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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


während über Starbord eine schäumende Welle nach der andern in das Schiff schlägt und es mit Wasser füllt; um dies nicht zu einer gefahrdrohenden Last anwachsen zu lassen, steht hinter dem Segelbaum ein Mann, der fortwährend die sich ansammelnde Fluth aus dem Schiffe schaufelt und der, da diese Arbeit ungemein anstrengt, von Zeit zu Zeit durch einen andern abgelöst wird. Daß natürlich sämmtliche Insassen gleichfalls naß werden, läßt sich denken, was aber um so gründlicher möglich ist, als sie sich nicht mit dicken Mänteln allzuschwer behängen dürfen, um für den gefürchteten Moment, wo das Schiff kentern sollte, nicht allzuschwer mit Sachen behängt und im Gebrauch der Glieder behindert zu sein; denn ihre einzige Rettung besteht dann darin, daß sie sich an dem umgeschlagenen Schiffe festklammern. Ist es ein kleinerer Ewer, so gelingt das im Fall eines Unglücks auch meist allen Insassen, ist es aber einer der größern Sorte, mit vielen Personen angefüllt, so kehrt wohl in solchen Fällen mancher von ihnen nicht wieder heim. Die Ursache solcher bald seltener, bald auch wiederholt auftretender Unglücksfälle ist weniger der eigentliche Sturm, als hauptsächlich das Gewitter, indem hier die unberechenbaren, von entgegengesetzten Seiten hereinbrechenden Windstöße das Schiff zum Umschlagen bringen.

Dies der Transport im Sommer; im Winter nun, wenn die Elbe fest zugefroren, tritt an Stelle des Schiffes der Schlitten, und zwar sowohl der von Pferden gezogene, wie auch der von Menschen geschobene. Dieser letztere ist eigenthümlich und praktisch gestaltet; eine breite Platte, um welche eine starke Leiste läuft, ruht auf niedrigen, vorn aufwärts gebogenen Kufen, auf der Rückseite aber erhebt sich in stumpfem Winkel ein lehnenartiges Joch, welches eine bequeme Fortbewegung gestattet, während die massive Construction den Transport einer bedeutenden Quantität Milch ermöglicht, im Unterschied aber vom Schiffstransporte treten hier an Stelle der Milcheimer Milchtonnen, welche eine größere Sicherheit gewähren, denn das Eis der Elbe friert nicht in flachem Spiegel, sondern setzt sich aus Eisschollen zusammen und ist deshalb sehr holperig.

Bestände nur die Wahl zwischen fahrbarem Wasser und fahrbarem Eise, so würde die Sache mit Schiff und Schlitten abgemacht sein. Wie aber bei Eisgang und auf nicht tragfähigem Eise den Transport bewerkstelligen? Man hat sich da auf die einfachste Weise von der Welt geholfen. Da weder Schiff noch Schlitten verwendbar, so hat man eben ein Fahrzeug hergestellt, das zugleich Schiff und Schlitten ist, den sogenannten „Eiskahn“, einen spitzen, schmalen Kahn, wie ihn unsere Illustration zeigt; der scharfabgegrenzte dunkele Streifen unter dem Schiffe ist nicht etwa der Kiel, wie der Leser beim ersten Anblick wohl denken mag, sondern eine starke, feste Schlittenkufe, links und rechts unter dem flachen Boden des Kahnes.

Begleiten wir nun dieses sonderbare Zwitterfahrzeug auf einer seiner winterlichen Morgenfahrten, bei denen es wirklich kopfüber und kopfunter geht!

Die Milch ist gleichfalls in Tonnen weggestaut; vier, resp. sechs Mann nehmen darauf Platz, während je zwei am Vorder- und Hintertheile außerhalb des Schiffes auf ihren Posten treten. Doch sind auch meist die Darinsitzenden, so lange der Kahn nicht im Wasser ist, namentlich an schwierigen Stellen auf dem Eise über Bord. Die Männer sind sämmtlich mit hohen, bis über die Schenkel heraufreichenden Wasserstiefeln, einer dicken Jacke und dem Südwester bekleidet. Draußen liegt noch dunkle Nacht über der Landschaft; von eisigem Winde gepeitscht, wirbelt ein tolles Schneetreiben über den Strom, auf dessen finsteren Gewässern dichte Eismassen hin- und herdrängen. Die Vordermänner haben sich an Bord geschwungen; die Hintermänner stoßen ab, indem sie Jenen nachspringen, und hinein in den unwirthlichen Fluß taucht der Eiskahn. Doch war er schon mit Bedacht so gelenkt, daß er eine mächtige, lang ausgedehnte Eisscholle anläuft, deren Herannahen die Männer mit geübtem Blicke berechneten. In dem Momente, wo das Vordertheil des Kahns an der Scholle hinaufschießt, das Hintertheil tief in den Strom versenkend, sind auch schon die Vordermänner heraus auf das Eis, den Kahn nach sich ziehend, wenngleich die Scholle sich tief in das Wasser neigt, das, weit überspülend, heraufquillt. In der nächsten Secunde haben auch die Hintermänner auf dem Eise Fuß gefaßt, und nun gleitet der Kahn, halb gezogen halb geschoben, über die Eisfläche hin, deren Ränder rücken aber schon näher, weshalb auch die vorn Auslug halten und eine packbare heranrückende Eisfläche in’s Auge fassen, das Fahrzeug nach jener Seite hin dirigirend. Wieder taucht es momentan in den Strom, indeß die Vordermänner sich an Bord schwingen; tief sinkt das Vordertheil, während das Hintertheil hoch aufbäumt; dann schießt der Kahn auf die neugewonnene Eisscholle hinauf; wieder sinkt das Hintertheil mit den aufgesprungenen Hintermännern, bis auch diese auf dem Eise Fuß gefaßt und das Ziehen und Schieben von Neuem beginnt. Und so geht es mit dem sich bäumenden Fahrzeuge in wilden gefährlichen Sprüngen fort und fort, von Scholle zu Scholle durch das aufschäumende Wasser, umsaust vom Sturme und Schneegestöber.

