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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


„Ach, daß Gott, der Arzt!“ flüsterte die Kranke und machte vergebliche Anstrengungen, den Kopf zu erheben. „Es wäre doch gut, wenn er lebendig würde und mir hülfe.“

Der Alte untersuchte die Kopfwunde, aus der zwischen dem braunen üppigen Haare das Blut rann. Er hieß das Mädchen einen Lappen holen und riß ein Stück ab, welches er auf die quellende Stelle legte; dann begann er wunderlich mit den Fingern darüber hin und her zu streichen, indem er unverständliche Worte dazu murmelte. Nach einer Weile band er dem Verwundeten den Rest des Lappens um den Kopf, der Bursche faßte wieder mit an, und kurz nachher lag der Doctor, welcher jetzt deutlich Athem holte, auf der dem Lager des Weibes entgegengesetzten Seite des Feuers im Zeltraume.

Die Männer gingen der Netze wegen noch einmal an das Wasser. Als sie zurückkehrten, lag die braune Juschka zwischen den beiden Kranken dem Eingange gegenüber an die Zeltwand hingekauert und störte mit einem kurzen grünen Aste im Reisig herum, daß die Funken heller aufflogen.

„Hat er sich geregt?“ fragte der Alte, den Kopf neben dem zur Seite geschobenen Zeltvorhange hindurch steckend.

Das Mädchen schüttelte verneinend den Kopf.

„Du kannst Wache halten die Nacht; der Regen kommt, und es wird kalt. Der Mann wird trocknen müssen in der Nacht und die Mutter wird frieren.“

Die braune Juschka nickte, und kurz darauf hörte man die Männer auf den Wagen kriechen und ihr Lager aufsuchen.

Das Mädchen war mit den beiden Kranken allein im Zelte.

Das Feuer knisterte, und der rothe Schein flackerte unruhig über die drei Menschen und über die Zeltwände. Die kurz abgebrochenen, unregelmäßigen Athemzüge Urban's waren kaum zu hören; desto vernehmlicher war der mühsame, ächzende, pfeifende Athem der kranken Zigeunerin, welche in heftigem Fieber lag. Sie hustete dann und wann, nicht viel im Ganzen, aber sie begehrte oft nach Wasser, und die braune Juschka stand jedesmal geduldig auf und brachte ihr das Verlangte in einem Blechbecher. Sie nahm hinterher ihren Platz bei der Zeltwand wieder ein, kaum drei Schritte von Urban entfernt, den Kopf zu diesem hinübergeneigt und zuweilen beobachtende Blicke auf ihn werfend.

„Meinst Du, daß er morgen aufstehen und mir helfen wird?“ fragte die Kranke einmal, als das Mädchen ihr den Becher von den Lippen genommen.

„Ich weiß es nicht, Mutter, aber der Dampf von seinen Kleidern steigt gerade auf – das ist ein gutes Zeichen,“ flüsterte die Tochter.

„Sieht er gut aus, wie der gelbhaarige Fremde, der immer herkommt?“

„Seine Augen waren trübe, als ich hineingesehen habe; er ist nicht so rein wie der.“

Die Bäume über dem Zelte begannen sich zu bewegen; die Aeste knarrten, und der Raum füllte sich mehr und mehr mit Rauch, worauf die braune Juschka den Vorhang zurückschlug und mit den Zipfeln am Buchengestrüpp unter dem Baume befestigte. Der Kranken, welche heftiger hustete, legte sie ein Tuch lose über das Gesicht. Der Regen rieselte auf die schauernden Blätter, und man hörte sein feines Zischen auf der Wiese, allmählich aber nahm er an Stärke zu; die Hunde bei dem Wagen begannen leise zu winseln; von den Bäumen rannen die Tropfen auf die Zeltdecken, und das Reisig, wo es die Wand bildete – an der Seite wo Urban lag – rasselte von ihnen. Sie fielen auch durch die weite Deckenöffnung blitzend in das Feuer. Die Bäume waren indessen dicht genug, um das Meiste abzuhalten, und nach einer Stunde hörte der Regen wieder auf.

Die junge Zigeunerin lag fröstelnd zusammengekrümmt und summte etwas vor sich hin.

„Juschka, singe etwas!“ murmelte die Stimme der Kranken unter dem Tuche; „vielleicht daß ich dann schlafe. Es ist schrecklich, wenn man nicht schlafen kann.“

Das Mädchen blieb liegen und erhob die Stimme nur ein wenig, um wie im halben Traum etwas zu Tage zu fördern, was weder gesungen noch gesprochen war, sondern ein Mittelding von Beidem. Aber die Worte konnte man verstehen:

„Fliegt das Mondlicht über den Berg,
Wo der graue Stein steht.
Grauer Stein am Wege,
Weißt du, wo mein Liebster geht?

