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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


mit der Hand beschattet, schien er in sich hinein zu sinnen, bis er endlich in etwas bewegtem Tone sagte. „Ich habe mir überlegt: nicht Alles ist damit gethan, wenn ich eines Tages – von der Jagd nicht heimkehre. Erfahren Sie nicht, wie der Augenblick möglich wurde, dessen Zeuge Sie gewesen, so bleibt an ihr ein Makel haften; Sie würden lebenslang gering von ihr denken. Das darf nicht sein. Ich will versuchen – sie selbst weiß ja kaum –“

Er schwieg von Neuem; seine Finger rollten ein leeres Briefcouvert, das vor ihm auf dem Tische lag, mechanisch auf und zu. Plötzlich richtete er sich straff in die Höhe.

„Als ich vor etwa sechs Jahren den Abschied nahm,“ begann er, „und wir uns hier ankauften, entstand gleich in den ersten Monaten eine Schulfreundschaft zwischen den beiden Mädchen und Paula kam häufig zu Ida auf Besuch. Meine Frau gewann das Kind lieb und knüpfte eine Bekanntschaft mit der schon damals kränklichen Mutter an. Bald wurden die Mädchen unzertrennlich. Paula galt uns, je länger je mehr, als zur Familie gehörig. Alle waren ihr gut; jeder Dienstbote freute sich, sobald sie erschien. Welch ein Kind! Wie ein Thautropfen, in dem die Sonne sich spiegelt – Licht, Klarheit, Freude blitzte aus jeder Regung, und dabei zeigte sie, damals schon, im Alter der Selbstsucht, die rührendste Pflichttreue. Als Sie, Barner, vor zwei Jahren Paula kennen lernten, war sie in Wirklichkeit noch ein Kind, nur die Erscheinung voll aufgeblüht, das ganze Wesen aber noch in der Entwickelung begriffen. Sie gehörte zu unserm Leben, unseren Tagen wie ein Theil von uns selbst.

Damals fing der Zustand ihrer Mutter an sich zu verschlimmern, nur die Abendstunden blieben dem Mädchen frei; ohne daß man es sich sagte, wartete Jeder im Hause auf den Abend. Ich hatte Paula lieb wie meine Ida; sie war mir eine Augenweide, doch dachte ich kaum an sie, wenn ich sie nicht vor mir sah. Oft schalt ich sie auch, weil sie sich im Verkehr mit den jungen Männern unseres Kreises zuweilen allzu scheu, fast herbe gab. Oft auch habe ich sie spät aus unserm Hause oder aus Gesellschaften heimgeleitet; da hing sie kindlich an meinem Arme und beichtete in harmloser Fröhlichkeit Alles, was ihr begegnet war. Aber Sie wissen, wie es mitunter im Frühlinge geht, wo alle Pracht mit einem Male unaufhaltsam vordringt – so brach seit dem letzten Winter diese herrliche Natur voll aus der Knospe. Sie sahen es ja selbst, aber nur ihre Nächsten kennen sie ganz. Ihre Anmuth besiegte Jedermann – wir waren stolz auf sie. Da begann es, daß ich zuweilen, wenn ich arbeitete oder mit Anderen zusammen war, die Stimme der Abwesenden dicht neben mir zu hören meinte, deutlich, lebendig, wie wenn man liebe Stimmen im Traume sprechen hört – gleichgültige Worte, aber in herzergreifendem Tone. Und dann – eines Tages –“

Er brach ab und sah mit jenem Blicke in's Weite, der nicht sieht, der nur in's Bodenlose hinein denkt.

„Eines Nachts,“ sagte er in Hast, „eines Nachts fuhren wir vom Mittfastenballe nach Hause. Meine Frau und Ida stiegen bei unserem Hause aus; ich fuhr mit Paula weiter, um sie sicher in ihre Wohnung zu bringen. Als ich dort den Wagen verlassen hatte und ihr die Hand reichte, sie herauszuheben, glitt ihr Fuß auf dem Trittbrette aus und während des Fallens – ich fing sie im Arme auf – streifte ihr Gesicht das meine. Ich fühlte ihre Lippen auf meiner Wange, eine Secunde nur, ihr unbewußt, denn sie war erschrocken und lachte dann, als sie auf den Füßen stand, über ihr Ungeschick. Seitdem – seitdem hat es mich erfaßt und weicht nicht mehr. Was ich auch beginne, welche Gewalt ich übe – es ist umsonst. – Sie werden das nicht begreifen, gewiß aber begreifen Sie, was es heißt: ein Mann sein, sich aus allen Kräften wehren und beständig unterliegen. Ich wurde irre an mir selbst.

