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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


einen guten Stiefel haben will, kann ihn nur dann erhalten, wenn er sich bei einem Leistenschneider nach einem Gypsabgusse einen eigenen Leisten anfertigen läßt; die geringen Kosten werden durch das sich anschließende Wohlbefinden mehr als ausgeglichen. Von den Meistern der Zunft ist aber zu fordern, daß sie ihrer Maßkunst eine größere Ausdehnung geben. Außer der Fußlänge und -Breite muß der Schuhmacher die innere seitliche Höhe der großen Zehe und der Gegend der Spanne durchaus genau kennen, dann aber auch einen durch Färbepapier leicht herzustellenden Abdruck der Fußsohle anfertigen, um die Breite der Zehen und die Höhlung des Gewölbes genau festzustellen. Ferner fordert die verschiedene Bauart eine einzelne Messung der beiden Füße. –

Nun noch am Schlusse eine Bitte an die Mütter! Selbst die beste Schuhform wird ihren Zweck nur halb erreichen, wenn die Frauen nicht am Ende des Strumpfes etwas langsamer abnehmen, damit derselbe nicht spitz, sondern rund endigt. Merkwürdiger Weise ist dieser Punkt bisher, wahrscheinlich durch den Glauben an die Nachgiebigkeit des Gewebes, der Aufmerksamkeit entgangen, doch geht die Ausdehnungsfähigkeit nur bis zu einem bestimmten Grade, dann aber reicht der Druck immer noch aus, ein Zusammenpressen der Zehen zu bewirken. Möge Jungdeutschland in Zukunft diesen drückenden Verhältnissen entrissen werden! Ueber der Mode, nicht von ihr beherrscht, stehe fest eine naturgemäße Fußbekleidung!

Dr. – a –




Streifzüge bei den Kriegführenden.
1. Erste friedliche Station.
Von Köln zur russischen Grenze. – Russischer Zoll, russische Küche. – Auf dem Wege. – Eine reisende Menagerie. – Die Brasilianerin und der tapfere Serbe. – Ankunft in St. Petersburg. – Die Droskys. – Russisch-deutsche Gastfreundschaft. – Die Sterletsuppe. – Ein geheimer Polizist. – Eine Gastvorstellung des Winters.


Im Schlafwagen des Kölner Zuges, mit dem ich meine Reise antrat, um der „Gartenlaube“ vom Kriegsschauplatze aus meine hiermit eröffneten „Streifzüge“ zugehen zu lassen gab es schon einen kleinen Vorgeschmack kriegerischer Reibungen. Zwei biedere Spießbürger, der eine aus Düsseldorf, der andere aus Frankfurt, geriethen, als sie Beide bereits auf ihrer Hängematte – einer gegenüber dem andern – ausgestreckt lagen, in eine lebhafte politische Kannegießerei. Der Philister Nr. 1, eine stattliche Figur mit wohlgepflegten Cotelettes, entpuppte sich als warmer Russenfreund, sein Widerpart, ein dickes, glattrasirtes Männchen mit imponirendem Schmeerbauch, war guter Türke. – Sehr unterrichtet über die Tagespolitik waren die Herren nicht, denn sie stritten sich vierundzwanzig Stunden vor dem Einmarsch der Russen in Rumänien noch darüber, ob – Montenegro den Waffenstillstand annehmen würde oder nicht. Ein dritter Reisender, der im dritten Stockwerk oberhalb der Hängematte des Türkenfreundes sich in Morpheus’ Armen zu wälzen versuchte, mischte sich in das Gespräch und gab demselben als nach Rußland zurückkehrender Russe eine reellere Wendung. Als nachher in Erquelins ausgestiegen werden mußte, näherte sich der Philister Nr. 1, der mit den wohlgepflegten Cotelettes, meiner Wenigkeit. „Entschuldigen Sie,“ raunte er mir in's Ohr, „daß ich Sie aufmerksam mache: Sie setzen sich großen Gefahren aus. Der ‚Russe‘ da hat Sie schon, als Sie schliefen, mit ganz verdächtigen Blicken angeschaut. Wenn man heutzutage das Unglück hat, ein Türke zu sein, braucht man es doch nicht aller Welt zu zeigen.“

Ich blickte den Anti-Türken groß an. „Mein Herr! ich habe ja nicht das ‚Unglück‘, wie Sie behaupten, dem Stamme Osman’s anzugehören.“

Der Spießbürger mit den wohlgepflegten Cotelettes wies jedoch mit dem Zeigefinger auf mein Haupt und zuckte mitleidig die Achsel. Richtig! Ich trug ja als bequeme Reisekopfbedeckung meinen guten im Stambuler Bazar gekauften Fez, und in den Augen meines Begleiters machte offenbar die rothe Mütze mit der schwarzen Quaste den Osmanen aus. Ich lachte hell auf, und der Russe, der das kurze Zwiegespräch mit angehört, stimmte ein. Von diesem Augenblicke an benahm sich der Reisegefährte – feindselig-brummig, aber auch schweigsam, sodaß die politische Controverse verstummte.

