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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


und höchstens flatterte ein blauseidenes Band in ihrem prachtvollen, entfesselten Haar.

In dieser Zeit konnte man eines Tages einen jungen, hochgewachsenen Menschen mit lichtbraunem Haar und blauen Augen, aber in ärmlichem Gewande hier einherwandeln sehen, trunken von all’ den Eindrücken dieser verblichenen Pracht, die einem dichterischen Geiste so sympathisch ist. Wie war sein Heimathsort, aus dem er kam, sein armes Dorf, in dem er seine Jugend einsam und mit den Träumen seines Geistes verlebt hatte, wie war das öde, nüchtern, kalt gegen diese Eindrücke, die ihm hier sich entgegendrängten, so voll, so mächtig, so überwältigend, daß er sich in einem Geistes- und Sinnentaumel befand! Diese eingestürzten Statuen und Urnen, die verfallenen Tempel und Lusthäuser, die leeren Bassins mit ihren moosgrünen Göttern, die düsteren Alleen und melancholischen Grotten, und dann wieder als Widerspiel ein Blick aus diesem Dornröschenmärchen in das grüne, lebendige, sonnenhelle Bayreuther Thal, sein Marienthal, auf den alten Kirchthurm von St. Johannes, auf die Höhen des Fichtelgebirges, hinter denen seine Heimath lag! Und dann stieg der junge Mensch wieder hinauf und schrieb in Hof, im schmucklosen einsamen Stübchen, in dem seine arme Mutter am Spinnrädchen saß, seine Romane, die ein Schatz unserer Literatur sind, und wo sich in denselben zwei Seelen nach Sehnen, Schmerz, Trennung, Schuld oder Reue in Liebesjauchzen begegnen, da geschah es hier, unter den Linden und Rüstern von Eremitage. Was braucht es noch gesagt zu werden, daß hier von Jean Paul Friedrich Richter die Rede ist? Der Dichter wurde von den Napoleonischen Generalen abgelöst, die sich's hier bequem machten und die seidenen Polster absaßen, bis 1810 das Lustschloß mit dem Lande an Baiern kam.

König Ludwig der Erste von Baiern räumte seinem Vetter Herzog Pius die Eremitage als Sommersitz ein; der Großvater der Kaiserin von Oesterreich bewohnte bis zu seinem Tode dieselben Gemächer, welche einst Markgraf Friedrich und Hardenberg inne hatten. Schade, daß sie eine so totale, moderne Umwandlung erlitten hatten! Es giebt Orte, die als Reliquien behandelt werden müssen. Solche Orte sind Sanssouci und die Eremitage. In diesem also modernisirten Flügel finden sich noch einige Bilder von Persönlichkeiten des preußischen Königshauses und des brandenburgischen Hauses aus dem vorigen Jahrhunderte, aber über die Personen, welche sie vorstellen sollen, herrscht unter den Leuten, welche die Führer abgeben, vollständige Confusion. Es wäre an der Zeit, daß hier einmal eine historische Sichtung vorgenommen würde. Wie man sich erzählt, hat der deutsche Kronprinz bei seinem Besuche des Schlosses viele irrthümliche Traditionen in Bezug darauf berichtigt. Im Sommer 1851 war Eremitage von dem Könige Max von Baiern, dessen Gemahlin und seinen beiden Söhnen einige Zeit bewohnt. Eremitage ist eine der Jugenderinnerungen König Ludwig's des Zweiten von Baiern. Es scheint, daß diese Erinnerung zu einer Vorliebe in ihm geworden ist. Bei den Besuchen, die der König dem oberfränkischen Kreise abstattet, unterläßt er es in seinem pietätvollen historischen Sinne niemals, Schloß Eremitage und dessen Erinnerungen seine Huldigung darzubringen. Dann erholte sich König Otto von Griechenland während einiger Sommer hier von der Unruhe und den Enttäuschungen seines griechischen Königthums. Im Sommer 1874 stattete der Kronprinz des deutschen Reiches und von Preußen dem Lustschlosse in den Stammlanden des brandenburgischen Hauses seinen Besuch ab, neunundsechszig Jahre nach jenem letzten Besuche des Königs Friedrich Wilhelm des Dritten und der Königin Louise im fränkischen Lande wieder der erste Hohenzoller in diesen Räumen, bis im Sommer 1876 Kaiser Wilhelm hier als Gast des königlichen Schloßherrn war und die Erinnerung an diese Stätte seines Geschlechts neu belebte.




Schüler-Censuren eines Meisters.


Den Entwickelungsgang großer Männer von Station zu Station zu verfolgen, hat immer etwas ebenso Fesselndes wie Lehrreiches; die Jahre namentlich, in denen sich im Knaben der Eintritt in's Jünglingsalter anbahnt, sind von tiefgehendem psychologischem Interesse und dürfen daher, wo es sich um die Betrachtung des Werdens und Wachsens ausgezeichneter Geister handelt, niemals außer Acht gelassen werden.

