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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


folgte einem richtigen Zuge des Herzens, als er dorthin seine Schritte lenkte. Ein bescheidenes Quartier hatte er bald gemiethet und dasselbe wurde zu einer wahrhaften „Wohnung des Friedens“, als ihm Weib und Töchterchen von Dessau her in das neue Asyl gefolgt waren. Hier wollte er sich und die Seinen zunächst durch schriftstellerische Arbeit ernähren. Aber es kam ihm auch in der großen Handels- und Weltstadt wieder so viel aufrichtige Gastfreundschaft, so viel Liebe und Vertrauen entgegen, daß er sich gegen seinen Willen bald von Neuem in die eben erst verlassene erzieherische Laufbahn verschlagen sah. Einige befreundete Männer, reiche, wackere und hochangesehene Kaufleute Hamburgs, baten ihn so dringend, die Erziehung ihrer Söhne zu übernehmen, daß er nicht widerstehen konnte. So entstand allmählich jenes berühmt gewordene, reizend im Billwerder Ausschlage am grünen Hammerdeiche gelegene Erziehungsinstitut, in welchem die Grundsätze des verbesserten Unterrichts- und Erziehungswesens so durchaus lebenswarm und musterhaft vor den Augen der Welt verwirklicht und erprobt wurden. Bei der absichtlich nur beschränkten Zahl der Zöglinge (nicht mehr als zwölf) gestaltete sich diese Stätte allmählich zu einem Quell des Heils und der reinsten Beglückung. Hier walteten der große Menschenbildner und seine verständnißinnige Gattin mit der unermüdeten Hingebung eines hochsinnigen Elternpaares, und es war über ihr Verhältniß zu den ihnen anvertrauten Knaben und Jünglingen, so wie über das Thun und Schaffen des ganzen Kreises ein Glanz der Liebe, des Eifers und der gesunden Frische und Heiterkeit gebreitet, der die sehr zahlreich oft von weiter Ferne herbeikommenden, meistens hervorragenden Besucher bezauberte und zur Bewunderung hinriß. Und noch ein anderes Glück war Campe durch diesen Aufenthalt am „grünen Deich“ gewährt. „Ich bin jetzt ganz Landwirth,“ so schrieb er 1779, „und dabei mit meinem ganzen Hause so gesund, als wir nie gewesen sind … wie viel ich jetzt arbeite und ohne Erschlaffung arbeiten kann, davon haben Sie keine Idee. Ich schreibe beinahe immer für zwei Pressen.“

In der That war das schriftstellerische Leisten Campe’s während dieser Hamburger Periode ein ungemein fruchtbares. Während er mit den bedeutsamsten Geistern der Epoche – wir nennen nur Klopstock und Lessing – in reger Correspondenz und naher Freundschaftsbeziehung stand und für alle großen Fragen des sittlichen und materiellen Volkswohls ein offenes Auge hatte, wurde er im eminentesten Sinne zugleich der Jugendschriftsteller seiner Zeit. Unter den Erzählern und Schriftstellern für die Jugend hat keiner wieder die Bedeutung, das Ansehen und den Einfluß Campe’s erlangt, und sind seine Kinderschriften später von Kritikern und Literarhistorikern stark getadelt worden, so war es, wie mit Recht dagegen bemerkt wurde, die rein ästhetische Betrachtungsweise, welche bei gänzlichem Zurseitelassen der pädagogischen Gesichtspunkte zu solchen absprechenden Urtheilen führte. Alle Jugendschriften Campe’s gehen von dem leitenden Grundsatz aus, daß man der erstrebten Umgestaltung der menschlichen Zustände auch neue Menschen entgegen bringen müsse.

