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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)

der hellaufgeputzten Musikbande, sehr schön uniformirt, aber im Spiele sehr mittelmäßig, daneben die Garde-Reiter, deren Montur lebhaft an die weißen Kürassiere in Deutschland erinnert, Husaren in allen möglichen Farben des Regenbogens, die man dem Schnitte ihrer Kleidung gemäß für ungarische Honveds halten könnte, und neben diesen wieder die sagenhaften Söhne des Don und des Dnieper, die Kosaken. Wie tönt dieses Wort durch alle Gaue und Gefilde! Der Kosak ist in den volksthümlichen Begriffen jener wilde Centaur mit den beutegierigen, räuberischen Augen, dessen Name gleichbedeutend ist mit Plünderung. Es thut mir leid, eine Illusion zerstören zu müssen, aber die Reiter in der hellblauen oder rothen Uniform, die neben ihren Cameraden auf der Perspective Aufstellung genommen, sahen in der That nicht mord- und raublustiger aus als deutsche Husaren oder französische Chaffeurs d’Afrique. Im Gegentheil, vielen sprach aus dem Gesicht der ein wenig übermüthige, aber gutmüthige Zug, der dem slavischen Typus eigen ist. Als der Kaiser und hinter ihm das großfürstliche und militärische Gefolge an den Schaaren der Krieger, die, nebenbei bemerkt, ohne Gewehre ausgerückt waren, vorüberfuhr, da erdröhnte die Luft von den mit kräftiger Stimme ausgestoßenen Hurrahs, und das Getöse pflanzte sich fort, von Stelle zu Stelle, bis der Zug unter der doppelten Triumphpforte, die zum Winterpalast führt, eingebogen war.

Aber vorher wurde eine ergreifende Pause vor der Kasanskirche gemacht. Dieses Gotteshaus, eine Nachahmung der San Pietro Basilica in Rom, ist die ältere Kathedrale Petersburgs, während heute die Isaakskirche die erste Stelle einnimmt. Jedoch bleibt die Kasanskirche mit ihren Trophäen von schwedischen, türkischen, polnischen und französischen, im Rauche der Schlachten geschwärzten Standarten, mit dem unter einem Glasrahmen sorgsam verwahrten Marschallsstabe Davoust’s ein historischer Ort. Auf der großartigen steinernen Treppe, welche mit Teppichen bedeckt und mit Blumen bestreut war, hielt der Metropolit mit dem schimmernden Gepränge seiner Popen.

Die byzantinische Kirche übertrifft an Reichthum und Ueberladung der Ornate um ein Bedeutendes die katholische, ebenso wie der Ritus ein viel ceremoniöserer und umständlicherer ist. So strotzt das weiße Obergewand des Metropoliten von Diamanten, die vermöge ihrer Seltenheit, der Reinheit ihres Wassers und ihrer Größe ein ungeheueres Capital repräsentiren. Auch die Popen sind mit Edelsteinen wie übersäet. Sämmtliche Geistliche tragen sehr langes, in der Mitte abgetheiltes Haar, sodaß man sie, von rückwärts betrachtet, recht wohl für Damen, die im Begriffe sind, sich zu frisiren, halten könnte. Warum aber dieser Aufzug auf der Treppe des Tempels? Geduld! Der kaiserliche Zug hält in dem Moment stille, als er auf dem weiten runden Platz vor der Kirche erscheint. Als rechtgläubiger Christ kann der Czar seine Hauptstadt nicht wieder betreten, ohne sofort sein Angesicht vor Gott in den Staub zu beugen. Der Czar schreitet die Treppe hinauf; der Metropolit streckt beide Arme zum Segen aus und begiebt sich in die Kirche. Die Popen folgen ihm nach. Eine gewaltige Menge füllt den ungeheuern Raum, und man kann bei der Gelegenheit die überschwengliche Frömmigkeit beobachten, die dem russischen Bauern wie dem russischen Bürger eigen ist. Zehnmal wirft sich mit automatischer Regelmäßigkeit der Muschik zu Boden und bekreuzigt sich wohl drei oder vier mal dazwischen. Dann schleppt er sich auf den Knieen bis zu einem heiligen Bilde und sucht, immer knieend, mit dem Munde einen Kuß bis wenigstens an den Rahmen hinauf zu reichen. Während des Gebets wirft er sich plötzlich auf die Kniee und küßt den Boden, aber mit einer clownartigen Gewandtheit. Er erinnert durch diese brüske Gymnastik viel mehr an das Wesen der orthodoxen Juden, als an die kalte, steife, gewissermaßen salonfähige Liturgie der katholischen Kirche, die doch ebenfalls Kniebeugungen und Bekreuzigungen vorschreibt. Nur kurze Zeit blieb der Kaiser in der Mitte der knieenden und flehenden Gläubigen – er verrichtete mit ernster Miene ein kurzes Gebet, und bald setzte sich der Zug wieder in Bewegung, der unter dem breiten Portale des Winterdienstes verschwand.

Abends sollte es „große Illumination“ geben, aber nach französischen, deutschen oder italienischen Begriffen fiel die Beleuchtung recht dürftig aus. Kaum waren einige der öffentlichen Gebäude mit Gasflammen und venetianischen Lämpchen versehen; die Privathäuser waren stockfinster.

