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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)

sein Glück gestorben wäre? Ich that nur, was nothwendig war, um seine Ehre zu bewachen. Ich sagte ihm: der Zukits wäre wieder da und spähe der gnädigen Frau wahrscheinlich in der Absicht nach, von ihrer Gutmüthigkeit Geld zu erpressen. Wir wollten versuchen, eine Begegnung zu verhüten, und ich und er beschlossen bei ihren Promenaden ein wachsames Auge auf sie zu haben, damit der freche Mensch sie nicht behellige. An die versteckte Pforte lockte ich ihn durch die Aussicht, sie dort bei der Rückkehr zu überraschen. Ich dachte, das Gewissen würde ihr schlagen, wenn sie den alten ehrwürdigen Mann da auf der Schwelle ihres heimlichen Sündenweges stehen sähe, und am nächsten Tage wollte ich ihr selbst mahnend in’s Gewissen reden. Der nächste Tag! Mein Gott, möchte wir Menschen uns doch nicht immer mit der Hoffnung auf Zukünftiges vertrösten, sondern den Augenblick benutzen, der noch in unsere Hand gegeben ist!“

(Schluß folgt.)




Blätter und Blüthen.

Die gnädige Herrschaft beim Erntefeste. (Mit Abbildung S. 232 und 233.) Zur Zeit der Perrücken und Haarbeutel war das Leben nicht immer so zopfig, wie wir es uns vorzustellen gewohnt sind. Alte ländlich-sittliche Gebräuche, an denen der conservative Geist des Adels wie der Bauern festhielt, sorgten dafür, daß von Zeit zu Zeit der Puder abgestäubt wurde und daß die äußerste Derbheit und ärgste Zimperlichkeit mit einander auskommen mußten. Das verbreitetste unserer ländlichen Feste ist das Erntefest, das in vielen Landstrichen schon seit langer Zeit auch zugleich als Kirchweih- oder Kirmeßfest begangen wird. An Rittergutssitzen gebot es dann der alte Brauch, daß die Gutsangehörigen in feierlichem Aufzuge dem Gutsherrn einen Erntekranz überreichten und dafür wiederum von diesem mit einem Erntetanze erfreut wurden. Dabei beobachtete man ein Recht, das wir bei ähnlicher Gelegenheit noch in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts ausüben sahen: es kam nämlich den Gutsangehörigen zu, die Mitglieder ihrer Herrschaft und deren Gäste zum Tanze aufzufordern, und Niemand durfte die Einladung abschlagen, ohne sich durch ein Geschenk davon loszukaufen. So geschah es noch bei den ihrer Zeit vielbesuchten Heuerntefesten auf dem bekannten Lustschlosse Rosenau, die der Vater des jetzigen Herzogs Ernst von Coburg alljährlich für die schönsten Bursche und Mädchen des Landes zu veranstalten pflegte; da wurde von den kräftigen Armen manche schlanke Person im Tanze herumgeschüttelt, die wir später auf hohen Thronen sitzen sahen.

Für das Landvolk ist das Gefühl der Standeskluft dasselbe, ob es einem „gnädigen Fräulein“ oder einer „Prinzessin“ gegenübersteht. So auch auf unserm heutigen Bilde. Die große Gutsscheune ist zum Ballsaal hergerichtet worden. Die Fahne und der große Erntekranz sind nicht ihr einziger Schmuck, ein treffliches Erntefestwappen hat sich wie von selbst auf dem hohen Barren gebildet, auf welchem die Musik sicher untergebracht ist. Neben ihr prangt das Wappen mit dem Erntegeräthe und den Garbenbündeln, von denen sogar noch lange Bänder herniederwehen. Als besondere Respectsperson tritt, wenn freilich auch im Hintergrund, der Ceremonienmeister oder Tanzcommandeur mit der Festschärpe hervor, der soeben der Musik den Tact berichtigt. Rechts von ihm hat sich Gleich und Gleich gepaart, aber links von ihm ist’s jedenfalls die Tochter des Hauses, das „gnädige Fräulein“, welches im Arm des kräftigen jungen Bauern auf ihren Stöckchenschuhen dahinklappert, während die „gnädige Frau“ selbst am Tisch unter ihrer starkgepuderten Haarkrone einen streng strafenden Blick gegen die Pächterstochter schleudert, die sich soeben erfrecht, ihren Herrn Sohn, den gnädigen Junker zum Tanze zu laden. Ein weit freundlicheres Bild gewährt das heitere Fräulein hinter ihr, das ihren verblüfften Nachbar zum Tanze fortzieht.

