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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)

No. 21.   1877.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Aus gährender Zeit.
Erzählung von Victor Blüthgen.
(Fortsetzung.)

Das Gespräch hatte sich im Fluge abgesponnen, während der Commerzienrath sich unter der Decke wand. Seine Zähne knirschten. Urban nahm die Arzenei heraus und hielt sie vor sich.

„Ich werde Ihrem Wunsche vielleicht entsprechen, aber nicht gezwungen. Hier halte ich Ihre Rettung eingeschlossen, Contrebande, vernehmt von der Union: es ist die Arzenei Hornemann’s, und ich bin der Einzige, der sie zu vergeben hat. Ihr Leben gegen mein Glück, ein bedingungsloses Glück –“

„Ja, ja, wie Sie wollen.“

„Einen Moment Geduld! Man muß von Erfahrungen lernen.“

Urban ging, ohne weiter auf die flehenden, begierigen Augen zu achten, raschen Schrittes hinaus und stieg treppab. Er eilte durch die stillen, dunkelnden Zimmer bis in das Arbeitsgemach des Fabrikanten. Hier entzündete er eine Kerze, suchte Papier und warf rasch ein paar Zeilen hin, welche er kurz nachher nebst der gefüllten Feder in das Krankenzimmer brachte. Es war ihm Niemand begegnet; er hatte unterwegs keinen Laut vernommen, ausgenommen den Schall seiner Tritte. Das stolze Haus war wie ausgestorben.

Auf dem Nachttischchen, von dem das Licht der großen Hauslampe über das Bett fluthete, lag ein Buch; der Commerzienrath mochte wohl gewöhnlich vor dem Einschlafen noch lesen. Der Arzt nahm es mit entschlossener Bewegung, legte die Schrift darauf und reichte dem Commerzienrath die Feder. „Ich möchte Sie gegen Reue sichern,“ sagte er fest.

Die weiße, marmorkalte, zitternde Hand des Kranken nahm mit fiebernder Hast die Feder; er raffte alle Kraft zusammen und unterzeichnete. Es war ein gespenstischer Anblick, wie die hagere Gestalt des alten Mannes mit der weißen Flanelljacke und der nickenden Spitze der Nachtmütze, halb aufgerichtet, sich über das Papier neigte.

Er ließ die Feder fallen und sank zurück. „Ich habe nichts lesen können, Doctor, aber ich vertraue Ihnen. Und nun – Barmherzigkeit! Geben Sie mir die Arzenei! Es packt mich wieder –“

„Johannes!“ rief Urban, indem er das Buch auf den Tisch legte und mit dem Korkzieher seines Messers in den tief gestoßenen Pfropfen der Flasche bohrte.

Der Kutscher trat ein.

„Würden Sie sich freuen, wenn Fräulein Toni und ich ein Brautpaar wären?“

„Wie Gott will,“ entgegnete Johannes mit einem scheuen Blick nach dem Bett; „Ehen werden im Himmel geschlossen.“

Urban blinzelte ein wenig mit den Augen; die ehrlichen Worte des wackeren Mannes da klangen wie ein Hohn auf ihn, aber es war jedenfalls ein unfreiwilliger Hohn.

„Es ist so, Johannes, und auf dem Blatte da steht es, von mir und dem Herrn Commerzienrath unterschrieben. Ihr armer, kranker Herr aber wünscht, daß Sie Ihren Namen auch noch darunter setzen. – So! Und nun reichen Sie mir einmal das Glas da – und nun die Wasserflasche!“

Urban hatte die Arzenei durcheinander geschüttelt und eingegossen, und der gequälte alte Mann im Bette trank mit gierigen Lippen.

„Mehr, Doctor!“ stammelte er lechzend.

„Es kann nicht schaden,“ murmelte der Arzt und goß nochmals ein Gemisch von Arzenei und Wasser zusammen.

„Nun verlassen Sie mich nicht! Um Christi willen bleiben Sie bei mir!“

Urban besann sich.

„Gut,“ sagte er endlich, und durch die bisherige Kälte in seinem Wesen brach es wie unwillkürliche warme Theilnahme. „Ich bleibe. Ich bin kein Feigling, und soviel an mir liegt, will ich mein Wort ganz und voll einlösen.“

Es waren ein paar Stunden tiefer, mühsam verhaltener innerer Aufregung, die Urban an dem Krankenbette des Mannes zubrachte, mit dessen Leben er experimentirte; jedes Aechzen und Stöhnen, jedes gewaltsame Aufzucken der Krankheit rüttelte sein Inneres auf. Es war ihm immer, als müsse er beten: Herr des Himmels, binde deinem Würgengel die Hände, nur dies Mal, nur dies eine Mal! Er nahm die Hülfe des alten Dieners draußen nicht in Anspruch; er fand einen Trost darin, jede Hülfeleistung mit eigener Hand zu gewähren. Nur einmal trat er leise auf die Schwelle des Nebenzimmers und rief: „Johannes!“

Der treue, alte Mann saß zusammengekauert auf dem Stuhle; er hatte die Hände über die Kniee gefaltet und das Gesicht tief geneigt.

„Johannes, beten Sie für den Herrn Commerzienrath, daß Alles gut gehen möge!“

„Das thue ich allbereits seit einer Stunde, Herr Doctor,“ sagte der fromme Mann und hob sein ehrliches, bekümmertes Gesicht zu dem Arzt auf.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 341. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_341.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)