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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


Der allgemeine Eindruck, den obenstehende Censuren Lessing’s auf uns machen, ist ein durchaus günstiger: es ist doch immerhin zu verwundern, daß jene zum Theil so ehrsam pedantischen Schulmeister Lessing’s Natur, seinen scharfen Verstand und wissenschaftlichen Erkenntnißtrieb so gut erkannten. Schon von der zweiten Censur an in stets wachsender Proportion steigert sich das Lob seiner Anlagen, seines Fleißes und seiner Fortschritte. Daß Lessing selbst in der Mathematik Außergewöhnliches leistete (eine Wissenschaft, die, nach Lessing’s eigenen Worten, seinem Verstande vornehmlich zusagte), scheint dem Conrector Hoere und dem Rector Grabener ganz besonders und aus leicht ersichtlichen Gründen zu imponiren: ist es doch auch jetzt noch Mode, daß der „classische Philologe“ mit einer gewissen Geringschätzung auf die Mathematik herabschaut und sich sogar etwas darauf zu Gute thut, „nichts auf diesem Gebiete geleistet zu haben“, um durch diese Erklärung den Beweis zu liefern, daß er ein gar großer Philologe sein müsse.

Bei dem kecken, lebendig-frischen Sinne des Knaben kann es uns nicht Wunder nehmen, daß Lessing in der ersten Zeit seines Meißner Schülerlebens sich nicht allzu wohl fühlte und zu manchem Tadel Anlaß gab. Sein feurig-lebhaftes Temperament, sein trotzig-fester Sinn wollte sich nicht recht in den langsam-gemessenen Gang der vorgeschriebenen Studien, in die klösterlich-strenge Ordnung fügen; sein heller Geist und die schnelle Fassungskraft verlangten reichlichere Nahrung; er war eben „ein Pferd“ – nach des Rectors Ausspruche – „das doppeltes Futter bedurfte“, und seine frische Lebenskraft sprudelte über zu allerhand kecken Worten und schnellen Urtheilen. Es sind uns daher jene tadelnden Bemerkungen, er sei eigenwillig und keck und bedürfe strenger Zucht, durchaus nicht auffällig; Lessing war eben „ein guter Junge, aber etwas moquant“ – wie einer der adeligen Schulinspectoren in seinem Schülerverzeichniß neben Lessing’s Namen geschrieben. Mit dem Conrector Hoere scheint Lessing überhaupt auf etwas gespanntem Fuße gestanden zu haben und zwar durch eigene Schuld. Danzel berichtet darüber Folgendes:

„Da Lessing schon einer der ersten Schüler war und zu den Inspectoren gehörte, wohnte er als solcher einst einer der Sonnabend-Conferenzen bei. Der Rector fragte, warum die Schüler in dieser Woche – der Conrector Hoere war gerade Hebdomadarius gewesen – so spät in’s Gebet gekommen. Alles schwieg, nur Lessing nicht, der voreilig genug war, seinem Nachbar zuzuflüstern: ‚Das weiß ich.‘ Der Rector, der es hörte, befahl ihm, es laut zu sagen. Anfangs wollte er nicht, endlich platzte er heraus: ‚Der Herr Conrector kommt nicht gleich mit dem Schlage; daher denkt jeder, das Gebet gehe nicht sogleich an.‘ Der Herr Conrector mochte es nicht mit gutem Gewissen in Abrede stellen können und rief aus: ‚Admirabler Lessing!‘ Seitdem hießen diesen seine Schulkameraden nicht anders, als aber Lessing’s Bruder kurz nach dessen Abgange zur Universität auf die Schule kam, entließ ihn Hoere bei der Aufnahmeprüfung mit den Worten: ‚Nun geh in Gottes Namen, sei fleißig, aber nicht so naseweis wie Dein Bruder!‘“

So erklärlich diese Tadelsäußerungen waren, so befremdend muß uns der Vorwurf der „Verstellung“ erscheinen, den ihm in der Michaelis-Censur 1743 der Conrector Hoere macht. Der rücksichtslos offene, gradherzige Sinn Lessing’s und Verstellung! Um für diesen unglaublichen Vorwurf eine nur einigermaßen verständliche Erklärung zu finden, müssen wir uns die Person des Conrector Hoere genauer ansehen.

