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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


gekommen und dämpfte die sonnige Tageshelle, welche meist von ihm ausströmte. Nahm er ein Buch zur Hand, so ruhte es bald müßig auf seinem Knie und der in das Weite gerichtete Blick schien Worte zu lesen, die ein unsichtbarer Griffel in die Luft geschrieben. Mitten im Gespräch über Gleichgültiges sprang ein kurzes, glückliches Lachen auf, wie ein Blitz verhaltener Freude. Er sprach nicht über solche Stimmungen, seine Mutter wußte aber gut, weshalb er sie oft so lebhaft umfing, so häufig küßte. Sie schwieg, seufzte wohl ganz im Stillen ein wenig – was heute noch ein Traum, eine Erinnerung war, konnte sich vielleicht bald zu jenem Neuen verdichten, welches jedem liebenden Weibe, sei sie nun Mutter, Schwester oder Frau, im ersten Augenblicke furchtbar erscheint. – –

Es war um die Zeit voller Mittagshöhe, als der Dampfer, welcher Hermann seiner Bestimmung entgegentrug, landete. Der junge Mann sprang leichten Fußes auf den Kai, gab den Matrosen eine Adresse an, wohin sein Gepäck gebracht werden sollte, und richtete dann seine Schritte den Anlagen zu, welche sich rings um die Stadt zogen. Dieselbe Erregung, welche jede seiner Geberden, seinen Gang beherrschte, färbte auch sein angenehmes Gesicht mit leichter Röthe, während er die zur gegenwärtigen Stunde völlig menschenleeren Laubgänge durcheilte.

Als sich die Anlagen in der Nähe eines Stadtthores öffneten, wurde sein Schritt zögernd; sein leuchtendes Auge spann ein rebenumzogenes Häuschen, das dicht an der Straße lag, gleichsam ein; er setzte sich auf eine der Bänke, die einladend unter den letzten Platanen standen, und schaute lächelnd auf das von der Sonne umfunkelte Haus. Plötzlich fiel ein Schatten über die helle Stirn. – Zwei Jahre! – Wer weiß? Es ließ ihn nicht mehr ruhen; er stand hastig auf und ging ohne Zögern dem Hause zu, ohne doch dort einzutreten. Sein Auge spähte nur erwartungsvoll in die Fenster des Erdgeschosses; jählings stieg ihm das Blut bis unter die Haare.

Da saß sie ja – an demselben Platze noch, wo er sie damals so oft gegrüßt, die Näharbeit in den fleißigen Händen. Sie blickte nicht auf, und er wußte kaum, ob ihm das leid oder lieb war, denn nun konnte er sie ein paar Augenblicke betrachten. – Nicht verändert, oder doch nur wenig! Der feine Kopf mit den schweren dunkeln Flechten, die sie auch jetzt noch so einfach verschlungen trug, zeigte das früher kindlich gerundete Gesichtchen vielleicht etwas ovaler; die zarte Gestalt schien voller geworden, im Uebrigen aber war sie es ganz – ja ganz! in all ihrer unbewußten Anmuth, mit der schlichten und doch so eigenthümlichen Haltung, mit dem feinen Zuge um den auch im Schweigen beredten Mund.

Ein Glücksgefühl wallte in ihm auf; er mußte sich Gewalt anthun, nicht stehen zu bleiben und ihren Aufblick abzuwarten, nicht gar einzutreten in das Haus, welches er doch niemals zuvor betreten hatte. Als er weiter ging, war sein Schritt, sein Herz beflügelt. Im Begriff, sich durch das Thor der Stadt zuzuwenden, besann er sich, warf einen flüchtigen Blick über seine durch die Wasserfahrt kaum derangirte Toilette, sah nach der Uhr und schlug dann den weiteren Weg durch die Anlagen zur Linken ein. Es war, um einen Besuch abzustatten, allerdings fast noch zu früh, doch wußte er, daß die Familie, zu der sein Wunsch ihn zog, von drei Uhr an für nähere Bekannte stets zu Hause war, und hierzu durfte er sich ja rechnen. Weshalb überhaupt dem lebhaften Zuge, der ihn lockte, nicht folgen, einer bloßen Etiquettenfrage wegen?

Die schöne Villa, in welche er bald nachher trat, lag etwas seitwärts von der Straße, inmitten eines schattigen Gartens. Schon bei dem flüchtigsten Ueberblicke der kleinen Niederlassung gewann man den Eindruck der Wohlhabenheit. Manchen Häusern ist gleichsam etwas von der Physiognomie ihrer Besitzer aufgeprägt; in diesem erschien Alles vornehm und stattlich. So auch der schnurrbärtige, martialisch dreinschauende Diener, welcher auf Hermann’s Klingeln öffnete und bei dessen Anblick ein unendlich gutmüthiges Lachen vernehmen ließ.