Ich vertiefte mich in die Zeitung, die „Kölnische“, die ich vom Orte ihres Erscheinens mitgenommen; sie enthielt zweierlei Wichtiges, den Uebergang über den Pruth und Moltke’s Rede. Indem ich las, brauste der Schnellzug durch Deutschlands Gefilde. Ein Rasttag in Berlin, ein paar Freunden die Hand gedrückt, eine Flasche Sect bei Dressel geleert – und weiter, weiter geht es mit der Ostbahn dem rauhen Norden zu. Vollgepfropft ist das Coupé: Unser acht Stück lebende Colli, wie einst ein französischer Verwaltungsrath die Passagiere bezeichnete. Eine recht ungemüthliche schlaflose Nacht, durch einige Stationen auf fünf Minuten unterbrochen. In Schneidemühl begrüßt uns endlich der anbrechende Morgen – und als ein Vorbote des Nordens ein Pelz, in welchem irgend ein Grundbesitzer der Gegend steckt. „Herr Schaffner, der Waggon ist ja ganz leer.“

„Soll auch leer bleiben,“ antwortet mit ausgesprochenem polnischem Accente der Angeredete. Nun – es giebt auch Mittel und Wege, einen Zugbegleiter sarmatischer Abstammung mürbe zu machen. Ein bedeutsamer, inhaltschwerer Händedruck bewirkte das „Sesam, öffne dich!“ und bei der Abfahrt streckten wir mit Wohlbehagen die müden Glieder auf die Kissen der leer bleiben sollenden Coupés. Das müde Auge umfaßt, ehe es sich schließt, die eintönige Landschaftsdecoration – die rechts und links sich hinziehenden halb grauen, halb okerfarbigen Aecker mit den plötzlich auftauchenden Waldungen, und im Hintergrunde als schwarze Grenzlinie der Forst. Hier und da eine Gruppe wohlhabend aussehender Bauernhäuser, dazwischen eine Wirthschaft, groß angelegt mit Herrncastell, und manchmal eine Fabrik nebenan.

Obwohl es heller Tag ist, lächelt noch der Mond schalkhaft auf die ländliche Scenerie herab, aber als wir rechtzeitig aufwachen, um das Pracht- und Riesenwerk der Dirschauer Brücke über die Weichsel zu bewundern, haben wir eine angenehme Reisegesellschaft gefunden, einen seiner Heimath zueilenden Kaufmann aus Riga, der Verlockendes über das Treiben und Leben in den Ostseeprovinzen zu erzählen weiß. Meinem Gewährsmann zufolge, wäre bei allem angeborenen und beibehaltenen echt deutschen Wesen die politische Tendenz seiner engeren Landsleute aus dem Fundament russisch-patriotisch. Der Kaiser Alexander wird in Liefland, Curland etc. geradezu auf den Händen getragen, und der Krieg gegen die Türken erregt dort ebenso großen Enthusiasmus, wie in dem slavischen Rußland. Man zweifelt auch nicht, daß der Krieg mit einem Siege Rußlands endigen müsse, wenn er auch ungeheuere Opfer an Menschen erfordern wird. „Aber,“ betheuerte mein Liefländer Reisegenosse, „Rußland hat ja Menschen genug und den Willen, so viele davon zu opfern, bis das Endziel erreicht ist.“ Die Opfer werden übrigens in Rußland bei weitem nicht so schmerzhaft empfunden werden, wie in einem anderen Lande, weil es in Rußland nur von der Regierung abhängt, daß ja Niemand etwas von Verlusten erfahre. Der Czar ist Selbstherrscher; seine Minister schulden Niemandem außer ihm Rechenschaft; es können neue Truppen immer ausgehoben und neue Steuern eingetrieben werden, ohne daß darüber auch nur eine Rede gehalten wird. Der einzige Strich, welcher den Russen durch die Rechnung gezogen werden könnte – und das gestand auch mein neuer Rigaer Freund – wäre die Intervention anderer Mächte zu Gunsten der Türken.

„Königsberg, dreißig Minuten Aufenthalt!“ Zeit zum Gabelfrühstück! Auf dem Quai des Bahnhofs hat sich eine elegante Gesellschaft eingefunden, die Herren kräftige, durch ihre Lebhaftigkeit imponirende bewegliche Gestalten, die Damen und jungen Mädchen nach dem feinsten Pariser Schnitt gekleidet. Den Mittelpunkt der Gesellschaft aber bildet eine ältliche Dame mit vergilbter, fast pergamentähnlicher Gesichtsfarbe und sehr lebhaften Zügen. Ihre schmächtige Gestalt ist in einen üppigen Pelzmantel gehüllt, und um den Kopf hat sie einen Spitzenschleier nach der Methode der spanischen und creolischen Señoritas geworfen. Ein Diener in Galalivrée, der sich in angemessener Entfernung der Gruppe hält, trägt in der einen Hand ein Felleisen und in der anderen einen länglichen Käfig, der in drei vergitterte Abtheilungen getheilt ist. Darin befinden sich Kammer Nr. 1 ein niedlicher Uistitiaffe,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 334. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_334.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)