Am linken Ende des Festtisches berühren sich die Altersgegensätze: das Päppelkindchen, das von der Amme gefüttert wird, und das uralte Paar, das mit Hülfe des Hörrohrs seine Unterhaltung pflegt. Unverkennbares Wohlgefallen an der bunten und lauten Lustbarkeit äußern der Gutsherr, der, ungestört vom Strafblick seiner Gemahlin, weil er ihn nicht sieht, mit dem Augenglase die Verlegenheit seiner tanzenden Tochter lächelnd beobachtet, und der geistliche Herr mit dem Mantel im Vordergrunde, der sich den Nebengenuß eines Prischens dazu erlaubt. Zufrieden scheinen auch die beiden Antipoden des Bildes, der Junge, der stillvergnügt seine eigenen Beine umklammert, und der Mohr in seinem Weindienst. Und so können wir uns der Beruhigung hingeben, daß trotz des strengen Blicks der alten gnädigen Frau die Ceremonie ohne Störung verlaufen wird, bis die Herrschaft durch ihre Entfernung den wahren Erntejubel des Völkchens erst freigiebt.


Die orientalische Frage im Berliner Cabinet (Notabene Wachsfigurencabinet in der Passage). Die Zeiten sind vorüber, in denen die Mechaniker jahrelange Bemühungen auf Maschinen wendeten, blos um die natürlichen Bewegungen von Menschen und Thieren durch Automaten nachahmen zu lassen. Es waren respectable Leistungen darunter. Wir wollen nur an die schreibenden, zeichnenden, musicirenden Figuren von Vaucanson, an die schwimmende, fressende und zeitweise einen weichen Brei von sich gebende Ente desselben Künstlers, an den Flötenspieler im Kaufmann’schen akustischen Cabinet in Dresden, der sogar ein merkwürdiges musikalisches Problem löst, erinnern. Heute baut man nur Maschinen, die nicht blos zum Schein, sondern wirklich arbeiten, nähen, stricken, sticken, weben, schreiben, rechnen etc., und selbige sind oft hundertmal kunstreicher ausgeführt, als die berühmtesten Automaten der Kunstcabinette. Ein besonderes Interesse nehmen höchstens noch die Pseudo-Automaten ein, die redenden Köpfe und Commando-Trommler der Taschenspieler, der automatische Whistspieler (vergl. Gartenlaube 1876, S. 698), sobald die Einwirkung des Menschen geschickt verborgen ist. Eine Copie des berühmtesten Vertreters dieser Gruppe, des Kempelen’schen Schachspielers, producirt sich gegenwärtig unter dem Namen Ajeeb in dem bekannten Castan’schen Wachsfigurencabinet der Kaiserstadt. Aber man muß sagen, daß sie mit ihrem berühmt gewordenen Vorbilde nur geringe Aehnlichkeit besitzt. Das Werk des genialen Herrn von Kempelen setzte gegen Ende vorigen Jahrhunderts selbst erfinderische Köpfe in Verlegenheit, weil der in dem Spieltische steckende Mensch während des Oeffnens der verschiedenen Thürchen, Schübe und Fenster so geschickt seine Platz zu wechseln wußte, daß man wirklich an seiner Existenz zu zweifeln begann, und sich dem von dem Erfinder begünstigten Glauben zuwendete, er wirke nur durch Magnete von außen auf den Mechanismus ein. Von solchen Zweifeln kann unserm Ajeeb gegenüber keine Rede sein.

Auf einem kleinen Divane kauert, die Wasserpfeife neben sich, die Kolossalfigur eines Türken, der offenbar in seinem Hohlleibe einen ausgewachsenen Menschen bequem beherbergen kann, wenn derselbe gefälligst seine Beine durch den Divan in den mit demselben verbundenen Kastentisch stecken will, auf dem das Schachbrett steht. Zwar wird uns vor Beginn des Spieles vermittelst einiger Klappen erlaubt, durch die Brust des Türken wie durch letzterwähnten Rolltisch hindurch zu sehen, wobei man wahrscheinlich das Vergnügen hat, zwischen den ausgespreizten Beinen des Unsichtbaren hindurch zu schauen, ohne daß man den gleichen Genuß hat, wie wenn man sich bückt und durch die eigenen Beine hindurch die durch den Blutandrang in den Augen sehr verschönerte Landschaft betrachtet. Aus dem Brustkasten hält die menschliche „Seele“ des Automaten ohne Zweifel, so lange die Klappen geöffnet sind, ihr Oberhaupt zurückgezogen, wobei man indessen zu seiner Enttäuschung nicht unbemerkt lassen kann, daß die vorgebliche einen so großen Raum erfordernde Maschinerie beiderseits nur eine ganz dünne Gitterschicht vor den Gucklöchern bildet, sodaß Neunzehntel des Hohlraums leer erscheinen. Jetzt werden die Klappen insgesammt bis auf eine kleine Luftklappe geschlossen und das „Werk“ geräuschvoll aufgezogen, jedenfalls damit der Insasse der Figur sich erheben und in derselben zum Spiele zurechtsetzen kann. Findet sich nicht sogleich ein Spieler, so macht die Figur einstweilen, wie die Kempelen’sche, den Rösselsprung, das heißt sie führt den von einem Zuschauer auf ein beliebiges Feld gesetzten Springer schnell, während seine Fußstapfen sogleich durch Spielmarken bezeichnet werden, über alle vierundsechszig Felder, ohne eines zweimal zu berühren. Dazu gehört natürlich weiter nichts, als daß sich der leitende Staatsmann des Divans ein- für allemal einen in sich selbst zurückkehrenden Rösselsprung merkt, den man natürlich von jedem beliebigen Felde beginnen kann.

