Seite:Die Gartenlaube (1877) 404.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


gehalten wird. Eine weit klaffende Wunde gestattet dem Schmutz und Staub freien Eintritt; wenn dieselbe nicht schnell geschlossen wird, ist ein Brennen des Achslagers unvermeidlich und die Gefahr groß. Nur wenige Minuten fehlen zur Abfahrtszeit. – Neue Schrauben nebst Muttern einzuziehen, fehlt es an Zeit. „Was kann ich thun, um schnell den Schaden zu repariren?“ überlegt der revidirende Beamte nur einen Augenblick. Schnell ist sein Entschluß gefaßt; mit kräftigen Bindesträngen befestigt er den heraufgedrückten Untertheil an den Obertheil, und der Verschluß ist wieder hergestellt. Kaum ist der letzte Knoten geschürzt und die Arbeit beendet, so ertönt auch schon das Signal zur Abfahrt. Langsam setzt sich der Zug in Bewegung und ist bald dem Bereiche des Bahnhofes entschwunden.

„Wird der Strick auch seine Schuldigkeit thun und bis Königsberg halten? Wird sich derselbe durchscheuern und die glücklich abgewendete Gefahr erneuern? Hast Du Nichts in der kurzen Zeit übersehen? Werden alle Tragfedern und Reifen aushalten?“ Alle diese Gedanken wirbeln dem Wagenmeister chaotisch durch den Kopf. Die Station hat allerdings auf seine Veranlassung Königsberg durch den Telegraphen benachrichtigt und bei der Ankunft um schleunige Abhülfe gebeten, doch ein seltsames Gefühl von Unruhe, theilweise hervorgerufen durch die Vorwürfe des Stationsvorstehers, beschleicht den Revisor. Sicherlich wäre es besser gewesen, wenn der Wagen ausrangirt und lieber der Aufenthalt verlängert worden wäre, wenn auch dieses Manöver großes Aufsehen erregt hätte.

Unaufhaltsam rollt der Zug weiter. „Vorwärts! Vorwärts!“

Langsam und majestätisch steigt die Mondscheibe empor und beleuchtet mit ihrem matten Silberschein die einsame Gegend, an welcher der Zug vorübersaust und die in der Stille der Nacht wie ausgestorben daliegt. Nur von fern hört man das Bellen von Hunden oder den klagenden Ruf eines Käuzchens. Fledermäuse durchschwirren die Luft und fliegen erschreckt von dannen, wenn beim Auffeuern heller Schein den geöffneten Feuertüren entströmt.

Feierliche Stille in der Natur und in den kaiserlichen Gemächern, nur durch das einförmige, gleichmäßige Klappern der Räder unterbrochen. Das monotone Geräusch übt auch auf die Männer auf der Maschine einen einschläfernden Einfluß aus, und wenn dieselben mannhaft gegen diese Anwandlungen von Schwäche ankämpfen und sich gewaltsam zusammenraffen, so will die Natur doch immer auf's Neue ihr Recht geltend machen. Gedanken reihen sich an Gedanken, und unwillkürlich beschäftigen sich dieselben mit dem hohen Reisenden und seinen Begleitern.

„Wer doch auch so bequem in den weich gepolsterten Kissen liegen könnte, statt auf der zugigen Maschine zu stehen und unverwandt in die dunkle Nacht hinauszuschauen!“ „Hörten Sie nicht auch ein Pfeifen?“ wendet sich plötzlich der Führer der zweiten Maschine an den Heizer, welcher stillträumend in's Leere starrt und nun unsanft aufgerüttelt wird. „Das Pfeifen wiederholt sich; der verdammte Staub, den die erste Maschine aufwirbelt, überschüttet mir das ganze Gewerk; kaum kann ich die Augen noch öffnen. Reichen Sie mir die Oelkanne her! Ich muß hinaus und die Ursache ergründen.“ Leicht und gewandt wie eine Katze schwingt sich der Führer längs der Galerie auf das Trittblech und horcht noch einmal mit gespanntem Ohr auf das ungewöhnliche Geräusch. Schneidender Wind, Dampf und Rauch von der ersten Maschine benehmen ihm anfangs den Athem, doch der Gefahr muthig in's Auge schauend, erfaßt er mit der rechten Hand die Oelkanne und gießt Ströme voll Oel auf den gefährdeten Theil, während er sich mit der linken krampfhaft an den Laufstangen festhält. Verschwunden sind die stillen Träumereien, und die ganze Aufmerksamkeit ist nur auf den gefährdeten Theil concentrirt. Bleiern fließen die Minuten dahin, und trotz der großen Geschwindigkeit scheint der Zug sich nur langsam fortzubewegen. „Ach, wäre doch erst Königsberg erreicht!“ In der Aufregung schlagen alle Pulse heftiger; die Minuten werden zu Ewigkeiten; nun ist auch der letzte Tropfen verölt. „Wenn sich noch einmal das unheimliche Geräusch wiederholen sollte, muß ich doch noch den Zug halten lassen. Was würden der Kaiser und die Vorgesetzten sagen! Adieu, guter Ruf und Ehre!“

Schneller und schneller braust auf dem anhaltenden Gefälle der Zug dahin; eine Station wird im Fluge nach der andern passirt; nun ist auch die letzte erreicht, und alle Theile scheinen immer noch gut und sicher zu functioniren.

