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verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


Thränen erstickt wäre. Thue Buße, Annette! Dort steht der Schemel.“

Der eigensinnige alte Mann hatte mit äußerster Anstrengung gesprochen. Seine Augen rollten und auf seiner Stirn standen Schweißtropfen. Frau Hornemann rutschte auf den Knieen zu ihm hin.

„Gnade, Karl Seyboldt! Ich flehe Dich an, was ich noch nie gethan habe: entlaß mich aus Deiner Gewalt, und ich will Alles vergessen und Dich segnen. Gott wird Dir dafür gnädig sein am jüngsten Tage.“

„Zu spät!“ stöhnte der Commerzienrath; „dort steht der Schemel. In zwei Minuten muß es geschehen sein.“

Sie erhob sich und wankte wie im Traume zu dem kleinen, schwarz bekleideten Betschemel hin, vor welchem in der Nische der Wand ein Crucifix stand.

„Barmherziger Gott und Vater,“ hob sie tonlos an, indem sie niederkniete, „ich armes, elendes – –“

Ihr schwindelte.

„Weiter – weiter – nur rasch!“ klang es mit unwillkürlichem Ausbruche tiefster Angst vom Sopha her. Der stöhnende, schauerliche Ton mußte ihre Aufmerksamkeit erzwingen.

Die Knieende blickte hinüber und richtete sich jäh empor, den Commerzienrath scharf fixirend.

„Hast Du Dein Testament gemacht, Karl Seyboldt?“ fragte sie, und ihr Auge leuchtete plötzlich so hell, wie sonst.

„Was soll das heißen?“ Er versuchte noch einmal zu imponiren, aber es ging nicht mehr. Seine Zähne schlugen knirschend auf einander.

„Was soll das heißen?“ fragte sie dagegen und verschränkte die Arme mit dem schwarzen Shawltuche darüber. „Nichts weiter, als daß Dich die Cholera erfaßt hat und daß Gott zwischen mir und Dir richtet.“

„Weib,“ keuchte er, „steh’ nicht da und starre mich nicht so an! Hole Hülfe, rufe, schreie! Sie sollen zum Doctor Urban laufen! Der ist der Einzige, der mir noch helfen kann.“

„So hast Du zwölfmal im Jahre seit einem Jahrzehnt vor mir gestanden, und Du hast Dich an meinem Elend geweidet; ich kann das nicht, denn ich bin ein Weib, und ich habe Mitleid mit Dir. Aber Eines zu sagen, bin ich mir schuldig: gieb mir die Wechsel, die Du zu Dir gesteckt hast, und nimm mein Geld! Dann will ich Dir Beistand herbeirufen, und mehr als das: ich will Dich retten.“

„Nein!“ rief er, „und tausendmal nein!“ Und er taumelte mit entsetztem Gesicht vom Sopha empor und durch die Stube. „Die Cholera – zur Hülfe, zur Hülfe!“ Er riß das Fenster auf und rief mit den Tönen der Verzweiflung hinaus; er tastete an der Thür, bis er den Griff erfaßt hatte, und stürzte hinaus. –

„Gericht Gottes, laß ihn leben!“ sagte die alte Frau leise vor sich hin und schauderte in sich zusammen. Sie ging an den Tisch, that den Rest des Geldes in die Tasche, schloß sie ab und verließ das Gemach.

Alle Thüren der Zimmerflucht standen offen; ein kühler Luftzug wehte ihr entgegen und bewegte seitwärts leise die Gardinen. Von der Fabrik her schollen die Töne der Abendglocke. Als sie in das Treppenhaus hinaustrat, vernahm sie über sich Angstrufe und das Rascheln von Frauenkleidern; ein Mädchen stürmte die Treppe herab an ihr vorüber und riß drunten das Zimmer des Kutschers auf: „Ist Ihr Mann schon fort? – Kommen Sie rasch herauf! Fräulein von der Herberge ist ohnmächtig. Ach Gott, wenn ich nur aus dem Hause fortkönnte, aber ich weiß nicht, wohin.“

Aus dem Hofe schwirrten ihr die Tauben um den Kopf, welche der kleine Herr Pieper eben zum Füttern lockte. Er hatte die Sorge für die Lieblinge seiner jungen Herrin übernommen, seit sie krank darniederlag – selber eine kranke Taube.

Frau Hornemann ging stolz aufgerichtet die Straße hin, wie es ihre Art war. Der Schauder vor dem, was sie gesehen, drängte auf Minuten hinaus noch jede andere Empfindung zurück. Aber dann hoben die Gespenster ihres eigenen Elends allmählich die Köpfe und sahen ihr in’s Auge und gruben die Krallen mit heimtückischer Freude in ihr Herz. Alles umsonst! Das große Opfer nutzlos gebracht! – Dreifach geschlagen und gedemüthigt kehrte sie heim, und das Andenken ihres Gatten, die Ehre ihres Hauses – wie brachte sie das zurück? Befleckt und besudelt, mit dem Fluche des Verbrechens überschattet! Die Häuser drehten sich vor ihren Augen, und sie beschleunigte ihre Schritte. Die Wagen, das Treiben der heimkehrenden Arbeiter und Arbeiterinnen, das ganze Gewühl und der Lärm um sie herum gewann etwas Schattenhaftes. Das Wasser im Canale strudelte, ein goldener Streifen Abendsonne fiel neben der Brücke über die bewegliche Fläche, und der Wasserdunst wehte sie kühl und verlockend an.

