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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


Die schwachen Arme hoben sich, ihr Liebstes zu umfangen. Ihr fehlte Gesundheit, Thätigkeit, Freude – ihre Paula war ihr Ersatz für Alles.




Obgleich der Oberst sehr ermüdet von seiner Jagdpartie zurückgekehrt war, ließ er doch die Glieder nicht ruhen, als er sich daheim in seinem Zimmer befand. Er stand am Fenster, reinigte sein Gewehr und blickte zerstreut durch die Scheiben hinab auf die Bäume des Gartens, deren leuchtende Roth- und Orangefärbung selbst die tiefe Dämmerung noch durchdrang. Sein Gedanke kehrte zum Walde zurück, in welchem er den Tag verlebt; – ein trüber Tag, aber trotz des bedeckten Himmels waren auch dort alle Farben des Feuers mit solcher Kraft durch das schwindende Grün gebrochen, daß die ganze Waldung wie von der Abendsonne angeglänzt erschien. Herbst! – – So waren auch in ihm tiefste Gluthen emporgeloht, nachdem sein Frühling und Sommer bereits zu Rüste gegangen. In allen Farben des Feuers war ihm die kraftvolle Seele aufgeflammt, um nun bald als todtes Laub niederzutaumeln auf den Schooß der Mutter Erde.

Es war still, sehr still in ihm. Der Tod ist ein Strom, welcher alle Leidenschaften verschlingt, aus dem allein sie Vergessenheit trinken. Seine Gedanken hatten in der Gewißheit naher Ruhe schon etwas von deren Wohlthat auf Abschlag empfangen. Es gehört viel Kraft dazu, die Vorstellung deutlich zu fassen, daß etwas enden müsse, mag es sich nun um Dinge des Lebens handeln oder um das Sterben. Sobald der Geist aber einmal die Unmöglichkeit begriffen hat, einen Besitz zu bewahren, gehen Wille und Nothwendigkeit Hand in Hand.

In Gedanken verloren, achtete Kettler der einbrechenden Dunkelheit erst, als sich das Zimmer ganz in Schatten gehüllt hatte. Nun zündete er Licht an, setzte sich vor den Tisch, nahm sein Notizbuch hervor und zeichnete bedächtig, immer neu überlegend, einzelne Sätze darin ein. Es betraf verschiedene Anordnungen, die er in den nächsten Tagen mit seinem Notar besprechen wollte. Seine Stimmung war dieselbe, welche ihn einige Jahre früher vor dem Ausrücken zu einem Feldzuge beherrscht hatte. Eine warme und zugleich gelassene Abschiedsstimmung den Seinen gegenüber. Bei ihnen zu bleiben war unmöglich, konnte gar nicht in Frage kommen; so galt es denn nach bestem Ermessen vorzusorgen, daß sie ihn wenigstens, so weit es Aeußerliches betraf, nicht allzusehr vermissen möchten, falls er nicht wiederkehrte. Es war heute weder etwas Gleichgültiges noch Liebloses in seinem Entschlusse, die Lieben zu verlassen; er war so durchdrungen von dessen Nothwendigkeit, daß auch nicht der Schatten eines Zweifels über ihn kam. Die Parze, welche die Zukunft spinnt, wob für ihn keinen haltbaren Faden mehr.

Niemals hatte er vor einem lebenden Wesen die Augen niederschlagen müssen; jetzt zuckte Alles in ihm vor Scham, sobald er an Paula dachte, die er seit jenem verhängnißvollen Abende nicht mehr wiedergesehen. Alle Zartheit der Empfindung, welche ihn Jahre hindurch mit dem Kinde, dem Mädchen verbunden, setzte sich zur Wehre gegen die Erinnerung an den stürmischer Augenblick, wo seine Leidenschaft sich ihr ohne Hülle gezeigt. Wenige Männer verstehen, was es heißt: ein unschuldiges Mädchen; der Vater eines solchen ahnt es wenigstens. Paula, der Zarten, Reinen, hatte er Regungen verrathen, die er in sich selbst immer voll Neuem zu ertödten gesucht – wie mochte sie jetzt seiner gedenken? Jetzt und alle Zeit?

Das war der bittere Tropfen im lockenden Todeskelche, und doch rückte gerade dieser denselben nahe, ganz nah an seine Lippen. Auszulöschen war das Gedächtniß an jenen Augenblick nicht, wo sein Arm das zitternde Kind umfangen, seine heißen Lippen sich auf den scheuen Mund gepreßt, der nicht gab, sich nur hülflos nehmen ließ – aber dieses Gedächtniß konnte sich mildern und klären, denn Alles vergiebt man den Todten, die fern sind und ohne Gewalt.