Der Lectüre der ersten Lebensperiode fiel in dieser Hinsicht eine große Aufgabe zu und für ihre ersprießliche Lösung vereinigte sich in Campe die Kraft des Dichters mit den vielseitigen Wissen des Gelehrten und dem methodischen Geschicke des von innigster Liebe zu der Kinderwelt beseelten Pädagogen und Lehrers. Ein Zeugniß dafür ist unter Anderen die in Hamburg erschienene „Kinderbibliothek“, und vor Allem die schönste und duftigste Blüthe im reichen Kranze der Campe’schen Jugendschriften sein „Robinson der Jüngere“, bekanntlich eine durchaus selbstständige Bearbeitung des bekannten Defoe’schen Romans. Das Buch entstand aus mündlichen Erzählungen Campe’s an seine Zöglinge und aus wirklich daran geknüpften Unterhaltungen mit den Kindern. Es ist hier nicht der Ort, den späteren ästhetisch-kritischen Angriffen gegenüber, die außerordentlichen Vorzüge dieser Leistung zu beleuchten. In seiner Vorrede bemerkt Campe selbst, daß es ihm nicht allein um Unterhaltung, auch nicht allein um die Belehrung der jungen Leser, oder nur um eine allgemeine, sittliche Einwirkung auf dieselben zu thun gewesen sei. Ausdrücklich wollte er vielmehr auch durch das Büchlein für eine specielle Culturaufgabe der Zeit wirken und einer schlimmen Krankheit derselben entgegen arbeiten: den müßigen Rührungen eines in eingebildeter süßlicher Schäferwelt lebenden Empfindsamkeitsfiebers, „dieser garstigen Seuche, die zwar nicht mehr am hellen Tage verdirbt, aber noch immer im Finstern schleicht und die junge Nachkommenschaft an Leib und Seele zu schwächen, ihre Selbstthätigkeit zu untergraben droht“. Allen diesen Zwecken ist denn wohl auch durch den ungeheuern Erfolg, die beispiellos große und besonders durch ihre Nachhaltigkeit sich auszeichnende Verbreitung des „Robinson“ gedient worden, der schnell eine Weltberühmtheit erlangte und seit nunmehr achtzig Jahren mit den freundlichsten Jugenderinnerungen aller seitdem erstandenen Geschlechter verwachsen ist. Wir wissen nicht, wie groß in unserer Literatur die Zahl der Bücher ist, die, wie Campe’s „Robinson“, in alle europäische Sprachen übersetzt sind, sogar in’s Lateinische, in’s Neugriechische und Russische. Aber zu den seltenen Ausnahmen gehört es wohl, daß solche Uebersetzungen in den betreffenden fremden Ländern eine Reihe von neuen Auflagen erlebten, wie der „Robinson“. Vom deutschen Original war 1833 bereits die siebenundzwanzigste, 1872 die zweiundachtzigste Auflage erschienen.




Ein kaiserlicher Extrazug.
Geschildert von einem Begleiter desselben.


Es war im Monat Mai des Jahres 1875, als die untergehende Sonne mit ihren letzten Strahlen die Häuser von Wirballen, einer kleinen Stadt an der russisch-preußischen Grenze, beleuchtete. Auf dem Saume des Horizontes lagerte eine feuerige, glühende Wolkenschicht und spiegelte sich in der runden und blanken Kuppel der griechisch-katholischen Kirche goldig glänzend wieder. Eine festlich geschmückte Menge, welche heute kein Auge für die Schönheiten des Abendrothes hatte, eilte lebhaft gesticulirend und plaudernd dem Bahnhofe zu. Hohe und niedrige Militärs von verschiedenen russischen Garde- und Linienregimentern in Galauniform gingen bereits auf dem Perron auf und ab und bildeten mit den von Nah und Fern herbeigeeilten Bauern in der russischen Nationaltracht und den langbärtigen Juden mit dem schwarzen, glänzenden Kaftan ein eigenthümlich belebtes Bild. Auch der Aermste hatte sich ein festliches Gewand angezogen, galt es doch, in dem russischen Kaiser den geliebten Landesherrn zu begrüßen, dessen baldige Ankunft mit einem Extrazug bereits signalisirt war.

Zum festlichen Empfang flatterten Fahnen in den russischen und preußischen Nationalfarben stolz von den Zinnen des Bahnhofsgebäudes und sprachen laut für das Einvernehmen, welches zwischen den beiden großen Nachbarreichen herrschte. Prächtige, aus frischem Grün geflochtene Guirlanden umwanden die eisernen Säulen des stattlichen Perrons und zweigten sich in gefälligen Bogen zu den kaiserlichen Empfangszimmern ab, über deren Hauptportal eine große Krone mit dem Namenszug des Kaisers in buntfarbigen Blumen prangte. Auf der Seite des Bahnhofs, in die das preußische Geleis mündet – die russischen und preußischen Eisenbahnen haben bekanntlich verschiedene Spurweiten – stand bereits ein langer Wagenzug, mit zwei Schnellzugsmaschinen bespannt, welche, sauber geputzt, in dem scheidenden Licht der Sonne prächtig glänzten. Prüfend gingen Führer und Heizer, mit Oelkannen und Schraubenschlüsseln in den Händen, um die Maschine herum, besahen und befühlten nochmals jeden einzelnen Theil, zogen die Schrauben und Muttern an besonders gefährdeten Stellen fester an und füllten bis zum Rand die Oelbehälter, welche mit Korkstöpseln oder Kapseln verschlossen wurden. Lange Strecken mußten durchfahren werden, ehe ein Nachölen wieder stattfinden konnte, und heute galt es den besonders ausgewählten Beamten für eine Ehrensache, den Extrazug sicher und ungefährdet an den Bestimmungsort zu befördern.

Der Zug selbst bestand aus dem kaiserlich russischen Train, der in der Blüthezeit des französischen Kaiserreichs für die Kaiserin Eugenie gebaut und, als die Macht desselben bei Sedan gebrochen, zu Fahrten in Deutschland von der russischen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 402. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_402.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)