Da – ein Aufschrei: der eine Vordermann ist verschwunden. Doch nein – nicht ganz; festgeklammert hält er sich am Rande des Kahnes, aber bis an die Brust ist er eingesunken in das eisige Element: seinen prüfenden Blick und Fuß täuschte eine tückische Scholle, die, unter seinem Sprunge zersplitternd, ihn in die Tiefe zog; wenn er losließ, war er verloren, verschwand er sofort unter den Eismassen, so aber schwingt er sich mit Hülfe der Insassen, triefend und vor Frost zitternd, über Bord, wo er sich durch einen Schluck aus der „Buttel“ erwärmt.

Inzwischen hat die Nacht einer matten Dämmerung Platz gemacht, und endlich taucht aus dem Schneegestöber der Mastenwald des Hafens und damit das ersehnte Ziel auf. Die Landungsstellen der Ewer sind hauptsächlich die Butencajen des Binnenhafens, die Vorsetzen und der Herrengraben. Am Jonas aber und an der Gasanstalt legen je ein Dampfer an, am Jonas der aus Moorburg, an der Gasanstalt der von Hopte und Ochsenwärder. Die Milchleute dieser Oerter haben sich die beiden mächtigen Gewalten unserer Zeit, den Dampf und die Association, dienstbar gemacht, denn der Dampfer ist gemeinsames Gut.

In dem Augenblick, wo die Milchleute den Fuß an das Ufer setzen, treten sie zugleich unter die Aufsicht der städtischen Polizei, welche vermittelst eines Milchmessers eine strenge Controle über die unverfälschte Reinheit der Milch führt.

In unmittelbarer Nähe des Landungsplatzes der Milchleute steht nun, je nachdem der Landungsplatz stark frequentirt wird oder nicht, eine größere oder kleinere Wagenburg von Milchwagen; unsere Illustration zeigt diejenige des dicht hinter dem Landungsplatze an den Butencajen belegenen Rödingsmarktes. Hier beginnt nun der zweite Theil in der täglichen Lebensaufgabe des Milchmannes – die Austragung in der Stadt. Vor Allem müssen wir aber den überaus praktisch eingerichteten und das größte Lob verdienenden Milchwagen beschreiben. Gebaut ist er nach dem Princip der in Hamburg üblichen sogenannten „schottischen Karre“, der Hauptvorzug aber besteht in dem sinnreichen Transport der Milchgefäße. Der Uebelstand in anderen Städten, daß die Hausfrauen die Milch durch das Schütteln auf dem Wagen schon halb gebuttert, wenigstens aber in einem Zustande erhalten, der sie, namentlich beim Abkochen, leicht gerinnen läßt, dieser Uebelstand wird hier durch dreierlei Mittel zu vermeiden gesucht. Erstens hängen die Eimer, was sie von den Bewegungen des Wagens möglichst unabhängig macht. Zweitens ruhen die „Balkens“, an denen sie hängen, auf starken Federn, wodurch die Stöße des Wagens noch mehr gemildert werden. Drittens schwimmen auf der Oberfläche der Milch im Eimer entweder kleine, zolldicke, hölzerne Schalen oder die sogenannten Briken, runde, dünne Bretter mit einem Loch in der Mitte (um die Ausdünstung der noch warmen Milch heraus zu lassen), welche die starke Bewegung der Milch innerhalb des Eimers verhüten, und damit ist also Alles geschehen, was dem Transporte die größte Ruhe sichern kann.

Die Eimer, aus Holz und roth angestrichen – wie überhaupt bei allen Hamburger Milchgeräthen die rothe Farbe vorherrscht – zerfallen in drei Classen: die sogenannten „breeten Eimers“ (zweiunddreißig bis vierzig Liter), die „spitzen Eimers“ (acht bis zwölf Liter) und die „Rahmeimers“ (zwei bis fünf Liter). Dazu kommen noch die „Buttels“ oder Flaschen nur für die Sahne, welche an einem Haken, der zugleich den Henkel repräsentirt, in den Rand der Eimer eingehängt werden. Am Wagen befinden sich zwei eiserne Stäbe, die „Arms“, in welchen die „Tracht“ ruht, ein gebogenes in der Mitte nach den Schultern und Nacken modellirtes Holz, von dessen messingbeschlagenen Enden Ketten mit Haken herabhängen, ähnlich wie solche Trachten in verschiedenen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 424. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_424.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)