gegen die Ehre dieses Hauses! Er schläft den ewigen Schlaf. Nichts, und legte man seine Mörder auf glühenden Rost, kann ihn dem Leben zurückgeben. Ich“ – sie sagte es unbeschreiblich hoheitsvoll, mit edlem Selbstbewußtsein – „die ich ein Leben hindurch die Wünsche und Gedanken ihm aus der Seele gelesen, ich allein kann in seinem Geiste urtheilen, und glaubt mir, ich spreche ihm aus der Seele, wenn ich sage: Ueberlaßt die Schuldigen ihrem eigenen Gericht, der Gewissensqual, und deckt für immer und ewig den Schleier des Schweigens über die Enthüllungen dieser fürchterlichen Nacht!“

„Ich darf es nicht,“ sagte ich traurig.

Da stürmte auch der Oberst auf mich ein und beschwor mich bei Allem, was mir einst heilig und theuer gewesen, und als ich verneinend das Haupt schüttelte, lag der gebrochene Vater plötzlich vor mir im Staube und umklammerte jammernd meine Kniee.

Brauche ich zu sagen, wie ich innerlich litt und kämpfte in dieser schweren Stunde? Meine Pflicht aber stand mir obenan.

„Und wenn ich meines leiblichen Vaters Leben dadurch rettete, Waldow, ich darf nicht. Ich muß den Gerichten Anzeige machen, wenn heute die Obduction der Leiche meinen Verdacht bestätigt.“

Er athmete erleichtert auf. „Gieb uns Zeit bis zum Tage des Begräbnisses, Doctor! Wir müssen Rath finden. – Rufen wir Blanche!“

„Sie hat sich im Thurmzimmer eingeschlossen und steht Keinem Rede,“ sagte Sibylle.

„Gut,“ meinte der Oberst, „gönnen wir ihr noch einen Tag der Ueberlegung! Sie muß ja endlich zu sich kommen, und mir wird sie Rede stehen und sich verantworten – das schwöre ich Euch. Sibylle, verkannte große Seele, nicht wahr, Sie wollen nicht den Untergang meines Kindes? Sie helfen mir suchen ohne Unterlaß, bis wir gefunden, was Blanche freispricht.“

„Ja!“

Sie hatte dem demüthigen Bittsteller den Strohhalm nicht entziehen wollen, an den er sich verzweiflungsvoll klammerte. Ich sah ihrem Gesichtsausdruck an, daß nur das Mitleid ihr das zögernde „Ja“ dictirt hatte. Ich selbst, ich gestehe es, fühlte mit jedem Augenblick meine Ueberzeugung von Blanche’s Unschuld mehr und mehr schwinden, ja, ihre Schuld wurde mir zur fürchterlichen Gewißheit, als ich ein paar Stunden später die Obduction der Leiche vornahm.

Die schnelle Veränderung des Todten, die schwarzblauen Flecke, die Ueberfüllung des Magens und der Hirngefäße mit Blut waren zwar noch keine genügenden Beweise einer Vergiftung, aber die chemische Prüfung der Gedärme und des Magens sprach für die Annahme einer solchen. Aus dem mit Eiweiß verdünnten Niederschlag des Mageninhaltes konnte ich, nachdem ich denselben von den Eiweißflocken befreit, filtrirt und getrocknet, die Natur des Giftes nicht sicher feststellen. Pflanzengifte entziehen sich ja immer mehr der exacten Beurtheilung als metallische.

Da sich in Blanche’s Toilettetisch das corpus delicti längst gefunden, konnte ich trotz alledem über das Gift nicht im Zweifel sein, das den Körper da vor mir zerstört hatte. Mir graute vor dieser holden Unschuld, deren weiße Hände durch Gattenmord besudelt waren, und ich kannte kein Mitleid mehr für ihre verbrecherische Schwäche. Ich trat zu meinen Freunden, zum Oberst und Sibylle, ein, und auf ihr athemlos gespanntes Aufblicken konnte ich natürlich nur schwermüthig den Kopf senken.

„Belladonna ohne Zweifel. Bescheiden Sie Ihre Tochter hierher, Oberst!“

„Ich komme von ihr,“ meinte Sibylle. „Wir dürfen die Unglückselige heute noch nicht mit einem Verhör peinigen. Ich habe mir mit einem Nachschlüssel die Thurmstube gewaltsam zugänglich gemacht und fand sie wie leblos auf dem Boden ausgestreckt. Sie ist in einem unbeschreiblichen Zustande, der auch dem härtesten Herzen Erbarmen abzwingen müßte. Unter meinen Bemühungen kaum zum Leben zurückgekehrt, fiel sie in meinen Armen von einer Ohnmacht in die andere.“

„Kommen Sie, Fräulein Sibylle!“ sagte ich, „wir wollen nach ihr sehen.“

War es ein neues Komödienspiel, das Blanche uns vorführte? Mein Glaube an sie war völlig erschüttert.