Blutkorallen die Lippen sein.
Meines Mundes Weide,
Schwarzer Flecken auf weißer Kuh
Seine Augen beide.

Rossesmähne im Winde fliegt,
Wie sein Haar voll Glanz ist;
Blink von Silberknöpfen die Jack’,
Blank sein Stiefel zum Tanz ist.

Auf dem Wasserweidenbaum
Sitzen schwarze Raben:
Zehn Fuß unter dem Wasser tief
Liegt er begraben.

Ach, ihr weißen Wasser, sagt,
Was euch that mein Liebster?
Kleine Fische, schwimmt vorbei,
Denn er bleibt mein Liebster.“

Wenn sie die letzte Strophe gesungen hatte, fing sie bei der ersten wieder an.

Die Mitternacht war vorüber, und die Kranke schlief zuletzt ein, weil das Fieber nachließ. Aber die braune Juschka schlief nicht; das Gesicht lag auf dem bloßen ausgestreckten Arme, halb verdeckt von dem anderen, und ihre schwarzen Augen blinzelten unruhig in das verglimmende Feuer, bis sie die höchste Zeit gekommen fand, um es wieder anzufachen.

Nach ein paar Stunden begann der bewußtlose Mann laut und gleichmäßig zu athmen. Die Zigeunerin horchte und rutschte bis dicht zu ihm hin. Dann richtete sie sich ein wenig auf und sah ihm mit still verlorenen Blicken in das sich lebhafter färbende Gesicht, bis ihre kleine Hand sich hob und ihm leise über die Wange und die Stirn zu streicheln begann, welche letztere freilich von der Binde überzogen war. Sie hielt endlich ein, denn es war ihr, als ob seine Augenlider zuckten. Sie brachte ihr Gesicht dicht an das seine, um zu beobachten, aber nun sah sie nichts mehr von einer Regung. Danach lehnte sie sich zurück, blickte träumerisch in die Flamme, den Kopf in die Hand gestützt, und summte auf's Neue die Weise ihres Liedes, das sie vorher gesungen, bis sie endlich die letzte Strophe zwischen den Lippen sprach und sich wieder in den Anblick des Schlafenden versenkte.

„Ach, ihr weißen Wasser, sagt,
Was euch that mein Liebster?
Kleine Fische, schwimmt vorbei.
Denn er bleibt mein Liebster.“

Sie wagte es endlich, seine feuchtkalte Hand zwischen ihre Hände zu nehmen, als wollte sie dieselbe wärmen, und sie wurde wirklich zuletzt warm. Dann legte sie sich hinüber und wiederholte dasselbe Spiel mit der andern Hand. Zuletzt spitzte sie die Lippen und senkte ihr Gesicht auf das seine herab – –

Urban begann zu träumen, erst verworren und dumpf, dann klarer. Es war ihm, als überschatte ein Mädchenkopf seine Augen und als fühle er leidenschaftliche Küsse auf seinen Lippen brennen; seine Hände regten sich schwach und er stammelte mit halb erstickter Stimme: „Milli!“

Das junge Geschöpf, das so verwegen gespielt hatte, fuhr jäh zurück, aber nicht von diesem ersten Laut aus dem Munde des Genesenden, sondern von einem unerwarteten Geräusch auf der andern Seite des Zeltes. Sie sah, daß die Kranke wach geworden war, das Tuch abgeworfen hatte und sie mit brennenden angstvollen Blicken beobachtete.

„Juschka, mein Kind,“ sagte die heiserer Stimme der Zigeunerin, „komm her zu mir!“ Und als das junge Mädchen mit gesenkten Wimpern zu ihr hinübergerutscht war, fuhr das kranke Weib fort: „Ich glaube, daß ich doch bald sterben muß. Schwöre mir, daß Du nur eines Mannes Eigenthum werden willst, der zu unserem Stamme gehört.“

„Warum soll ich das schwören?“

„Ich sehe, daß Dir jener Mann, der da liegt, gefällt. Aber wollte er Dir etwas versprechen, was ehrlich klänge, so wäre es doch Lüge. Wenn man jung ist, glaubt man Vieles, was die weisen Väter nicht zu glauben rathen. Es gab einmal einen Mann von dem andern Volke – verflucht sei er! – der mit den Unsrigen zog, um mein Gatte zu werden, und als er es wenige Tage war, da stahl er sich eines Morgens davon bei einer großen Stadt; Niemand von unseren Leuten hat ihn wieder gesehen.“

Ein kurzer Hustenanfall unterbrach sie; dann sprach sie weiter:

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 243. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_243.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)