Der Stift ruhte längst müßig in seiner Hand; die Ruhe, welche noch eben wie kühlender Schatten über ihm gelegen, wich quälender Unrast. Er stand auf und durchwanderte das Zimmer – wer weiß wie viele Male! Da kam ein leichter Schritt die Treppe hinauf und hielt vor seiner Thür an. Da er noch nicht nach Frau und Tochter gefragt, welche seine Heimkehr erst zum nächsten Tage erwarteten, dachte er, es sei Ida, und rief, als sich draußen nichts weiter regte, mit leiser Ungeduld im Tone: „Herein doch!“

Die Thür öffnete sich, und Paula erschien auf der Schwelle; sie drückte das Schloß hinter sich zu und stand unbeweglich da, die Hand auf der Klinke, als sei sie im Begriff zu gehen, statt zu kommen. Kettler hatte ihr im ersten Moment einen raschen Schritt entgegen gethan, als er aber ihre Haltung sah, blieb er wie angewurzelt stehen und sagte mit unbeschreiblich schmerzlichem Ausdrucke: „Sie fürchten sich vor mir? Dahin also ist es gekommen!“

Mehr als der Ton, so erschütternd er klang, traf Paula das Wort selbst. Seit Jahren hatte der Oberst sie nie anders angeredet, als mit dem traulichen Du – der fremde Ausdruck brachte ihr die Spannung des Augenblicks niederdrückend zum Bewußtsein. Sie erblaßte, während sie ihm rasch näher trat; ihre Wimpern zitterten, wie immer, wenn sie stark erregt war und sich Beherrschung abzwang; sie blieb dicht vor Kettler stehen und sagte mit ihrer tiefen, melodischen Stimme:

„Viel – Alles fürchte ich. Darum bin ich hier.“

Er faßte die kleine Hand, welche sie wie beschwörend zu ihm erhoben hatte, leicht in die seine. „Darum bist Du hier?“ wiederholte er in schwerem Tone.

„Und weil ich einen Auftrag für Sie habe. Herr Barner hat mir –“

Kettler ließ ihre Hand niedergleiten; wie ein Blitz durchzuckte es jäh seine Augen. „Einen Auftrag? Von Hermann Barner! Sie haben ihn also gesprochen?“

Paula sah ernsthaft zu ihm auf. „Heute. Er läßt Ihnen sagen, daß sein Verzicht bestehen bleibt.“

Mit finsterem Lächeln entgegnete Kettler: „Weiter nichts? Oder giebt es vielleicht noch mehr Aufträge – an mich? Und durch Sie?“

Das junge Mädchen schüttelte schweigend den Kopf; der schroffe Ton, womit diese Fragen hervorgestoßen wurden, machte sie einen Augenblick sprachlos. Dann hob sie ihre Augen und sah ihn dringend an: „Was seine Worte bedeuten, weiß ich nicht, aber ich habe andere Worte gehört – von Ihnen – und was diese bedeuten, weiß ich.“

„Worte – Worte –“ sagte Kettler, „was ist an Worten gelegen!“

Paula war in den nächsten Stuhl gesunken; ihre Füße trugen sie nicht mehr. Wie schwer war es doch zu sagen und zu fragen, was sie im Sinne trug! Wie Unnahbarkeit lag es in jedem Blicke und Ton des Mannes, dessen Willen zu bezwingen sie gekommen war, und plötzlich fühlte sie sich von namenloser Angst überwältigt. Sie drückte die gefalteten Hände gegen ihre Brust und stammelte:

„Als wir uns neulich trennten, sagten Sie: 'Es ist Zeit, daß ein Ende wird.' Welches Ende? welches Ende? Bei Allem, was heilig ist, versprechen Sie mir, zu leben!“

Seine Wange färbte sich schwach. „Thörichter Gedanke!“ sagte er kalt.

Sie stand auf ihren Füßen und sah ihm mit zwingender Macht in die Augen. „Ich weiß, wozu Sie entschlossen sind," sagte sie fest. „Mehr als einmal hörte ich Sie sagen: ein Mann müsse zu gehen wissen, wenn es an der Zeit sei.“

„Und Du meinst, solche Zeit sei gekommen – meinst Du das wirklich, Kind?“ sagte er mit plötzlicher Weichheit und faßte ihr zartes Gesicht zwischen seine beiden Hände. „Wohl – wohl! ich werde gehen, aber so weit doch nicht, wie Du denkst – nur von hinnen, von hinnen.“

Des Mädchens Augen ruhten forschend auf seinen erschütterten Zügen, dann hob sie mit freier Bewegung den Kopf, trat von ihm zurück und sagte sehr leise, im entschlossensten Tone: „Wenn Sie – verunglücken, dann folge ich Ihnen, so wahr Gott lebt.“

„Paula! Paula!“ rief er fassungslos, „nimm dieses Wort zurück!“

„Sie sehen wohl – weshalb wollen Sie mich täuschen? Ich bin nur ein Mädchen, aber ich habe doch mehr Muth als Sie. Ich verleugne wenigstens nicht meine Entschlüsse.“

Er verhüllte seine Augen – einen Moment nur – dann beugte er sich zu ihr nieder, zog sie dicht an sich und fragte zitternd: „Sterben um mich? Du liebst mich?“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 323. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_323.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)