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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)

das Land, welches heute sein Andenken dem Fluche oder der Vergessenheit geweiht und welches ihn damals mit schwelgenden Ovationen aufnahm und die kleinste Reise zu einem Triumphzuge gestaltete. Diese Waggons führten von der Grenze nach Paris und von Paris bis zur Grenze sämmtliche Fürsten Europas, die dem großen und blendenden Jahrmarkt von 1867 mit ihrem Besuch den Glanz einer Apotheose des Napoleonismus verleihen sollten, und zum letzten Mal fuhr der Hofzug den französischen Grenzmarken zu an jenem Julimorgen, wo der Kaiser ziemlich incognito, ohne die Hauptstadt zu berühren, von Saint Cloud aus direct sich zur Armee verfügte. Man kennt das Uebrige.

Der Kaiser war gefangen, und der Hofzug kam unter den Hammer, mit dem Silberzeug, mit der Tischwäsche, mit den schönen Porcellan-Services der Tuilerien, mit den feurigen Weinen des Schloßkellers, die heute auf den Weinkarten der maison dorée und des Café Anglais neben Cliquot und Chateau Lafitte verzeichnet sind. Der Kaiser von Rußland hatte, als er zur Ausstellung nach Paris kam, die zweckmäßige und gleichzeitig prachtvolle Einrichtung des kaiserlichen Hofzugs gewürdigt. Er ließ die Waggons ankaufen, seine Mittel gestatteten es ihm ja, und setzt nun darin den Lauf der Weltgeschichte, die sich in unserem Zeitalter auf Schienen bewegen muß, fort. Denn es war eine historische Fahrt, von welcher er da zurück kam, eine Fahrt, welche, wie Lord Derby in seiner Berliner Depesche erwähnte, Folgen nach sich ziehen könnte, die Niemand im Stande ist voraus zu sehen. Vielleicht mochte der Herrscher aller Reußen während der langen Fahrt nachgedacht haben über Heil und Unheil, welches die Kriegsmächte, wenn sie einmal entfesselt werden, zu bringen im Stande sind, denn als er die drei mit Teppichen belegten Stufen des Waggons herab ging, da lagerte eine Wolke auf dem ausdrucksvollen und echt mannhaften Gesicht des Czaren. Ein russischer College, mit dem ich mich auf dem Bahnhofe befand, hatte mich gewarnt, ich möchte, im Falle man eine dicht neben uns stehende Deputation in den Empfangssalon hineinführen sollte, mich derselben ja nicht anschließen, weil ich sonst der Gefahr ausgesetzt gewesen wäre, dem Kaiser mit der Deputation zusammen vorgestellt zu werden. Ich horchte auf diesen Wink - aber in dem Sinne des Reporters, der darauf verzichtet Weltmann zu sein und vor Indiscretion nicht zurückschreckt, wenn seine Dreistigkeit belohnt zu werden Aussicht hat. Und dem Menschen, auf dessen Geheiß Millionen und abermals Millionen bereit sind sich in den Kampf zu stürzen, in diesem Augenblicke recht nahe zu sein, das lohnte sich. Ich entging übrigens auch der Gefahr einer unberufenen Vorstellung und kann behaupten, daß Seine Majestät keine Gelegenheit hatte sich um meine Person zu kümmern, worüber man nicht klagen darf, wenn das alte russische Sprüchwort nicht trügt: „Je näher dem Czaren, desto näher dem Tode.“

Die eingehende Beschreibung der Physiognomie des Kaisers Alexander darf mir wohl erspart bleiben; er ist ja als alljährlich wiederkehrender Badegast in Deutschland hinlänglich bekannt, und dann sorgen ja die illustrirten Blätter und die Auslagekästen der „Kunsthändler“ gerade jetzt für die Popularisirung dieser mit den Ereignissen so mächtig und eng verknüpften Physiognomie. Man weiß, daß seit drei Generationen das Haus Romanow die Eigenthümlichkeit besitzt, für den Thron lauter schöne Männer zu stellen. Der erste Alexander, derjenige, welchen der napoleonische Senat nach erhaltener Zusage, daß ihm seine Renten nach wie vor gesichert blieben, als den „modernen Trajan“ begrüßte, fiel durch den schwärmerisch-mystischen Anflug, der auf seinem regelmäßigen, sympathischen Gesichte lagerte, auf. Sein Bruder Nicolaus, den ein deutscher Hofschriftsteller, der den Weihrauch zu schwingen versteht, in einem Werke über die Kaiserin Alexandra Feodorowna (Prinzessin Charlotte von Preußen) „den schönsten Mann der Welt“ nennt, war in der That der vollkommenste Typus classischer altgriechischer Plastik.