Der zweitnächste Tag brachte die „Mai-Parade“. Es ist dies ein alljährlich wiederkehrendes militärisches Fest, dem aber jetzt die besondere Weihe der kriegerischen Ereignisse verliehen wurde. Die Einzelheiten der Mai-Parade sind zu bekannt, als daß eine Schilderung derselben hier noch von Interesse sein könnte.

Das dritte Fest endlich, welches die Woche abschloß, die Mündigkeitserklärung des Herzogs Sergius von Leuchtenberg, war nicht für die Oeffentlichkeit bestimmt. Die Stadt feierte dasselbe allerdings durch ein erneuertes Beflaggen der Häuser und Abends durch die Wiederholung der „Illumination“. Aber der Wind und der Regen spielten diesmal arg mit und bliesen die Gasflammen aus. Die Ceremonie fand im großen Saale des Winterpalastes statt und besteht bekanntlich darin, daß der mündig gewordene, das heißt in’s siebenzehnte Jahr getretene Kronprinz den Eid leistet, die Selbstherrschaft beizubehalten, für das Evangelium und das Kreuz einzustehen und die Integrität des Reiches zu wahren. Dieser Eid wird in Gegenwart der Granden des Reiches abgenommen, zu welchen sich auch der gesetzgebende Körper gesellt. Wie schon bekannt sein dürfte, besteht der größte Theil des diplomatischen Corps aus Generälen. Wenigstens sind drei Großmächte, Deutschland, Frankreich und Oesterreich, durch Kriegsoberste vertreten. Die originellste Figur darunter ist wohl jene des französischen Botschafters, General Leflô. Denken Sie sich einen weißen Fuchs mit kahlem Scheitel und einem artig vorspringenden Schnäuzlein. Dazu das leibhaftige perpetuum mobile, unfähig einen einzigen Augenblick an der nämlichen Stelle zu beharren, immer springend und tändelnd, dabei aber voller „Esprit“ und ein gewaltiger Jäger, was dem russischen Kaiser sehr gefällt. Das Diplomatische des Generals Leflô besteht wohl darin, daß er seinen französischen Landsleuten die Ueberzeugung beibrachte, daß er in St. Petersburg unentbehrlich sei, weil er sich durch seine Witze und seine Tüchtigkeit als Waidmann beim Czaren sehr beliebt gemacht hätte.

Bekanntlich hatte der Vorgänger Leflô’s, General Fleury, einst nach Paris gemeldet, er stehe sich mit dem Kaiser so gut, daß er mit demselben in einem Schlitten fahre, in welchem Jeder der beiden Passagiere nur mit einer Hälfte seines Postamentes zu sitzen käme. Die Franzosen glauben Alles, und Leflô bleibt Hahn im Korbe, erscheint bei jeder Revue in seinem Generalsrocke und bei allen Festlichkeiten im schwarzen Fracke, mit weißer Weste und taubengrauen Hosen. Es ist ungefähr das Costüm, welches er vor siebenundzwanzig Jahren als Quästor der Nationalversammlung trug, als die Häscher Napoleon’s sich seiner bemächtigten. Er wurde damals nach Vincennes abgeführt. Und heute – liegt jener, der ihn verhaften ließ, im Grabe und er, der es unter der Achtundvierziger Republik bloß zum Quästor der Kammer gebracht, ist wohlbestallter und reichbesoldeter Gesandter am glanzvollsten Hofe Europas. Es war auch ein Stück Zeitgeschichte, das an meinen Augen vorüberfuhr, als der Gesandte mit dem schlauen Fuchsgesichte aus dem Palais d’Hiver fuhr und den reichbordirten Hut nach allen Seiten lüftete, zugleich verbindlich und mit theatralischer Beweglichkeit grüßend.

Paul d’Abrest.[1]


Blätter und Blüthen.

Leicht Gepäck. Wenige Wochen noch, und es beginnt die Zeit der Ferien, der Sommerfrischen und Badereisen. Der Arzt verordnet Erholung, frische Bergluft und vernunftgemäße Diät, Ausruhen des Gehirns von winterlichen Geistesarbeiten, den wirklich Kranken auch wohl böhmische oder süddeutsche Heilquellen, und der abgespannte unterleibskranke Patient zieht endlich hinaus, wo die salzigen Quellen und Sprudel springen oder die himmelanstrebenden Föhren und Tannen auf harzduftenden Höhen ihm verlockende Sirenenlieder von der „Freiheit auf den Bergen“ singen. In berauschender Lust wirft er alle Geschäfts- und Amtssorgen hinter sich und saugt in der stärkenden Luft neues, frisches Leben auf – er, der so lange nur Maschine war und selten nur Mensch sein durfte. Dann kommen jene Stunden und Tage über uns, an deren Erinnerung wir wieder einen ganzen Winter zehren und die uns für den Augenblick so unendlich glücklich machen, weil sich die


  1. Da die Adresse des Herrn Verfassers uns augenblicklich nicht bekannt ist, so bitten wir ihn an an dieser Stelle, uns Petersburger Erlebnisse und Ereignisse etc. von jetzt ab nicht mehr zu schildern, uns vielmehr nur vom Kriegsschauplatze selbst aus seine Berichte zugehen zu lassen.
    D. Red.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 375. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_375.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)