Noch hatte ich zu Anfang Besinnung genug, neben der Schuld auch die Lächerlichkeit meiner Leidenschaft zu empfinden. Vor Andern lächerlich erscheinen, ist eine nicht unüberwindliche Probe. Ein fester Wille, ein mächtiges Gefühl besteht sie, ihr Stachel lockert aber viel, das zuvor fest gestanden. Wie Einer, der sich gebunden fühlt und los sein will um jeden Preis, rang ich Tag und Nacht gegen die dämonische Gewalt. O, furchtbar ist es, wenn ein Mensch Macht über den Andern gewinnt – Gesundheit, Stimmung, Leistungskraft, Alles verschlungen von einem Gedanken, abhängig vom Augenblick, von der ahnungslosen Willkür des Andern; wenn da in lichten Momenten Näheres, Lieberes vor uns aufsteigt, dem all unsere Freuden und Leiden gehören müßten, und man schaudernd fühlt, wie das Alles zu Nichts wird vor der elementaren Macht, die uns zwingt, dann lebt man Momente, wo man an seinen eigenen gesunden Sinnen zweifelt, voll Entsetzen an der Grenze des Wahnsinns zu irren glaubt.“

Er sprang auf. Jeder Nerv der mächtigen Gestalt schien zu zucken. Mit zwei Schritten war er am Fenster, stieß einen Flügel auf und ließ die kühle Herbstluft hereinströmen.

„Dort unten am Brunnen,“ sagte er dumpf, „habe ich solch einen Augenblick verlebt. Es war nicht lange nach jener Nacht; wir waren Alle im Casino. Was ich schon oft gesehen: daß sich der Arm eines Tänzers um sie schlang, ich konnte es nicht ertragen; ich verließ das Local; es trieb mich in die Nacht hinaus. Ja, dort am Brunnen stand ich auf dem öden Platze und drückte die hämmernde Schläfe gegen den Schaft und preßte die Hände ineinander, um nicht vor Qual aufzuschreien, wie ein angeschossenes Thier, und dicht neben mir stand der Wahnsinn –“

Hermann erbebte. Nicht ein Wort hätte er stammeln können, und wenn er sich damit vom Tode loskaufen sollte. Seine Kehle war wie zugeschnürt; sein heißes Auge hatte sich an der Gestalt des Obersten gleichsam festgesogen und irrte ihm beständig nach, während dieser auf und nieder schritt. Drunten im Club war es still geworden. Die Gesellschaft mochte sich in den Speisesaal begeben haben. Und hier oben klang zu dem schweren Tritte im Tacte das fast unnatürlich laute Ticken der Wanduhr.

„Was habe ich nicht Alles versucht!“ sagte Kettler, ohne sein Wandern zu unterbrechen, nach langer, schwüler Pause. „Reisen, Arbeit, Zerstreuung – was man so nennt. Aber kein Segen ruht mehr auf Allem, was ich thun oder lassen mag. Nehme ich ein Buch, so lese ich nicht, was da steht, sondern das, was in mir tobt. O, was sind wir! Was nützt die Ernte eines ganzen Lebens, wenn Erfahrung zu Trümmern wird, Sammlung zur unbändigen Leidenschaft!“ Er blieb einen Moment vor Hermann stehen und sah ihm tiefsinnig in die Augen. „Barner, ich liebe ja mein Weib und mein Kind – nicht um ein Atom weniger liebe ich sie als je. Wenn Clara mich ansieht mit den guten, bangen Augen, wenn ich fühle, wie sie grübelt, was mich so rastlos macht, wenn meine Antwort auf ihre sorgenvollen Fragen sie nicht befriedigt, wenn sie sich tausend Möglichkeiten ersinnt und sich abängstigt, ohne zu ahnen – wie könnte sie auch ahnen nach so vielen Jahren herzlicher Treue! – nicht sie, Niemand erwartet von mir solches Verlorensein.“

Wieder begann das rastlose Wandern. „Ich war jung wie Andere, habe meine Jugend empfunden und genossen, habe geliebt oder meinte es wenigstens. In den Sinnen war es still geworden; ich glaubte mit Allem fertig zu sein, was man Leidenschaft nennt. Leidenschaft! Wie man das so hinsagt und daran glaubt, wenn nur einmal die Pulse rascher schlagen! – Wo sie heimsucht, gilt es mehr als Wallungen – und Sträuben ist vergebens. Seit Monaten gehe ich den Menschen, den Meinen aus dem Wege – nicht aus Schuldgefühl; der Sturm bittet auch nicht um Verzeihung – aber ihre Nähe beängstigt mich. Nicht mehr durfte ich meinem Kinde in die klaren Augen schauen, nicht mehr konnte ich des Nachts den ruhigen Athemzug meiner Frau ertragen; ich bettete mich allein, um wenigstens die Hände ringen und aufstöhnen zu dürfen wenn die Marter zu unerträglich wurde. Sie starren mich an, als spräche wirklich Wahnsinn aus mir? O, nur einmal laßt mich die Qual hinausschreien! Ich durfte es ja Keinem, Keinem sagen.“

Der Unglückliche stürzte um Hermann's Hals und schluchzte convulsivisch auf, doch währte diese Zuckung des Schmerzes nur einen Moment. Im nächsten schon richtete er sich auf, verhüllte seine Augen und sagte dann, indem er sich schwer auf das Sopha warf, mit gewaltsam ruhigem Tone:

„Nach alle dem wissen Sie immer noch nicht, wie das Letzte kam. Während längerer Zeit war ich durch das Ordnen einer Erbschaftsangelegenheit meiner Frau hier gebunden; sobald die Geschäfte mich frei ließen, unternahm ich die Pariser Reise – ein Experiment, das mißlang wie alle vorigen. Trotzdem kehrte ich ruhiger zurück, mit dem Entschluß, nach Ida's Verheirathung mit meiner Frau von hier fort in deren Heimath zu ziehen. Ich

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