Kaiser Alexander der Zweite vereinigt den mystisch-schwärmerischen Zug seines Oheims mit der künstlerischen Vollkommenheit der Formen seines Vaters: man hat den Denker vor sich, aber man fühlt gleich, daß er den Degen an der Seite führt, und die prägnante militärische Physiognomie wird durch einen sanften, leisen Hauch von Schwärmerei in gefälliger Weise gedämpft. Der Kaiser, der eben seinen neunundfünfzigsten Geburtstag gefeiert hat, sieht kaum so alt aus – kaum laufen einige weiße Fäden zwischen den einst dicht-dunklen Backenbart; die hohe schlanke Erscheinung ist ungebeugt, die Haltung sowie der Tritt voll starken Selbstbewußtseins. Wie erwähnt, lag auf dem Antlitz des Herrschers, als er in dunkler Uniform, das Ordensband um den Hals, den Helm auf dem Kopfe, dem Wartesalon zuschritt, eine Wolke, als er aber der glänzenden Generalität ansichtig wurde – all dieser Recken in scharlachrothe, grüne, blaue Uniformen gehüllt, mit Gold und Silber bedeckt, die mächtige Wehr an der Seite, welche in lautes Hurrah ausbrachen und die Helme mit Begeisterung über ihre Häupter schwangen – da verschwand die Wolke von der kaiserlichen Stirn; das Gesicht hellte sich auf. Bei dem Anblick solcher Stützen seiner Macht mochte der Czar alle Sorgen und Befürchtungen verscheuchen – hatte er doch alle Mittel, um seine Größe und die Größe des Reiches zu vertheidigen, die Mittel, selbst der Tücke des Schicksals Paroli zu biegen. Der Kaiser erwiderte den Gruß der Officiere und richtete nun an einzelne derselben einige Worte.

Ich hatte schon öfters Gelegenheit, solche „Empfange“ auf Bahnhöfen mitzumachen. Ich sah in Venedig Victor Emanuel, diese Bärenfigur mit den hervorleuchtenden Augen, mit der Gräfin Wimpffen vertraulich plaudern, während er auf den Zug, der den Kaiser Franz Joseph mitbrachte, wartete; ich sah diesen mit ungezwungener, einfacher Eleganz sich in natürlichster Weise mit dem Einen oder Andern unterhalten; ich wohnte auch der Begrüßung des Marschalls Mac Mahon auf seiner Lyoner Reise ganz in der Nähe bei. Nun, das Ceremoniell mag hier wie da so ziemlich dasselbe sein und sich blos durch die Farbe der Uniformen unterscheiden – es ist doch nicht dasselbe, ob ein constitutioneller Souverain, auch wohl das Staatsoberhaupt einer Republik, sich mit seinen Untergebenen unterhält, oder ob ein Autokrat von noch so milden Umgangsformen und liberalem Sinn einige Worte an hohe Officiere und Beamte richtet. Da kleidet sich der Verkehr in die steifsten Formen der theatralischen Etiquette aus jeder Mundbewegung des Monarchen spricht die Machtfülle, aus der Haltung der Angeredeten die absolute Unterwürfigkeit. Wie hoch er auch gestellt sein mag, es steckt in jedem Russen sehr viel von jenem Gefühl des Muschik, der den Czaren als ein höheres, gewissermaßen überirdisches Wesen betrachtet, welches nie fehlen, nie irren kann, und dieses Gefühl tritt im Mienenspiel desjenigen, der vor dem Czaren steht, zum Vorschein.

Die Vorstellungen dauerten nicht lange – nach etwa fünf Minuten trat ein Adjutant auf den Perron des Bahnhofes, über den zum Schutze gegen etwaige Unbill des Wetters ein breites Zelt von bunter Leinewand ausgespannt war, und winkte mit der Hand dem Kutscher eines der zahllosen Wagen, welche in dem Vorhofe des Bahnhofes harrten. Es war eine einfache viersitzige Equipage, auf deren Bock durchaus nicht etwa reichbetreßte Lakaien saßen, sondern ein Pferdelenker in dem höchst einfachen russischen Costüm, die lange dunkelgrüne, bis an die Fersen reichende, mit einem hellfarbigen Gurt zugeschnürte Kutte um den Leib und auf dem Kopfe den zierlosen niedrigen Filzhut mit schmaler Krempe. Dieser Anzug – eine Livrée kann man das nicht nennen – ist der nämliche für den gewöhnlichen Lohnkutscher, den sogenannten Istvoschik (fünfzehn Kopeken für die Fahrt), wie für den Leibkutscher des Kaisers. Der Unterschied zwischen dem gewöhnlichen Fuhrmann und dem Stallbediensteten aus vornehmen Hause liegt in dem Körperumfang und dem blühenden, wohlgepflegten Aussehen des letzteren.

Das kaiserliche Haus geht hier mit gutem Beispiele voran, und die Last des imponirenden Körperbaues des Leibkutschers des Czaren erdrückt fast den Bocksitz. Um den Wagen des Kaisers, den zwei feurige Orloffs-Traber zogen (edle Thiere, die per Stück ihre fünftausend Rubel werth sein mögen), drängte sich nun ein Knäuel von Officieren, die das Gefährt sechs- oder siebenfach umringten und und lautem Hurrahgeschrei vor, hinter, um den Wagen liefen, als dieser sich in Bewegung setzte und auf dem Pflaster des Newski Prospects zu rollen begann.

Hier war der Anblick noch lebhafter als zuvor. Es hatten mehrere Häuser Flaggen herausgesteckt; an Balcone waren Teppiche befestigt, ja, selbst von den „Imperiales“ der Tramway-Stellwagen wehten kleine tricolore Standarten. Und der ganzen Länge des breiten Newski entlang war Mann dicht neben Mann aufgestellt, die Gardegrenadiere, jedes Regiment mit

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 374. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_374.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)