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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


Vom Verfasser des deutschen „Robinson“.
Ein Cultur- und Charakterbild aus dem vorigen Jahrhundert.
I.


Am 20. September 1777 sahen sich die gebildeteren Kreise der stillen und idyllisch gelegenen Residenzstadt Dessau in eine ungewöhnliche Aufregung durch das plötzliche Entschwundensein eines Mitbürgers versetzt, an den große Interessen und Hoffnungen des Landesfürsten und der Bewohnerschaft sich geknüpft hatten. Mancher große und kleine Ort hat in den gegenwärtigen Tagen ähnliche Schrecken und Bestürzungen seiner Bevölkerung erlebt. Dieselben galten aber dem heimlichen Entweichen irgend eines Bankdirectoriums, dem unerwarteten Zusammenbruche vertrauenerweckender Speculationsunternehmungen, deren Sturz für Hunderte oder Tausende ruinirende Verluste an Geld und Gut mit sich führte. Von solchen stürmischen Wechselfällen eines leidenschaftlichen Mammonsdienstes wußte indeß jene letzte Periode des achtzehnten Jahrhunderts noch nichts, die eine Zeit erregter Innerlichkeit und beglückenden Wiedererwachens der Geister aus langem und dumpfem Schlummer war. Gab es damals überhaupt schon öffentliche Interessen, so waren sie vorwiegend idealer Natur. Große Culturfragen gährten in den Gemüthern und unter ihnen wurde keine mit tieferer Inbrunst erfaßt als die einer durchgreifenden Reform der Erziehung und des Jugendunterrichts. Durch diese Reform sollte das neu aus gedrückter Vergangenheit hervorwachsende Geschlecht einer vernunftgemäßen harmonischen Bildung zugänglich gemacht, dem finsteren Aberglauben und der Rohheit, so wie allem lieblosen Vorurtheil entzogen und jenen Grundsätzen der Humanität, der Duldsamkeit und veredelten Gesittung gewonnen werden, welche die Propheten der Epoche unablässig als den Ausgangspunkt des Heils, als die Erlösung der Menschheit aus der Nacht zum Lichte, aus der Knechtschaft zur Freiheit verkündeten.

Ja wohl, es war eine warm den Tiefen der Seelen entströmende, gewaltig aufleuchtende Geistesmacht, die in dieser Zeit traurigster Volksunterjochung hier und dort zu thatkräftigem Leben gediehen war. So unwiderstehlich war ihr Zug, daß er auch in die Paläste drang, auch die Herzen mancher Gewalthaber ergriff und verschiedene Regenten deutscher Länder zu begeisterten Aposteln des Verjüngungswerkes machte. Ihr Wirken ging nach einer oder der anderen Richtung hin. Während Karl August von Weimar vornehmlich der jung aufstrebenden Literatur und Dichtung einen Boden und Mittelpunkt zu behaglichem Wachsen bereitete, war das Bestreben seines Freundes und Gesinnungsgenossen, des erleuchteten und kunstverständigen Fürsten Franz von Dessau, mehr auf praktische Ziele der Veredlung und Wohlfahrt seines Volkes gerichtet. Leider fehlt es in unserer Literatur noch an einem Lebens- und Charakterbilde dieses seltenen Mannes, der unablässig und erfolgreich der großen Aufgabe sich widmete, aus seinem Lande ein auch mit den Reizen landschaftlicher Schönheit ausgestattetes Musterland zu schaffen, ohne daß er mit seiner umfassenden Arbeit und Sorge auf diese Umgestaltung der engen Heimath und namentlich ihres Schulwesens sich beschränkt hätte. Um mit den reformatorischen Erziehungs-Ideen Rousseau’s Ernst zu machen, zu deren eifrigsten und verständnißvollsten Jüngern der Fürst Franz gehörte, errichtete er auch 1774 in Dessau jenes sogenannte „Philanthropin“, das ursprünglich nur eine Art Seminar werden sollte, eine Pflanz- und Uebungsschule junger Lehrer, um von hier aus die frohe Botschaft der befreienden Lehr- und Erziehungsmethode in alle Lande zu tragen. Unter den Hauptpunkten des dafür aufgestellten Programms nennen wir nur zwei für jene Zeit wahrhaft revolutionäre: die Sorge für eine gleichmäßige Entwickelung des Körpers und Geistes und eine vollständige Confessionslosigkeit des Unterrichts, so daß katholische, protestantische und jüdische Zöglinge hier unterschiedslos und in friedlicher Gemeinschaft nur zu gesunden, guten und tüchtigen Menschen erzogen werden sollten. Zum Leiter der von den Aufgeklärten aller Orten mit hohen Erwartungen begrüßten Humanitätsanstalt wurde der berühmte pädagogische Reformator Basedow berufen, aber die Art seines Charakters befähigte ihn nicht für diese Aufgabe. Trotz der hingebenden Aufopferung des Fürsten krankte das in Betreff seiner Absichten schnell zu einem Weltruf gelangte Institut an ungeordneter Wirthschaft und namentlich an geheimen Zwiespältigkeiten des Lehrerpersonals, so daß es erst einen Aufschwung nahm und zu einiger Blüthe gedieh, als 1776 in dem dreißigjährigen Joachim Heinrich Campe ein begeisterungsvoller Verkünder und Vertheidiger der neuen Richtung als Mitcurator und Lehrer gewonnen war.