Im Zimmer neben dem Laden saß Karl Hornemann und las in einem Buche.

„Was ist Ihnen, Mutter?“

„O Karl, mein Sohn, mein Sohn, ich bin sehr unglücklich.“

Er sprang auf und hielt die Kraftlose, die in wildes Schluchzen ausbrach. Es war das erste Mal, so weit er zurückdenken konnte, daß er sie weinen sah.

„Brechen Sie Ihr verschlossenes Schweigen, Mutter! Vertrauen Sie mir an, was Sie so lange schon drückt! Ich vermag viel; vielleicht daß ich Ihnen rathen, helfen kann.“

Sie schüttelte den Kopf, während ihre kräftige Gestalt an seiner Brust bebte.

„Laß mich weinen, mein Sohn! Nur ein paar Minuten halte mich aufrecht – dann finde ich mich selber wieder.“

Und traurig resignirt hielt der Sohn die Mutter fest umschlungen, bis ihr Schluchzen allmählich erstickte und sie das Tuch hervorzog, um ihre Thränen zu trocknen. –

Nur wenig früher war es, daß der Doctor Urban mit finsterm Gesichte die Länge seines Zimmers durchmaß, den Absagebrief des Commerzienrathes in der Hand. Dann und wann schüttelte er den Kopf, und ein zorniges Lachen flog über seine Lippen.

„Freiheit, die ich meine –“ sagte er. „Es scheint, daß diese Dame Freiheit sehr eifersüchtig meinetwegen ist. Ich denke, ich lasse erst einmal meine kleine Braut gesund werden; sie dürfte doch in der Sache das letzte Wort zu sprechen haben, mein Herr Commerzienrath. – Politische Gründe: ah! mit einem Male? Sie waren doch in der vergangenen Nacht nicht entscheidend. Es muß etwas Besonderes dahinter stecken – das scheint mir außer Zweifel.“ –

Ein Schatten flog dicht beim Fenster vorüber, und es entstand Geräusch im Hause.

„Herein! Ah – Johannes. Wollen Sie meine Antwort auf das Schreiben dort holen?“

Der Kutscher stand mit verstörtem Gesicht vor ihm. „Ich sollte Sie holen, Herr Doctor. Es hat Gott gefallen, daß unser Herr Commerzienrath die Cholera gekriegt hat.“

Urban trat zurück. „Die Cholera?“ In seinem Antlitze spielte ein wunderliches Gemisch widerstreitender Empfindungen.

„Und der Herr Commerzienrath glaubt wirklich, daß ich nach dem Briefe da noch kommen werde?“

„Muß er wohl,“ entgegnete der Kutscher mit unerschütterlicher Haltung, „denn sonst hätte man mich nicht hierhergehen heißen.“

„Richtig, sehr weiser Johannes,“ sagte der Doctor, und seine Augen glänzten. „Ich werde allerdings kommen; Sie dürfen vorausgehen und das melden.“

„Nun, mein Herr Commerzienrath Seyboldt,“ fuhr er im Selbstgespräche fort, als der Kutscher das Zimmer verlassen hatte, „ich denke, wir werden uns jetzt verständigen. Das wird eine theure Cur werden, und ich werde auf Vorausbezahlung dringen müssen.“

Er ging an die Schublade und nahm eine der blinkenden Flaschen Karl Hornemann’s heraus.

„Ich habe Dich schaffen helfen,“ sprach er und hielt die Arzenei gegen das Licht. „Ich will an Dich glauben, denn ein Vater darf sein Kind nicht verleugnen.“ –

Kurz nachher befand er sich in dem hellerleuchteten Krankenzimmer, – dem zweiten des stolzen Kaufmannshauses mit dem Balcon und den Karyatiden darunter.

„Doctor, um Gotteswillen, warum bleiben Sie so lange?“ stöhnte es aus der dicken Kissenlage hervor.

Er war allein mit dem Alten; selbst der Kutscher, der Einzige, der im Hause den Muth hatte, in die Nähe des Kranken zu kommen, verließ ungerufen nicht das Nebenzimmer.

„Es schüttelt mich – mir ist sterbenselend. Aber ich will nicht sterben. Hören Sie wohl, ich will nicht. Sie müssen Ihr Wort halten – ah!“

Urban kreuzte die Arme über der Brust.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1877, Seite 339. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_339.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)