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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


Gefallen, dieses Treiben am geeigneten Orte in’s rechte Licht zu stellen?“

„Es würde mir nichts nützen.“

„So? Nun, ich will Ihnen ein paar Adressen geben, deren Benutzung Ihnen den Beweis vom Gegentheil in die Hand liefern würde.“

Der Commissar war in vollständiger Verwirrung; eine Weile haschte er vergeblich nach Worten, dann platzte er endlich heraus: „Bei meiner armen Seele, ich dachte immer, daß ich kein ganz dummer Beamter wäre, aber gegenüber dem, was Sie da eben gesagt haben, wird mir meine Qualität zweifelhaft. Bis auf diesen Augenblick habe ich Sie für einen verkappten Demokraten gehalten. Sie haben mir doch einmal bemerkt, daß der Herr Oberbürgermeister Ihr Freund sei. Und gerade deswegen habe ich Ihnen alles erzählt, was ich gegen ihn auf dem Herzen hatte. Ich wollte, es sollte zu einer Untersuchung gegen mich kommen, und ich hätte es dann so eingefädelt, daß sie zu einer Untersuchung gegen ihn geworden wäre; das war die einzige Möglichkeit, wie ich nach meiner Ansicht ihm beikommen könnte.“

„Freund?“ sagte Urban achselzuckend, „wie man das nimmt! Ich bin sein Hausarzt, und wir standen auf ganz gutem Fuße. Aber Alles hat seine Grenze. Haben Sie Papier da?“

Der Commissar zog seine Brieftasche, und Urban dictirte ihm drei Namen. „So,“ fügte er hinzu. „Nehmen Sie sofort Urlaub! Ich liefere Ihnen damit unsre ganze Demokratie sammt ihrem Schutzpatron an’s Messer. Und nun geben Sie sich wegen jenes Harro keine Mühe weiter! Er stand gestern früh mit Bandmüller vor meinem Bette, und ich habe aus ihrem Gespräche genau verstanden, daß er, wenn er in Gefahr käme, über die Berge steigen würde. Der Wirth hat mir gestern erzählt, daß dieser gefährliche Mensch vierzehn Tage hier schon im Quartier gelegen hätte. Jetzt muß ich mich aber beurlauben. Ich bin äußerst matt.“

Die Beamten entfernten sich, und Urban schlich schläfrig treppauf und warf sich auf sein Bett. Nur traumhaft dunkel quälte ihn eine Gruppe, in welcher er Franz Zehren die Schwester des Pascha umarmen sah, und leise empfand er ein schmerzliches Nagen in seiner Brust – das Nagen der Reue. – –

Franz Zehren Milli Hornemann umarmen! Daran hatte der schüchterne, ehrliche, junge Fabrikant wahrlich nicht gedacht, als er neben seinem Führer dem Hause zuschritt, in welchem der Gegenstand seiner glühenden Neigung wohnte. Eine Göttin umarmt und küßt man nicht; man betet sie an. Auf die Kniee wäre er wohl vor ihr gesunken, und ihre weiße Hand hätte er an seine Lippen geführt, wenn er nicht zu viel männliche Würde besessen hätte, der wohl auch von Haus aus eine gewisse Steifheit zu Grunde lag, und – wenn er nicht noch einen andern Grund gehabt hätte, dies zu unterlassen. Er sah so ernst und so trübe aus, als er vor dem schönen Mädchen stand, das ihn als Bräutigam erwartet hatte, und als er die treuherzigen blauen Augen unsicheren Blickes auf sie richtete.

„Ersparen wir uns alle verlegene Einleitungen!“ sagte Milli Hornemann mit dem tiefen Ton ihrer klaren Altstimme kalt, aber nicht unfreundlich. Sie reichte ihm ihre Hand, die er ein paar Secunden fest in der seinigen hielt. „Ich betrachte Sie als meinen künftigen Gatten und gelobe Ihnen Treue,“ scandirte sie deutlich, als ob sie sich plötzlich besonnen hätte, daß er ja nur die Bewegung ihrer Lippen verstand.

Er hatte genug Worte erfaßt, um den Sinn ihrer Rede vollständig zu errathen, und schüttelte leise den Kopf.

„Ich habe mit Ihrer Frau Mutter gesprochen und erfahren, was die Ursache ist, der ich mein Glück verdanken soll, mein theures Fräulein. Ihre Frau Mutter ist mir ehrwürdig, und die schwere Last, welche sie trägt und welche zu erleichtern in meiner Macht steht, soll sie, soviel an mir liegt, keinen Augenblick länger drücken. Ich denke, Sie mißverstehen mich nicht, wenn ich es für unverträglich mit der Ehre eines Mannes halte, die Verlegenheit einer Familie zu benutzen, um sich eine Lebensgefährtin zu erzwingen. Sie lieben mich nicht, denn Sie haben bis jetzt einen Andern geliebt, und man wendet ein Herz nicht um, wie einen Handschuh. Ich glaube auch nicht, daß ich die Eigenschaften besitze, um das zu entflammen, was man gewöhnlich Liebe nennt; mein körperliches Gebrechen bildet dafür wohl allein schon ein unübersteigliches Hinderniß. Aber es wäre vielleicht möglich, daß ein Mädchen, das mich länger kennt, Achtung genug für mich empfindet, um mir ihre Zukunft anzuvertrauen. Es gab eine Reihe unglücklicher Tage, wo ich Ihre Abneigung erfahren mußte und der Hoffnung lebte, Ihnen an Stelle der Abneigung wenigstens jene Achtung einflößen zu können. Seit ich erfuhr, daß Sie liebten, habe ich auch auf diese Hoffnung verzichtet, denn entstehen kann jene Achtung wohl neben der Liebe – Frucht bringen kann sie nicht.“