Zur Entwickelungsgeschichte Lessing’s sind somit die Jahre 1741 bis 1746, welche er auf der Fürstenschule zu Meißen verbrachte, von hoher Wichtigkeit, und sind die nachfolgenden, bisher noch nirgends veröffentlichten Notizen über diese Lebensphase unseres großen Literaturreformators daher sicher nicht uninteressant. Auch hier gilt das Wort: schon die Tatze verräth den Löwen.

Am 21. Juni des Jahres 1741 wurde Gotthold Ephraim Lessing in St. Afra recipirt. Die Schule zerfiel damals in zwei Abtheilungen, die Oberlection und die Unterlection; jede derselben setzte sich aus zwei Classen und diese wiederum aus je drei Decurien zusammen, sodaß es im Ganzen vier Classen und zwölf Decurien gab. In Folge der trefflichen Vorbereitung, welche Lessing durch den Pastor Lindner genossen, wurde er gleich in die elfte Decurie gesetzt, in der er bis Michaeli desselben Jahres verblieb. Regelmäßig im Frühjahre und Herbste wurden Prüfungen veranstaltet, sogenannte Emendationen, über deren Ausfall Zeugnisse ausgestellt wurden, die als Rescripte dem königlichen Ministerium eingeliefert werden mußten. Diese Censuren Lessing’s nun, in gedrechselt-classischem Latein geschrieben, sind zu interessant, als daß wir sie nicht in deutscher Uebersetzung mittheilen sollten.

1) Michaelis 1741. Er wurde ermahnt, dem guten Eindrucke, den sein schmuckes Aeußere macht, nicht durch eine Neigung zur Eigenwilligkeit und Keckheit zu schaden, und schien den Ermahnungen Gehör zu geben. – Kauderbach.

2) Ostern 1742. Er ist nicht unbedeutend begabt, bedarf aber strenger Leitung, um pflichtgemäß und gewissenhaft den gesetzlichen Forderungen zu genügen. – Weiß.

3) Michaelis 1742. Er ist reich begabt und sein Betragen ruhig, von dem Tadel aber der Unsorgsamkeit ist er nicht immer freizusprechen. – Weiß.

4) Ostern 1743. Seinen bedeutenden Anlagen entspricht ein sorgfältiger Fleiß, seinem Fleiße erfreuliche Fortschritte. – Weiß.

5) Michaelis 1743. Sein wissenschaftlich reger und thätiger Geist macht sichtlich Fortschritte; rücksichtlich seiner sittlichen Ausbildung ist sein Betragen zu versteckt, als daß er von jeder Verstellung freigesprochen werden könnte. – Hoere.

6) Ostern 1744. Er besitzt einen scharfen Verstand und ein ausgezeichnetes Gedächtnis; auch seine sittliche Ausbildung schreitet fort. – Hoere.

7) Michaelis 1744. Er erhöht das Lob seiner vorzüglichen Begabung durch viele Studien, sogar in der Mathematik und durch tadellose Führung. – Hoere.

8) Ostern 1745. Mit schnellforschendem Geiste eignet er sich die Kenntnisse in der Mathematik, und was sonst noch gelehrt wird, an; allein er wird ermahnt, die Uebung seines Stiles nicht zu vernachlässigen. – Grabener.

9) Michaelis 1745. Es giebt kein Gebiet des Wissens, auf das sein lebhafter Geist sich nicht würfe, das er sich nicht zu eigen machte; nur ist er bisweilen zu ermahnen, seine Kräfte nicht über Gebühr zu zersplittern. – Grabener.

10) Ostern 1746. Seinen für jedes Gebiet der Wissenschaft sich interessirenden und beanlagten Geist schult er durch großen Fleiß und ziert ihn durch erfreuliche Fortschritte, durch eine keineswegs verkehrte, wenngleich ziemlich feurige Gemüthsart. – Grabener.

Die eigentliche Abgangscensur Lessing’s ist leider nirgends aufbewahrt; er verließ die Schule am 30. Juni 1746, nachdem er fünf Jahre auf derselben verweilt. Ein zweimaliges Bittgesuch, das Lessing’s Vater auf dessen unablässiges Drängen eingereicht hatte, ermöglichte diesen zeitigen Abgang vom Gymnasium, an dessen sechsjährigem Cursus man eisern festhielt.

In der elften Decurie war Lessing also nur wenig mehr als drei Monate gewesen, während er alle anderen Stufen regelmäßig in je einem halben Jahre durchlief. Danzel in seinem sonst vortrefflichen Buche über Lessing hat daher entschieden Unrecht, wenn er behauptet, es wäre mit Lessing’s Aufrücken in der Schule „zuerst langsam gegangen“.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 251. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_251.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)