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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


Kammer Nr. 2 ein großer weißbefiederter Kakadu mit rothem Busch auf dem Kopfe und in Kammer Nr. 3 zwei herumkriechende Schildkröten. Nachdem vielfach Adieu gesagt worden, hebt einer der Herren die Dame in’s Coupé; der Diener legt das Felleisen und die kleine Menagerie zurecht; unter Hüte- und Taschentuchschwenken geht es weiter.

Gegen vier Uhr Nachmittags war Wirballen erreicht, die erste russische Station. Der Paß ist beim Eintritt in das heilige Czarenreich ebenso unerläßlich, wie der Coupon einer Loge oder eines Sperrsitzes, wenn man als Fremder in’s Theater will. Das Reisedocument wird zunächst von einem sechs Fuß hohen Gensd’arm in Empfang genommen. Dieser untergeordnete Diener der Gerechtigkeit scheint sich übrigens um die Sache nicht besonders zu kümmern; er faltet, ohne hineinzusehen, den Paß phlegmatisch zusammen und weist mit kurzer Geberde den Passagier in den Gepäcksaal. Dieser ist ein ungeheurer, übrigens auch architektonisch tadelloser Raum, wie überhaupt die russischen Bahnhöfe der für den Verkehr wichtigen Stationen einen monumentalen Anstrich haben. Die Reisenden stellen sich um die Schranken herum auf, welche ein riesiges Viereck bilden. In der Mitte dieses Quadrats befindet sich ein Amtstisch; hier sitzen fünf bis sechs Beamte in langem, grünlichem Capotrocke, auf dem Kopfe die betreßte blaue Mütze. Die Pässe werden da gesichtet und abgeschrieben; dann steht einer der sehr höflichen und vornehm aussehenden Herren in grünem Capotrocke auf, um aus der Schaar der Reisenden den Besitzer des eben revidirten Passes auszuforschen. Nun wird zur zollamtlichen Behandlung des Gepäcks geschritten. Man hat viel, sehr viel von der Ungemüthlichkeit der moskowitischen Zollbeamten gesprochen, und ich selber kam mit gewaltigem Respect in den großen viereckigen Saal. Mir war für einige Lectüre bange, die ich vorsichtig mitgebracht hatte, als probates Mittel gegen Langeweile. Nun, der betreffende Beamte muß gut aufgelegt gewesen sein, denn er ließ Alles passiren; überhaupt hatte nur die Papagei-, Affen- und Schildkröten-Dame Schwierigkeiten; der Käfig wurde nach dem Amtstische gebracht; die Dame selbst mit der Spitzencapuze folgte; einer der Beamten stand auf und bot ihr seinen Stuhl an, bis man mit der Erledigung der Frage fertig war, ob dergleichen Thier-Import steuerpflichtig wäre oder nicht. Schließlich wurde zwar kein Zoll erhoben, aber die Dame angewiesen, die niedlichen Thiere in dem Gepäckwagen zu deponiren. Sie seufzte – freilich blieb ihr als Trost das Schooßhündchen, das sie im Arme trug und alle fünf Minuten verliebt anstierte.

Da der Aufenthalt in Wirballen wohl eine ganze Stunde in Anspruch nahm, gönnten wir uns eine Probe russischer Küche. Die National-Kräutersuppe, der sogenannte „Tschi“, bestand dieselbe vortheilhaft, und man mußte sich ordentlich Zwang auferlegen, um nicht in jede der etlichen Dutzend Sorten Imbisse, die, an ein ganzes Bataillon Wein- und Schnapsflaschen als Zubehör gelehnt, sich appetitlich den Blicken der hungrigen Reisenden darboten, „hineinzubeißen“. Von der gastronomischen Seite läßt sich Rußland nicht übel an. Auf dem ganzen weiten Wege von Wirballen bis St. Petersburg sind die Büffets weit reichhaltiger und weit besser dotirt, als auf den Bahnlinien so manches Culturstaates. Auffallend ist vor Allem die tadellose Balltoillete der Aufwärter mit blendend weißer Weste, elegantem Salonfrack, frischer Wäsche und weißer Binde. Manchmal lugt aus dieser Gentlemen-Uniform ein unverfälschtes gelbliches Tatarengesicht hervor; die extremsten Theile des russischen Reiches, Mingrelien und die an China grenzenden Districte, liefern ein ansehnliches Contingent von dienstfertigen Geistern in jedem Fache.

Lang ist die Route von der lithauischen Grenze nach der Hauptstadt Peter’s des Großen. Der Anblick der Landschaft bietet uns keine Zerstreuung; bald bricht die Eintönigkeit der Steppe herein mit der noch stark zurückgebliebenen zwergähnlichen Vegetation, den winzigen verkrüppelten Buchholzgestrüppen, den Morästen und den von elenden Bauern und schmierigen polnischen Juden bewohnten, mit Stroh bedeckten Hütten. Das Herz schnürt sich zusammen beim Anblick dieser trostlosen Oede, dieses harten unwirthlichen Bodens, der dem Menschen – der doch hier nicht schlechter ist, als anderswo – Steine bietet statt Brodes. Man vertieft sich hinter den hermetisch geschlossenen Doppelfenstern des Winterwaggons am liebsten in ein Buch.

