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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)

Der Reichstagsabgeordnete Hausmann ist mit der neuesten Geschichte des Fürstenthums Lippe eng verwachsen. Der Verfassungskampf, den das Land seit einem Vierteljahrhundert geführt hat, ruhte vorzugsweise auf seinen Schultern. Das große Ansehen, das er in der Bevölkerung genießt, hat er nicht etwa im Sturme, auf der Rednertribüne errungen. Seine oratorischen Gaben sind nicht gerade bedeutend. Seine Feder ist schwer und entbehrt der journalistischen Eleganz. Wie seine Rede, so ist seine schriftliche Diction eine an den gefunden Menschenverstand und an das Rechtsbewußtsein appellirende Auseinandersetzung. Aber man hört auf das, was er sagt und schreibt, weil man Respect hat vor seinem klaren Verstande, vor seiner redlichen Gesinnung, vor seiner rücksichtslosen Energie, weil sich diese wie jener in einer langen Reihe von Jahren, unter den schwierigsten Verhältnissen erprobt haben. Schon als junger Jurist kam er in eine oppositionelle Stellung zur lippeschen Bureaukratie.

Im Fürstenthum Lippe war in den vierziger Jahren und ist noch heute Justiz und Verwaltung nicht getrennt. Ein lippescher Amtmann ist in seinem Bezirk Verwaltungsbeamter und Richter zugleich, und es hat Amtmänner gegeben, die an Willkür einem türkischen Pascha Nichts nachgaben. Zu einem solchen kam Hausmann, bald nachdem er sein juristisches Examen absolvirt hatte. Herr Liebich war das Vorbild des Gellert’schen Amtmanns, der lediglich durch Machtsprüche regierte. Ich habe ihn selbst gekannt und erinnere mich seiner als einer stattlichen Figur, wohlbeleibt, hoch aufgerichtet und würdevoll die Straße entlang schreitend, Jeden, der ihm begegnete, fest ansehend, als ob er einen Gruß erwarte, und halb zürnend halb schmerzlich bewegt mit den Lippen zuckend, wenn dieser nicht erfolgte. Schlimmer noch als seine Bauern waren seine Untergebenen, Assessor, Auditor, Untervogt und Pedell, daran. Er tyrannisirte und chicanirte dieselben in tragikomischer Weise. Da er ein Hagestolz war, so sollte die Gerichtsstube ihm das Familienzimmer ersetzen, und er dehnte die Verhandlungen in’s Unendliche hinaus, um sich die Zeit zu vertreiben; die unglücklichen Assessoren und Auditoren mußten die Protokolle, die er dictirte, niederschreiben bis in die Nacht und dazwischen anhören, wie er mit lächerlichem Pathos Stellen aus den Classikern recitirte. Einen Assessor, dem die Tyrannei zu arg wurde und der einen Anlauf nahm, sich zu emancipiren, hat er eigenhändig durchgeprügelt. Der Zerbläute erhob Klage oder Beschwerde bei der Regierung. Der Amtmann leugnete; der einzige Zeuge, der Amtspedell, sagte aus, daß er zwar denn Assessor auf der Erde liegend und den Amtmann knieend mit Jenem beschäftigt gesehen, aber keine Prügel wahrgenommen habe. Die Regierung verfügte, daß frühere Assessoren verhört werden sollten, ob sie den Amtmann einer solchen That wohl für fähig hielten, aber ehe diese Vernehmung erfolgte, zog der Assessor seine Beschwerde zurück, und die Regierung fand sich nicht gemüßigt, auf Fortsetzung der Untersuchung zu bestehen. Es blieb also beim Alten.

Zu diesem Amtmanne kam Hausmann. Es waren Jahre der grausamsten Quälerei. Vor dem Schlimmsten wußte er sich freilich zu sichern. Es mochte ihn der Gedanke anwandeln, daß der Pascha sich auch einmal an ihm vergreifen könne. Er erzählte also eines Tages Jenem beim Becher, daß er ein außerordentlich jähzorniger Mann sei, daß er in seinem Jähzorne kein Maß kenne und gelegentlich dann sogar zum Messer greife. Die Erzählung erwies sich als ein vortreffliches Präservativ gegen den ebenso feigen wie brutalen Menschen. Wenn die Beiden später in Wortwechsel geriethen und Hausmann eine zufällige kleine Bewegung mit der rechten Hand machte, so sprang Liebich ein paar Schritte zurück, schrie auch wohl: „Lassen Sie das Messer nur stecken!“ Aber Friede hatte der Auditor darum doch nicht; es war ein ewiger Kriegszustand zwischen ihm und seinem Obern. Die endlosen Protokolle, welche der Amtmann dictirte und der Auditor niederschreiben sollte, waren eine unversiechbare Quelle des Haders. Unzählige Male weigerte sich Hausmann, die Dictate zu Papier zu bringen, denn der Amtmann hatte u. A. auch die abscheuliche Gewohnheit, Dinge in’s Protokoll aufzunehmen, welche die vor Gericht stehenden Parteien gar nicht gesagt hatten. Auch daß Hausmann nicht bis in die Nacht hinein auf dem Amte bleiben wollte, sondern zur bestimmten Stunde die Feder niederlegte, den Hut nahm und nach Hause ging, war ein fortwährender Anlaß zu Reibungen. Der Amtmann beschwerte sich eines Tages über seinen Auditor bei der Regierung; diese forderte den Verklagten zur Vernehmlassung auf, und derselbe kam der Aufforderung nach, indem er eine drastische Schilderung von dem ganzen Thun und Treiben des Amtmanns einreichte. Der Letztere erhielt eine Abschrift davon, und die Schilderung verdroß ihn so, daß er seine Beschwerde nicht weiter verfolgte. Aber der Kriegszustand hörte darum nicht auf; der Pascha besserte sich nicht, und auch die Regierung that keinen Schritt, um dem unleidlichen Zustande ein Ende zu machen. Daß Hausmann aus dieser seiner Stellung, als er dieselbe später mit dem Posten eines Stadtrichters in Horn vertauschte, eine wohlbegründete Abneigung gegen den Bureaukratismus mit hinwegnahm, lag in der Natur der Dinge. Die Revolution von 1848 berief ihn in den constituirenden lippeschen Landtag, und er war bald der erklärte Führer der demokratischen Partei in demselben. Er ist das Haupt dieser Partei noch heute, und wenn auch der Name „demokratische Partei“ im Laufe der Zeit und unter dem Drucke einer tollen Reaction – welche ebenso sprüchwörtlich in Deutschland geworden ist wie die mecklenburgische – demjenigen der „Fortschrittspartei“ weichen mußte, die Ziele und Bestrebungen sind die gleichen geblieben.

