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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


auch in ihrem ganzen Wesen während des Lebens eine auffallende Aehnlichkeit mit jenen uns so nahe stehenden Thieren an den Tag legen. Das Gehirn der Helene Becker hatte nach Professor Bischoff das Ansehen eines normalen Thiergehirns und machte ungefähr den Eindruck des Gehirns eines Affen von der Größe eines Pavians.[1] Besonders schlecht entwickelt und nach vorn zugespitzt waren die Stirntheile, während dagegen das kleine Gehirn sowie die mittleren und unteren Theile des großen Gehirns eine normale Entwickelung zeigten, sodaß also der enorme Defect oder Mangel des Gesammtgehirns fast nur durch die schlechte Entwickelung der beiden großen Hirnhalbkugeln oder derjenigen Theile des Gehirns bedingt war, welche der Intelligenz oder dem geistigen Wesen vorstehen. Nur der sogenannte Balken, welcher die beiden großen Hirnhalbkugeln untereinander verbindet und ebenfalls zu den mittleren Theilen des Gehirns gerechnet wird, befand sich in sehr verkümmertem Zustande.

Die Windungen der Gehirnoberfläche waren noch weniger zahlreich, als diejenigen an dem Gehirne der menschenähnlichen Affen, und zeigten auch in ihrer sonstigen Beschaffenheit und Anordnung „zahlreiche Affenähnlichkeiten“. So fehlte die dritte Stirnwindung, welche durch ihre starke Entwickelung die Breite der menschlichen Stirn und der menschlichen Stirnlappen bedingt, ebenso wie am Affengehirne, fast gänzlich (sogar das Gehirn des Gibbon, des niedrigsten der menschenähnlichen Affen, zeigt diese Windung besser entwickelt), und der vordere Schenkel der sogenannten Sylvischen Grube oder jenes tiefen Einschnittes, welcher den vorderen Hirnlappen von dem mittleren trennt, zeigte sich ebenso verkümmert und kaum vorhanden, wie am Affengehirne. Auch die Bildung des Schädels der Helene Becker, eines der kleinsten bekannten Menschenschädel, zeigte mehrere Affenähnlichkeiten. Fast alle sogenannten Schädelnähte waren offen bis auf die beiden Schuppennähte und die sogenannte Pfeilnaht, welche letztere fast geschlossen war und welche sich auch an dem Schädel der menschenähnlichen Affen zuerst schließt. Der Unterkiefer war nicht spitz wie sonst, sondern bildete einen rundlichen Bogen wie bei einem neugebornen Kinde.

Einige weitere Affenähnlichkeiten fanden sich auch im übrigen Körper, so in der Anordnung mehrerer Muskelgruppen, in der Bildung der sogenannten Darmfalten, in der anatomischen Anordnung der großen, aus dem Herzen entspringenden Gefäße etc. Uebrigens ließ sich im Gehirne der Helene Becker keine Spur eines krankhaften Processes nachweisen, welcher als Ursache oder Veranlassung der merkwürdigen Verkümmerung desselben hätte angesehen werden können. Auch eine erbliche Ursache ist nicht aufzufinden, da beide Eltern gesund und wohlgebildet sind und aus Familien stammen, in denen ein ähnliches Leiden seit Menschengedenken nicht vorgekommen ist.

Diesem merkwürdigen Sachverhalt entsprechend, stand die Helene Becker während ihres Lebens auf einer Stufe körperlicher und geistiger Befähigung, welche sie dem Thiere nicht blos sehr nahe, sondern in vielfacher Beziehung unter dasselbe bringt. Sie konnte nicht sprechen sondern brachte nur thierische, unarticulirte Töne oder Schreie hervor, welche indeß, gerade so wie bei den Thieren auch, verschieden waren, je nachdem sie Freude oder Unlust ausdrücken wollte. Sie hatte kein Gedächtniß, keine Anhänglichkeit an bestimmte Personen und machte auch keinerlei geistige Fortschritte. Sie äußerte kein bestimmtes Verlangen nach Essen und Trinken, sondern mußte künstlich gefüttert werden; sie konnte auch nichts ergreifen oder festhalten. Ihre Sinne waren zwar alle gut und thätig, bis auf ein krankes Auge, aber die durch dieselben hervorgebrachten Eindrücke waren außer Stande, Vorstellungen oder ein geistiges Leben zu wecken. Das Auge war stier und ausdruckslos, nur glänzende, grellrothe Gegenstände oder Musik vermochten ihre Aufmerksamkeit zu erwecken. Sie lachte nicht und weinte nicht, spielte auch nicht mit Puppen. Der Schlaf der Helene Becker war, wie bei allen mikrocephalen Kindern äußerst leicht, oft unterbrochen und mußte in der Regel durch Opium erzwungen werden; das geringste Geräusch weckte sie auf. Im Wachen war ihr Körper in einer steten rastlosen Unruhe und Beweglichkeit was auf den Beschauer äußerst unangenehm und ermüdend wirkte; ihre Bewegungen hatten oft etwas Affenartiges.