Vom Kriege selbst bis jetzt keine Spur, mit Ausnahme etwa eines sehr bramarbasirend dreinschauenden wettergebräunten serbischen Officiers, der einen riesigen „Handschar“ mit kostbarem Griff und Gürtel trägt und bei jeder Station die Front des Zuges auf und ab patrouillirt. Da steckte auch die gelbfarbige Dame, die mit der Menagerie nämlich, den Kopf zum Fenster heraus; der Serbe mit dem Handschar hielt bei dem Anblick der Reisenden inne; er warf mit sichtlich staunender Erregung das von einem schwarzen Bart umrahmte Haupt zurück, und sein feuriges Auge ruhte auf dem Gesicht der Dame. Aber auch sie war betroffen. „Pablo! Pablo!“ rief sie und kicherte einige spanische Worte. „Señora! Señora!“ entgegnete mit großer Achtung der Handscharmann. Auf einen Wink der Dame stieg der Serbe in das reservirte Coupé, und nun klärte es sich auf. Der Streiter für den Fürsten Milan war eigentlich gar kein Serbe, sondern ein Montevideoner; die Dame, eine Deutsche – so erzählte sie uns später – in Königsberg geboren, aber durch einen mehr als dreißigjährigen Aufenthalt in Südamerika zur Creolin vergilbt, hatte den heutigen serbischen Capitain jahrelang in ihrem Dienste gehabt. Eines Tages war Pablo plötzlich verschwunden und nach manchen Reisläufereien im Hafen Milan’scher Kriegsdienste eingelaufen. – Die Episode schien nicht nur unsere Gemüther, sondern auch den bis dahin bleiernen Himmel aufgeheitert zu haben. Es war bereits acht Uhr Abends, der Tag aber schien nicht Anstalten zum Schlafengehen treffen zu wollen, wie es sich Anfang Mai um diese Stunde für einen biedern deutschen Tag geziemen würde. Es war aber eben kein biederer gewöhnlicher, sondern ein Polar-Tag, und dieser dauert bis gegen zehn Uhr; man darf ihn auch nicht vor dem Ende loben, denn die leise rosa angehauchte Dämmerung ist bei ihm gerade das Schönste. Eine herrliche Abenddämmerung begrüßte den Einzug unserer Wenigkeit in die große Halle des Warschawski Machin, des Warschauer Bahnhofs, eines der bedeutendsten Petersburgs.

Welch eine mächtige Wagenburg auf der breiten Esplanade der Ankunftsseite! Nicht nur uns, die wir an ein paar magere Droschken oder an eine anmuthig langsam hinter einander auffahrende, von fadenscheinigen Mähren gezogene Fiakerreihe gewöhnt sind, imponirt die vierfache Schlachtordnung wohlbespannter, gefällig gebauter Caleschen und zahlloser Droskys, jener niedlichen einsitzigen leichten Spielwägelchen, die ein nerviges Steppenpferd durch Straßen und Feldwege zieht, als jagten alle Teufel der Hölle hinterher. Das Gepäck erlaubte mir nicht, wie ich Lust hatte, sofort auf den Sitz eines solchen Drosky zu springen, denn das Fahren, oder richtiger das Dahintraben auf einem solchen Gefährte hat etwas magnetartig Bestechendes. Es muß ein eigener Reiz darin liegen, in dem schärfsten Trabe über Stock und Stein zu jagen, oder in Pelze eingehüllt, wenn der ausgepolsterte Schaukelsitz auf den Schlitten gesetzt wird, bei sternenheller Nacht auf dem Schnee dahin zu gleiten. Da verspürt man wohl jenes Wohlbehagen der Kälte, das Theophile Gautier[WS 1] in seiner russischen Reise so anziehend beschreibt und das er lebhaft genug empfand, um mit den auf der Newa campirenden Samojeden nach dem Lapplande fliehen zu wollen.

Es giebt wohl nichts Angenehmeres, als, wenn man in einer wildfremden Stadt ankommt, sofort offene Gastfreundschaft und zugethane Herzen zu finden. Dieses Glück wurde mir seitens unserer verehrten Collegen vom „St Petersburger Herold“ beschieden, einer der bedeutendsten und verbreitetsten Zeitungen Rußlands. Die Redaction besteht zum größten Theil aus eingewanderten Deutschen, die sich in Rußland so wohl fühlen, daß sie jeden Gedanken an Rückkehr wohl aufgegeben haben dürften. „Dieses Rußland,“ erklärte mir Dr. S., der Herausgeber des Blattes, „ist eine Mausefalle; wer einmal hineingerathen ist, geht zwar wieder hinaus, aber er kann es dann anderswo nicht mehr aushalten; er muß zurück.“ Man muß gestehen, daß die Herren Collegen von der russisch-deutschen Presse es verstehen, die „Mausefalle“ in recht verlockender Weise auszustatten. „Sie müssen, um sich von den Strapazen der Reise zu erholen, eine Sterlet-Suppe essen,“ war die sofortige Losung.

Wir verfügten uns denn – es war Mitternacht vorüber – in das echt russische Restaurant zum „Kleinen Jaroslaw“. Das Vorzimmer sah einer Pelzwaarenhandlung ähnlich: die verschiedensten, mit allerhand Thierfellen reichgefütterten Paletots hingen da der Reihe nach unter dem wachsamen Auge eines ausgedienten Soldaten. Mein unschuldiger kaffeebrauner Frühjahrsüberwurf mußte sich wohl in Gesellschaft dieser Felle sehr unbehaglich

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Sautier
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 335. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_335.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)