In undeutlichen Umrissen tauchen bei dem schwachen Mondschein die Thürme von Königsberg auf – noch eine kurze Spanne Zeit, und der Zug ist geborgen. Horch! von der ersten Maschine ertönt ein leiser Pfiff, dem in kurzen Intervallen drei gleich kurze Töne folgen. Der Zug steht einen Moment an der Ueberkreuzung mit der ostpreußischen Südbahn still, um sich sofort wieder in Bewegung zu setzen.

Ein unendliches Meer von Lichtern taucht auf. Signale und Weichenlaternen geben dem vorderen Führer die Richtung zur Einfahrt nach dem äußeren Bahnhof an. Dumpf rollt der Zug über die Brücke des Festungsgrabens und hält bald darauf unter dem stattlichen Perron, wo auf den speciellen Wunsch des Kaisers keine Empfangsfeierlichkeiten stattfinden sollen.

„Es war die höchste Zeit,“ ruft der Führer der zweiten Maschine mit erleichtertem Herzen aus und geht prüfend und fühlend um die Maschine herum. Heiß sind allerdings alle Gewerkstheile gelaufen und dick mit Staub überkrustet, doch die Ehre ist gerettet und der Zug prompt befördert worden. Auch der Bindestrang hatte seine Schuldigkeit gethan und bis zum letzten Augenblick gehalten. Den schnell herbeigeholten Arbeitern gelang es in kurzer Zeit, den Schaden zu repariren. Nachdem sich zwei frische Maschinen vor den Extrazug gelegt hatten, dampfte derselbe lustig in die Morgenluft hinein und erreichte ohne jeden Unfall Berlin.




Das Münsterjubiläum in Ulm.
(Mit Abbildungen.)


In den letzten Tagen des Juni feiert die Stadt Ulm ein Fest, wie es einer Stadt ihres Ranges nur selten einmal im Laufe der Jahrhunderte zu feiern vergönnt ist und für welches sie wohl aller Orten, soweit die deutsche Zunge klingt, freudiger Theilnahme sich versichert halten darf.

Es war in der Zeit des kräftigsten Emporstrebens, es war eine That stolzen Machtgefühls, als die Ulmer im Morgengrauen des 30. Juni 1377 feierlich den Grundstein zu ihrer neuen Pfarrkirche legten, welche der größte Dom Deutschlands werden sollte. Ein Jahr zuvor hatten sie den Kaiser Karl den Vierten, als er mit Heeresmacht vor ihren Mauern erschien, um ungerechte Forderungen durchzusetzen, zu wenig rühmlichem Abzuge gezwungen, und vor wenigen Wochen erst hatten sie die Kunde von dem bei Reutlingen erfochtenen Siege der Städter über den Sohn des Grafen von Württemberg und die schwäbische Ritterschaft erhalten. Auch nachdem elf Jahre später der Sieg Eberhard's des Greiners bei Döffingen das Uebergewicht der Fürstenmacht in Schwaben entschieden hatte, war damit dem Wachsthum der Stadt keineswegs ein Ziel gesetzt; das Gebiet vergrößerte sich; Gewerbe und Handel blühten; „Ulmer Geld regierte die Welt“. Und wenn durch die neueste Forschung die gegenwärtig noch allgemein verbreiteten Annahmen über die Bevölkerungszahlen der deutschen Städte im Mittelalter bei vielen als übertrieben nachgewiesen werden, wenn namentlich das mittelalterliche Ulm schwerlich je mehr als zwanzigtausend Einwohner innerhalb seiner Ringmauern gezählt hat, so muß man umsomehr die Thatkraft jenes Geschlechtes bewundern, das so weitreichender Entwürfe fähig war.

Der Bau des Münsters wurde durch das ganze fünfzehnte Jahrhundert in bald rascherem, bald langsamerem Fortschreiten, je nachdem Zeit und Mittel es erlaubten, fortgesetzt; als Leiter waren an demselben hauptsächlich Ulrich, Matthäus und Moriz aus der Baumeisterfamilie der Ensinger, Hans Kuhn, Matthäus Böblinger und endlich Burkhard Engelberger thätig. In der Ausschmückung des Innern wetteiferten mit den Häuptern der damals blühenden Ulmer Malerschule, einem Herlen,

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 404. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_404.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)