Mit Einsicht und rüstigster Thatkraft ging Campe an das Werk der Reorganisation, und es wurden auch die Erfolge bald sichtbar. Aber selbst die angestrengteste Selbstverleugnung konnte den Wurm nicht beseitigen, der von vornherein in verborgenen Winkeln der jungen Schöpfung gesessen hatte. Die Kraft des Neuberufenen erlahmte daher bald in eben so aufreibenden wie vergeblichen Kämpfen mit den Genossen; er erkannte, daß er auf diesem Platze nicht bleiben durfte, aber er sah auch, daß sein Gesuch um Entlassung nur einen Sturm von unwiderstehlichen Bitten und Zugeständnissen begegnen würde. Darum wählte er entschlossen, wenn auch mit schwerem Herzen, den Weg der heimlichen Flucht. Während Fürst Franz und die Bewohner seiner Residenz am Vormittage jenes 20. September mit Gefühlen schmerzlichster Ueberraschung nach der leeren Stelle blickten, auf der gestern noch die imposante Erscheinung des geliebten und allseitig verehrten Mannes gestanden hatte, war derselbe schon seit vielen Stunden dem Weichbilde der Stadt und den Grenzen des Ländchens für immer entrückt. Auf einem durch diese aufsehenerregende Flucht berühmt gewordenen Schimmel ritt er ohne Rast, still und in sich gekehrt, nach Hamburg, dem Ziele seiner Wünsche. Alle späteren Vorstellungen und Bemühungen, ihn zur Rückkehr nach Dessau zu bewegen, zerschellten an seiner Entschlossenheit; in eigener Person war Fürst Franz sogar nach Hamburg gereist, um den Unentbehrlichen für das Institut zu retten. Dieser hatte zu deutlich erkannt, daß für den Plan des schönen Unternehmens die geeigneten Werkzeuge noch nicht vorhanden seien. Das Philanthropin verging denn auch wie eine frühreife Blüthe, Campe aber hat es noch lange überlebt in selbstständigem Aufsteigen zu großer Thätigkeit und hohem Ruhm. Unter den Männern, welche die Gedanken des Philanthropinismus vertraten, ist er der Einzige, dessen Geistesspuren noch in lebendigen Strömungen der heutigen Tage deutlich zu erkennen sind. Nicht blos ihm, sondern auch uns selber sind wir es schuldig, daß wir sein Bild und die Erinnerung an sein Leben und Wirken in uns aufzufrischen suchen.

Schon Campe’s Berufung nach Dessau war nur eine Folge der vertrauensvollen Achtung und Anerkennung gewesen, welche der jugendliche Mann durch sein bisheriges Leisten und den Eindruck seiner ganzen Persönlichkeit in hervorragenden Kreisen sich erworben hatte. Nicht ohne schwere Mühen und Kämpfe war er mit eigener Kraft und Begabung zu dieser Stufe emporgestiegen, und wie die Mehrzahl der ausgezeichneten Geisteshelden aller Zeiten blickte auch er auf einen dornenvollen Jugendweg zurück. Sein Vater war zwar aus begütertem adeligem Geschlechte, besaß aber selber nur ein unbedeutendes Gütchen und betrieb zugleich einen bürgerlichen Handel mit Garn und Leinen in dem braunschweigischen Dorfe Deensen. Dort wurde unser Joachim Heinrich am 19. Juni 1746 geboren. Die Verhältnisse der Familie waren damals ganz behaglich. Eine durchaus wohlgesittete patriarchalische Häuslichkeit und das freie Leben auf dem Lande waren der gesunden Entwickelung des befähigten und ungewöhnlich ernsten Knaben günstig, während die Eindrücke der reizend schönen Umgebungen in ihm jenes tiefe Naturgefühl weckten, das eine der stärksten Seiten seines Wesens blieb. All’ dieses stille Glück des elterlichen Hauses reichte jedoch nicht über sein zwölftes Jahr hinaus. Eine schnell verlaufende Krankheit raffte den Vater hinweg, und nicht lange darauf wurde die Ruhe des Dörfchens durch die ersten Heimsuchungen des siebenjährigen Krieges gestört, unter dessen weiteren Drangsalen und Verwüstungen das väterliche Erbe der Campe’schen Familie zum größten Theile verloren ging. Es waren vielfach harte, nur durch unablässigen Fleiß und rüstiges Aufstreben beschwingte Jahre, die der Knabe auf der Klosterschule in Holzminden, der nachherige Studirende der Theologie auf der Universität Helmstedt durchleben mußte.

Unter den theologischen Lehrern dieser Hochschule standen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 400. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_400.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)