Hoere war an dem Gymnasium der Hauptvertreter des classischen Alterthums, ein Mann von reichem Wissen, aber pedantisch-steifem Wesen; auch für die deutsche Poesie war er empfänglich, freilich nach seiner Art, sich conservativ in den althergebrachten geistlosen Formen Gottsched’scher Regeln bewegend. Sonst wird uns ausdrücklich noch überliefert, Hoere sei strenggläubig gewesen – und das will viel sagen: es war ja selbstverständlich, daß der Conrector einer orthodoxen Anstalt, welche Prediger erziehen sollte und in welcher die Wissenschaft nur im Dienste der Religion gepflegt wurde, strenggläubig war. In welcher Potenz muß aber diese Strenggläubigkeit aufgetreten sein, wenn sie noch so ausdrücklich hervorgehoben zu werden verdiente! Natürlich ist es, daß auf einer solchen Anstalt nur der vorwärts kommen und Anerkennung finden konnte, welcher in religiösen Dingen gläubig war; für einen Zweifler war in St. Afra kein Boden. Und das ist so unerhört nicht – ist es doch auf mehr als einem preußischen Gymnasium noch heutzutage Sitte, die moralische Reife der abgehenden Zöglinge nach der Anzahl der Bibelsprüche und Psalmen, Kirchenlieder und Gebete zu beurtheilen, welche sie auswendig herzusagen wissen.

Bedenkt man nun alledem gegenüber, daß die Keime zu Lessing’s späterer religiöser Gedankenfreiheit sich schon auf der Schülerbank zu Meißen herausbilden mußten, veranlaßt und begünstigt durch jenen Sinn für Wissenschaftlichkeit, der bereits im väterlichem Hause von nicht genug geschätztem Einflusse auf ihn war, so wird man jenen Vorwurf Hoere’s wohl begreifen. Lessing, zu klug, um nicht zu merken, daß Bleiben, Fortschreiten und gute Censuren auf der Fürstenschule durch Strenggläubigkeit bedingt seien, andererseits aber zu aufrichtig und geradherzig, als daß er erheucheln konnte, was er nicht empfand, verhielt sich in religiösen Dingen passiv und ließ mindestens dieselben auf sich beruhen.[1] Dieses in gewisser Hinsicht zweideutige Wesen Lessing’s ist aber wahrscheinlich dem orthodoxen Eifer des Herrn Conrectors nicht entgangen und hatte jenen Vorwurf der Verstellung zur Folge. – Es scheint aber, als hätten die glänzenden Leistungen Lessing’s, sein ernstes Streben und seine sittliche Reinheit bald das Herz des orthodoxen Lehrers gewonnen, wenigstens ist jener schwere Tadel von Hoere nie wiederholt worden.

Unter der Leitung Grabener’s, einer ungleich feiner organisirten Natur, entfaltete Lessing’s Geist freier seine Schwingen und warf die letzten Fesseln einer gewissen Pedanterie ab, die ihm durch eine scharfbegrenzte Studienordnung und Klosterzucht künstlich anerzogen worden war, welche aber ihrerseits das Gute gehabt hatte, den feurigen Geist vor Maßlosigkeit zu bewahren und zu unerschütterlicher Selbstständigkeit zu stählen. – Wie stolz aber auch St. Afra auf diesen ihren großen Zögling gewesen und noch ist, beweist jene Säcularfeier, die am 21. Juni 1841, dem Gedenktage der Aufnahme Lessing’s, zu Meißen begangen wurde, bei welcher Gelegenheit unter Anderem auch der Primus Afranorum eine Rede gehalten, in der er Lessing „als Vorbild im redlichen Wahrheitsforschen“ darstellte.




Belladonna?
Aus den Papieren eines Arztes.
(Schluß.)


Die junge Frau hatte sich mühsam erhoben. Mit der einen Hand hielt sie sich an der Stuhllehne; die andere hatte sie gegen die Schläfe gepreßt, als müßte sie ihre Gedanken gewaltsam zusammenhalten.

„Ihr glaubt mir nicht,“ klagte sie müde und gleichgültig. „Ich habe Alles gesagt, was ich weiß. Möge denn das Gesetz seinen Lauf nehmen! O mein armer, armer Vater, wenn ich wenigstens Dich überzeugen könnte!“

„Gott wird helfen.“ Er riß sein wankendes Kind heftig aufschluchzend an seine starke Brust und hielt es fest umklammert. „Ich glaube Dir. Gottes Engel müßten selber trügen, wenn Dein Gesicht lügt.“

„Wo blieb die Flasche, von der die Baronin spricht?“ wandte ich mich Sibyllen zu. Sie zuckte die Achseln. In mir kämpften die widerstrebendsten Empfindungen. Rührend, daß es einem durch die Seele schnitt, war der Ausdruck stiller Resignation auf dem jungen Gesicht der unglücklichen Blanche, als sie sagte:

„Die Flasche nahm ich am Tage nach Falkenstein’s heftiger

  1. Was den Gang der religiösen Entwickelung Lessing’s anbetrifft, so möge hier dringend auf einen vortrefflichen Aufsatz von H. Landesmann (Hieronymus Lorm) verwiesen sein, der in des Verfassers „Philosophisch-kritischen Streifzügen“ (Berlin, Mitscher und Roestell 1873) unter der Ueberschrift „Lessing“ zu finden ist, und der auch sonst noch eine Fülle der anregendsten Gedanken über Lessing enthält.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 252. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_252.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)