„Aha, der Herr Lieutenant! Na, die Herrschaften haben alle die Tage her davon geredet, daß Sie nun bald kommen müßten. Treten Sie gefälligst ein! Der Herr Oberst sind nicht da, aber die gnädige Frau sitzt im Gartensälchen. Melden braucht’s da nicht erst.“

Rasch schritt der junge Mann dem wohlbekannten Familienzimmer zu und stand im nächsten Augenblicke vor der alten Freundin seiner Mutter, die ihn freudig willkommen hieß. Gleich im ersten Moment ward ihm wieder wohl bis in’s Herz hinein dieser mütterlichen Frau gegenüber, welche auf Alle, die in ihre Nähe gelangten, leise aber dauernde Anziehungskraft übte. Clara Kettler mochte nie schön gewesen sein, anmuthig war sie aber noch heute, und wenn sie sprach, erwachten in dem zarten, verblühten Gesicht ein paar Grübchen, die sie unendlich verjüngten. Diesem Aeußeren entsprach ihr Wesen. Mehr herzlich als geistreich, mehr harmonisch als beweglich, von der wohlthuendsten Ruhe in Wort und Geberde, in ihrer Denkweise ursprünglich und durchaus wahr: so hatte Hermann’s Mutter ihm ihre Jugendfreundin geschildert, als sie ihm die ersten Grüße mitgegeben; so hatte er sie im fast täglichen Verkehre jener Wochen erfunden.

„Der Herr Oberst ist nicht zu Hause – aber doch hier?“ fragte Hermann nach den ersten Begrüßungen.

„Noch ist er hier,“ sagte Frau Kettler, „aber er denkt in Kurzem für einige Wochen nach Paris zu gehen, was mir lieb ist. Ihnen darf ich es wohl sagen, lieber Hermann, und Sie werden es rasch genug selbst erkennen – mein Mann ist tief verstimmt. Zwar spricht er nicht darüber, aber es verräth sich mit jedem Athemzuge, und ich weiß ja auch, was ihn drückt. Nie hat er es überwunden, daß jener unglückliche Sturz, der ihm den Fuß beschädigte, seine Carriere mitten durchschnitt. Für einen Mann seines Naturells ist ein Leben, das nur für Liebhabereien thätig sein kann, auch wahrlich nicht befriedigend. Nun regt sich ringsum ein doppelt frisches militärisches Treiben; ein Krieg ist in Aussicht – da muß es ihm gar schwer fallen, als Zuschauer daneben zu stehen. Sobald er den Gedanken hinwarf, eine Reise zu unternehmen, habe ich ihm lebhaft zugeredet. Wer weiß, wie sich die Dinge gestaltet haben werden, bis er heimkehrt. Eben ist er mit Ida nach der Stadt gegangen, um einige kleine Reisebedürfnisse einzukaufen.“

„Und Fräulein Ida geht es gut?“

„Eine glückliche Braut, neunzehn Jahr dazu, wie sollte es Einem da nicht gut gehen! Aber Sie sprechen von Ida und fragen nicht nach Paula? Die Beiden pflegt doch Jeder in einem Athem zu nennen.“

Verrätherisches Roth jagte seiner Antwort voraus. „Ich komme direct vom Kai; da führte mich mein Weg am Hause Fräulein Hollbach’s vorüber. Sie saß am Fenster. Wenn sich auch keine Gelegenheit ergab, mich bemerklich zu machen, sah ich doch, daß sie wohlauf zu sein scheint.“

„Nun, heute Abend sind Sie natürlich bei uns, und da Paula selten ausbleibt, können Sie sich davon persönlich überzeugen. Im Hause dort ist Alles beim Alten: Die Mutter an ihren Krankenstuhl gefesselt, Paula ihre treue Pflegerin. Beständen wir beiden Mütter nicht so entschieden darauf, daß sie die Abende regelmäßig mit Ida verlebt, so würde sie sogar dann zu Hause bleiben; sie hat dazu neuerdings manchen Anlauf genommen. Zum Glück ist Frau Hollbach aber mit mir einverstanden, daß so gänzliches Einspinnen für die Jugend ungesund ist; sie gönnt der Tochter nicht nur, sondern beansprucht für sie jugendlichen Verkehr. Je freier von Egoismus sie sich aber zeigt, desto mehr erscheint gesteigerte Hingabe Paula als Bedürfniß. Um das gebundene Leben einer Leidenden webt sich eine natürliche Melancholie, die für die Umgebung etwas gefährlich Anziehendes hat gleich dem Wasser.“

„Zur Melancholie zeigte Fräulein Hollbach doch früher niemals Hang,“ sagte Hermann betroffen; „ihre sonnige Heiterkeit –“

„Ist nicht verloren gegangen,“ vertheidigte Frau Clara. „Jenes frische Erfassen des Augenblicks, das auf Jeden so erfreulich wirkt, ist ihr auch jetzt noch eigen. Das Mädchen hat sich herrlich entwickelt, und wenn ein gewisser Hang zur Träumerei mir an ihr neu und deshalb besorglich ist, so muß ich doch sagen, daß auch dies ihr gut steht. Sie werden ja sehen. Ich freue mich auf die kleine Ueberraschungsscene. Wir haben ihr nicht erzählt, daß wir Sie erwarten.“

„Worauf Fräulein Paula auch schwerlich Gewicht legen würde,“ sagte der junge Mann etwas hastig.

„Wer weiß!“ Die leise Schelmerei, welche aus den Augen der Freundin lachte, stand ihrem sanften Gesichte besonders wohl;

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 288. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_288.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)