Wir traten bei ihr ein. Ihr ganzes Aussehen, ihr Puls, den ich sofort controlirte, zeigte mir, daß sie dieses Mal die grenzenlose Hinfälligkeit nicht heuchle. Sie sah entsetzlich verstört aus, als sie, aus neuer Ohnmacht erwachend, mit großen, unnatürlich geöffneten Augen uns der Reihe nach anstarrte. Ihr üppiges Haar umwogte ein Gesicht, dessen Colorit der Farbe des Porcellans gleichkam.

„Baronin,“ herrschte ich sie an, „haben Sie wenigstens so viel Gewissen, nicht auch Ihr Kind noch gewaltsam zu morden! Ich bitte Sie, Fräulein Sibylle, lassen Sie ein Glas Sherry und eine Tasse Bouillon mit Ei heraufbringen! Es ist nichts als Entkräftung durch Mangel an Nahrung, was diese Zustände hervorruft.“ Sibylle ging. „Trinken Sie!“ wandte ich mich barsch an Blanche, als Sibylle das Gewünschte gebracht hatte. Ich hielt ihr Tasse und Glas an die zitternden Lippen, da die vibrirenden Hände der unglücklichen Frau den Inhalt zum Theil schon verschüttet hatten.

Sie that Alles, was man von ihr verlangte, mit der rührenden Geduld, dem demüthigen Gehorsam eines verschüchterten Kindes, und ich machte Sibyllen verantwortlich dafür, durch stündliche Nahrung zu sorgen, daß ihre Kräfte sich wieder belebten. Keine Silbe aber kam über Blanche’s Lippen. Nur als ich, bevor ich fortging, bemerkte, Sibylle müsse dafür sorgen, daß bis zum Abend ein Geständniß möglich werde, weil auf den darauffolgenden Tag die Bestattung angesetzt worden, fuhr sie vom Sopha auf, und ich mußte mich gewaltsam verhärten gegen das rührende Flehen dieser Kinderaugen.

Wie uns die langen Stunden bis zum nächsten Tage vergingen, wie wir sie vielmehr hinschleppten, ein düsterstummes Trio in dem dunklen Arbeitszimmer des Commandanten – ich weiß es kaum selbst mehr. Die nervöse Aufregung jagte den armen Oberst rastlos hin und her. Kein Schlaf kam mehr in seine Augen. Sein Gefühl für Rechtschaffenheit und Ehre litt furchtbar. Wie sehr er forschte, es fand sich in den Papieren seines Schwiegersohnes nicht ein Atom, das die grauenhafte That seines Kindes widerlegt hätte.

Wir schrieben den ersten Juli. Am zweiten sollte die Leiche der Gruft übergeben werden. Der Tag war erstickend heiß gewesen, und gegen Abend nahm die beklemmende Schwüle zu. Rothe Gewitterwolken warfen eine unheimliche Beleuchtung ringsumher. Die Sonne kämpfte mit der sie verdunkelnden Luftschicht noch einmal um die Herrschaft, die Strahlen aber, die sie in’s Arbeitszimmer sandte, waren von einer eigenthümlich gespensterhaften Wirkung auf unsere erregten Nerven. Da – umflossen von dem grellen gelben Licht, stand ungerufen Blanche’s wankende Gestalt, von Sibyllens Armen aufrecht gehalten, im Zimmer.

Wie unsäglich schön kam mir in diesem Augenblicke Sibylle, das große starke Mädchen, vor, das sonst so strenge Gesicht durch engelhaft mildes Erbarmen verklärt! Wie ein kleines Kind nahm sie die hülflose junge Frau in ihre starken Arme und trug sie bis zu den Füßen ihres Vaters, der schaudernd beide Hände vor das Gesicht schlug.

„Da ist Ihr Platz – nun sprechen Sie!“ Sibylle zog ihr mit sanfter Gewalt die Hand fort, an die sich die Unglückliche verzweiflungsvoll geklammert hatte.

Draußen brütete immer erdrückender die Gewitterschwüle. Näher und näher grollte der Donner. Jetzt zuckte im falben Zickzack der erste Blitz durch das immer mehr und mehr sich verdunkelnde Zimmer. Zu den Füßen ihres Vaters, als ob sie ihre Seele ausweinen wollte, lag die schluchzende Sünderin.

Und er zog sie nicht an sich in liebendem Erbarmen; er hatte die Hände von dem gramdurchwühlten Gesicht genommen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 236. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_236.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)