Inzwischen hat sich wohl ein Spieler im Publicum gefunden; der Automat wird dicht an die Barrière herangerollt und jener hat nun die Ehre, eine Partie Dame oder Schach zu spielen mit dem – türkischen Herrn Minister des Innern, der zugleich Minister der auswärtigen Angelegenheiten, des Kriegsspiels, der Finanzen und des Handels ist, und das Spiel wahrscheinlich in aller Bequemlichkeit durch die dünne Weste seiner Attrape überschaut. In der Regel verliert sein Gegner, weil er sich, um die Schaustellung nicht aufzuhalten, nicht länger besinnen soll, als er selbst, der doch immer in der Uebung bleibt und alle Tage fünf Stunden, von zwölf bis zwei Uhr und von fünf bis acht Uhr, Schach spielt. Die Pausen sind trotz des großen Andrangs von Seiten der Schaulustigen augenscheinlich darum nothwendig, weil der Automat so vollkommen menschenähnlich ist, daß er, wie die oben erwähnte Ente, sich zuweilen die Beine austreten, über die Dummheit der Menschen lachen, eine Mahlzeit einnehmen und andere kleine Bedürfnisse befriedigen muß, die eine vorherige Entfernung der Zuschauer erfordern. Man darf behaupten, daß der Mechanismus sogar niesen würde, wenn man durch die Luftklappe etwas Schneeberger Schnupftabak oder ein Stäubchen Veratrin einführte, und wir wollen dem Herrn Automaten daher rathen, die Klappe lieber zuzumachen. – Wir achten gern Geschäftsgeheimnisse, aber solchem Jahrmarkts-Humbug gegenüber ist es beinahe Pflicht der Presse, ein durch Reclame irregeführtes Publicum zu warnen, denn gegen diesen „Automaten“, an welchem nichts mechanisch ist, als der bewegliche, bei jeder Bewegung knackende Arm, sind der sterbende, schwerathmende Zuave des Cabinets, die Degen-Balanceuse, und die ihre Umgebung bewundernde Wachsdame, die schon mancher biedere Landmann angeredet haben soll, ja die Schreipuppe, über die sich die kleinen Kinder amüsiren, wahre Kunstwerke.X.


Georg Jenatsch. Ehe der Winter mit seinen langen Abenden und somit die Zeit „der behaglichen Lectüre“ ein Ende nimmt, möchten wir unsre Leser, namentlich aber alle Freunde der Geschichte noch auf einen Roman aufmerksam machen, der in treuer Darstellung historischer Ereignisse in der That Ausgezeichnetes leistet. Bereits Ende vorigen Jahres erschien auf dem literarischen Markte: Georg Jenatsch, eine alte Bündnergeschichte von Ferdinand Meyer (Leipzig, Hässel). Wir wissen nicht, ob das Buch bei der Kritik die Anerkennung gefunden hat, die es unbedingt verdient, wenigstens erinnern wir uns nicht, eine Kritik darüber gelesen zu haben, wenn aber interessanter Stoff, eine bis in’s Kleinste treue Festhaltung der Geschichte, markige Charakteristik[WS 1] der Hauptpersonen, glänzende Darstellung großartiger Alpenbilder und ein durchweg künstlerischer Aufbau der Entwickelung und schließlichen Katastrophe des Ganzen einen guten historischen Roman abgeben, so möchten wir der Bündnergeschichte dieses Prädicat beilegen. Für Schweizer und alle Freunde schweizerischer Geschichte muß dieses Meyer’sche Buch geradezu zündend wirken.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Charakeristik
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 239. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_239.jpg&oldid=- (Version vom 21.9.2021)