Er hielt einen Moment inne; ein Strahl von Theilnahme, der ihre Augen warm verklärte, verwirrte ihn, und seine Blicke glitten an den vollen, blendenden Armen nieder bis zu den Händen, die sich in einander falteten. Dann raffte er sich noch einmal zusammen und schloß mit bebender Stimme: „Ich kenne die Leidenschaft der Verzweiflung nicht; es ist unwürdig, sich ganz an ein Unglück zu verlieren. Ich will meinen Weg einsam durch Arbeit gehen. Vielleicht achten Sie mich jetzt so weit, daß Sie fortan in mir einen Freund erblicken. Sie sind frei von jeder Verpflichtung gegen mich, los und ledig. Ich bitte um kein Zeichen Ihres Dankes, außer um die Erlaubniß, heimkehren zu dürfen.“

Emilie deutete stumm auf einen Stuhl, und er gehorchte zögernd ihrer Aufforderung und nahm Platz. Er wagte nicht sie anzusehen und vernahm nichts von den abgebrochenen Worten, die sie vor sich hinflüsterte.

Sie war schon so sicher und so entschieden gewesen; die klare Ruhe des Entschlusses hatte etwas so Wohlthuendes für sie gewonnen, daß sie dankbar dafür war nach allen den Zweifeln, dem Ringen, den Qualen und Stürmen der letzten Zeit. Warum mußte dieser Mann kommen, um sie noch einmal vor die Entscheidung zu stellen? Nein – sie wollte Ruhe haben; die Brücke, die sie in jener Nacht hinter sich abgebrochen, als sie aus dem Kahne des Gewaltthätigen gesprungen war in die aufblitzende Fluth, sie sollte abgebrochen bleiben. Vielleicht mußte sie es sogar, denn sie hatte den Mann, der um ihren Besitz das Aeußerste wagte, in den Tod fahren lassen, vor dem nur ein Wunder ihn bewahrt hatte. War er nicht damit aller Wahrscheinlichkeit nach für sie verloren? Der Gedanke, die Braut des braven, ehrenhaften Mannes zu werden, der dort vor ihr saß, war ihr etwas Vertrautes geworden.

Und doch – wenn sie dachte, daß sie seinen Kuß, seine Umarmung dulden müßte – –. Ein leiser Schauder überkam sie. –

Plötzlich richtete sie sich entschlossen auf. „So geht es vielleicht,“ murmelte sie.

Auf dem Tische stand noch das Schreibzeug neben dem Papier. Zehren, der mit klopfendem Herzen in seiner gedrückten Haltung verharrt hatte, blickte empor und sah, wie die biegsame Gestalt des geliebten Mädchens halb abgewandt sich vom Stuhle über den Tisch neigte und wie die Feder in ihrer Hand in raschem Fluge die Zeilen füllte. Dann streute sie Sand darauf, nahm eine Oblate – und nun stand sie, das Antlitz in tiefes Roth getaucht, vor ihm und überreichte ihm ruhig und freundlich den Brief, auf welchem als Aufschrift die Worte standen: „Unterwegs zu lesen!“ – Er verneigte sich, aber er sah, daß sie ihm die Hand darbot, und plötzlich, ehe er wußte, wie es kam, merkte er, daß er die Hand an seine Lippen preßte. –

„Zwei an einem Morgen,“ sagte das schöne Mädchen mit wehmüthigem Lächeln und gedachte des stattlichen Friesen, der jetzt schon fern dem Rheine zuwanderte.

Als Zehren leichten Schrittes und mit wundersam verklärtem Gesicht die Stadt betrat, riß die Sonne die Wolken auseinander, daß das himmlische Licht jäh über Häuser und Straßen fluthete. Die Glocken läuteten feierlich dröhnend vom Thurme der katholischen Kirche, und aus der Entfernung vernahm man das Blasen der Musik und schwach hallenden Gesang.

„St. Kilian,“ sagte der Glückliche überrascht, als er in die weite gerade Flucht der Kaiserstraße hinunter sah. Fahnen flatterten; eine Menschenmenge hatte sich vor dem Kirchplatze gestaut, und als er näher kam, unterschied er die weißgekleideten Mädchen mit den lockigen, bekränzten Blondköpfen und den sauberen, blühenden Kindergesichtern, Blumenguirlanden und Dekorationsstücke tragend, wie sie eben in die Straße eingebogen waren, und hinter ihnen kamen die Knaben, und dann der Baldachin mit den bunten Chorknaben davor, über denen

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