Um die drei bis vier Stunden Wegs von Lemgo nach Horn in einem Ruck zu durchmessen, reichte der postalische Verkehr für mich nicht aus. Ein Postwagen fuhr Abends von Lemgo nach Detmold, aber nicht weiter nach Horn. Hausmann machte mich, als er die Ankündigung meines Besuches beantwortete, brieflich darauf aufmerksam und versprach, mich vom Posthause in Detmold mit seinem eigenen Fuhrwerk abzuholen. Im Postwagen von Lemgo nach Detmold war ich der einzige Passagier, aber den einsamen, nächtlichen Weg, den ich in jungen Jahren gar oft zu Fuße gewandert, verkürzten mir nicht nur die Erinnernungen an vergangene Tage, sondern auch der blasende Postillon. Hier in den lippeschen Bergen scheint die alte Kunst, dem Posthorne melodische Töne zu entlocken, die in vielen Theilen des Reiches fast erloschen ist, noch zu blühen. Der Schwager blies das Mantellied so präcis, daß ich mich gedrungen fühlte, ihm seine Kehle beim ersten Wirthshause anfeuchten zu lassen und ihn so zu mehrmaliger Wiederholung zu reizen. Wie die vollen Töne so melancholisch klangen, als wir durch das dunkle Gehölz, und dann so schmetternd, als wir hinabrasselten von der Höhe in die hell und freundlich erleuchtete Residenz!

Im Posthause traf ich den Freund, und an seiner Seite rollte ich in dessen Halbchaise bald dahin auf dem Wege nach Horn. Er führte selbst die Zügel und lenkte das Pferd, eine Peitsche verschmähend, mittelst derselben. Ein warmer Thierfreund, wie er ist, – die richterliche Bewährung dieser Freundschaft für die gefiederten Sänger des Waldes hat ihm einstmals einen Proceß und eine Geldstrafe zugezogen – steht er auch auf cameradschaftlichem Fuße mit seinem Roß. Ich erhielt auf dieser Fahrt sofort eine Probe davon. Wir mochten unter lebhaftem Gespräch eine halbe Stunde gefahren sein, als unsere lebendige Locomotive plötzlich stehen blieb. Besorgt fragte ich Hausmann, was das zu bedeuten haben möge.

„O,“ sagte er, „das ist nichts Ungewöhnliches; der Gaul ist ein ziemlich altes Militärpferd, das mitunter das Bedürfniß fühlt, ein wenig auszuruhen. Er wird gleich von selbst weitergehen.“

In der That setzte sich das Thier nach Verlauf von zwei oder drei Minuten wieder in Trab. Es machte noch ein oder zwei Mal solche Pausen während der Fahrt, sonst aber griff es kräftig aus und brachte uns ziemlich rasch vor Hausmann’s Wohnung.

Das Städtchen Horn hat an und für sich keine besonderen Reize. Es ist ein Landstädtchen mit etwa zweitausend Einwohnern, die größtentheils vom Ackerbau leben. Der Wohlstand, der unter ihnen herrscht, fällt wenig in’s Auge. In dieser kleinbürgerlichen Welt ist noch Alles streng zugeschnitten auf den Bedarf, nicht auf die Schönheit und auf den Schmuck des Lebens. Um den städtischen Häusercomplex, von welchem man draußen nur die einförmigen rothen Ziegelsteindächer sieht, lagern sich rings Gemüsegärten, und daran schließen sich nach allen Richtungen hin, Hügel auf Hügel ab, bis zu den Waldrändern hin, die Korn- und Kleefelder der Bürger Horns, nur hier und da von lebendigen Hecken eingerahmt und durchbrochen. Aber die weitere Umgebung der Stadt ist von hoher landschaftlicher Schönheit. Mein

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 286. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_286.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)