Bedeutend bessere Fähigkeiten zeigt Helenens noch lebende Schwester, Gretchen Becker, welche der Verfasser dieses Aufsatzes am 8. Januar dieses Jahres dem Vereine hessischer Aerzte in Darmstadt vorstellte. Sie ist sieben Jahre alt und hat, obgleich in derselben Weise mikrocephal, wie ihre Schwester, doch in allen ihren Kopfmaßen gegen diese einen ungefähren Vorsprung von einem halben Zoll. Ihre Stirn ist mehr sichtbar; der Schädel fällt nicht so dachförmig nach beiden Seiten ab, die Augenhöhlenränder sind nicht so vortretend, wie bei der Helene Becker. Das Auge hat einen gewissen Ausdruck und ist äußerst beweglich. Es drückt sich darin große Neugierde aus, welche dem Kinde auch sonst in hohem Grade eigen ist, indem es nach allen Gegenständen im Zimmer greift und sie untersucht. Es hat, wie seine Schwester, keinen Augenblick Ruhe und zeigt deren affenartige Beweglichkeit in noch höherem Grade, indem es fortwährend auf Tische und Stühle klettert. Offenbar ist die Kleine im Stande, über ihre Muskeln eine größere Herrschaft auszuüben, als ihre Schwester. Sie erschrickt sehr leicht bei plötzlichen Tönen, z. B. wenn ein Wagen fährt, oder bei Hundegebell, hat aber, wie ihre Schwester, Freude an Musik und glänzenden, grellrothen Gegenständen. Sie spielt mit Puppen, wirft sie aber sogleich wieder fort, sodaß man sich veranlaßt gesehen hat, ihr keine solchen mehr zu reichen. Sie spielt mit andern Kindern, wobei sie großen Eigensinn an den Tag legt, am liebsten aber mit Thieren, wie Pferden, Hunden, Katzen. Sie zerreißt ihre Kleider und andere zerreißbare Gegenstände gern und ist sehr zornig und beißsüchtig. Sie lacht und weint, kann aber nur das einzige Wort „Mama“ hervorbringen. Statt der übrigen Aeußerungen durch die Sprache stößt sie unarticulirte Töne und Schreie aus, aber nicht so laut und ungeberdig, wie Helene und wie ihr noch zu beschreibender Bruder Franz. Ihr Schlaf ist besser, als der Helenens es war, aber doch auch sehr leicht und oft unterbrochen. Alle Sinne sind gut; Empfindlichkeit der Haut ist da, aber nicht nachhaltig, sodaß sie Schmerzen durch Schneiden, Stechen oder dergleichen schnell vergißt. Gegenstände kann sie ergreifen und festhalten; sie kann ihre Bedürfnisse äußern und selbst essen, sogar Suppe mit dem Löffel. Essen und Trinken verlangt sie durch Geberden. Sie hat auch Anhänglichkeit an bestimmte Personen. Ihr übriges geistiges Leben ist fast gleich Null.

Auf einer noch viel tieferen Stufe und selbst tiefer als die Helene steht der gegenwärtig vier Jahre alte Bruder Franz, dessen Kopfbildung die ungünstigste unter den drei Geschwistern ist. Er ist so ungeberdig, daß er nicht einmal transportirt und daher auch von den Eltern nicht in Vereinen vorgestellt werden kann. Er lacht und weint nicht, zerreißt Alles, was er in die Hände bekommt, muß vollständig gefüttert werden, schläft gar nicht, es sei denn mit Hülfe von Mohnthee, und ist in allen Stücken das in die höhere Potenz erhobene Gegenstück seiner Schwestern.

Daß diese unglücklichen Geschöpfe im inneren Bau ihres Körpers und ihrer Organe viele Aehnlichkeiten mit den entsprechenden Bildungen bei Thieren, insbesondere bei den uns am nächsten stehenden Affen, zeigen, das wurde, wie oben gesagt, an der Hand eines so ausgezeichneten und zuverlässigen Beobachters, wie Professor Bischoff, nachgewiesen. Aber auch ihr Benehmen im Leben läßt diese Aehnlichkeiten deutlich erkennen. Die Rastlosigkeit, die Neigung zum Klettern, die Neugier, die sexuelle Erregbarkeit, die Unfähigkeit zu lachen oder zu weinen und einiges Weitere können zum wenigsten als Annäherungen an die uns zunächst stehende Thierheit betrachtet werden. Auch die merkwürdige Neigung des Gretchen Becker zum Umgang mit Thieren darf um so eher hierher gerechnet werden, als auch von andern Mikrocephalen Aehnliches berichtet wird. Die Marie Sophie Wyß in Hindelbank bei Bern lief den Hunden auf der Straße nach, balgte sich mit ihnen herum und jagte ihnen ihr Fressen ab. Von dem Michel Sohn und dessen Bruder, welche im Jahre 1833 als Kinder einer armen, bei Bromberg wohnenden Wittwe bekannt und in dem amtlich über sie erstatteten Berichte als „menschliche Affen-Organismen“ bezeichnet wurden, wird mitgetheilt, daß sie gern Bäume erkletterten und dabei ein thierisches Geheul ausstießen, daß sie Alles zerrissen oder zerpflückten und ihre Gefühle oder

  1. Man vergleiche: „Abhandlungen der mathematisch-physikalischen Classe der königlich bairischen Akademie der Wissenschaften“, elfter Band, zweite Abtheilung, Seite 119 und folgende.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 281. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_281.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)