Seite:Die Gartenlaube (1877) 426.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


Gebieten Deutschlands vom Gesinde namentlich zum Transporte des Wassers benutzt werden. Der Milchmann faßt nun mit seinem Wagen an einer bestimmten Ecke seiner Straße Posto, und trägt dann die Milch in den Häusern umher. Diese Vertheilung treppauf und treppab nimmt die Zeit bis gegen Nachmittag – ungefähr um drei Uhr – in Anspruch, wo die Milchleute wieder an ihrem Landungsplatze eintreffen, ihre Wagenburg zusammenfahren und nun das Reinigen der Milcheimer beginnen; dies geschieht vermittelst einer spitzen, aber runden (der Eimerform angepaßten) Bürste, welche sie in dem auf dem Milchwagen angebrachten Kasten verwahren, und durch heißes Wasser, welches sie aus der Nähe – z. B. auf dem dargestellten „Rödingsmarkte“ aus einer naheliegenden Brauerei – beziehen. Ist auch dies vorüber, so geht es mit leeren Eimern und vollem Geldbeutel auf den Heimweg.

Neben die im Vorstehenden geschilderte Herbeischaffung der Milch tritt nun noch die durch größere Wagen, welche mit einem Pferde bespannt sind, wie sich ein solcher im Hintergrunde unsrer Illustration zeigt. Sie sind, nur in größeren Dimensionen, ähnlich wie die Handmilchwagen construirt, und bringen diejenige Milch, welche das unmittelbar angrenzende Landgebiet producirt, zur Stadt. Die hauptsächliche Ausnahme hiervon macht die Insel Wilhelmsburg, welche ihre Milch nicht durch Ewer, sondern durch Hand- und Pferdewagen herübersendet, weil sie an der Stelle, wo einst Napoleon die bekannte lange Holzbrücke über Elbe und Insel bauen ließ, durch eine Dampffähre mit dem Hamburger Ufer verbunden ist. Daß die Zufuhr auch noch auf dem Schienenwege stattfindet, versteht sich von selbst.

Zu derselben frühen Morgenstunde, wo draußen in der Landschaft ringsum die Kühe ihre tägliche städtische Abgabe entrichten, sind die Backstuben der Stadt in emsiger Thätigkeit, um den dritten Hauptfactor des Frühstücks, das Weißgebäck, und darunter namentlich das populäre „Rundstück“, fertig zu stellen.

Hat die Waare den Backofen verlassen, so geht sie aus den Händen des Bäckers in die eines Commissionärs, des Brodmannes, über, welcher, als Zwischenhändler, mit einem Profit von zwölf bis achtzehn Procent das Austragen derselben besorgt.

Gewinnen wir es einmal über uns, an einem Wintermorgen recht früh, etwa von halb fünf Uhr ab uns den Federn zu entreißen, um auf die dunkle Straße hinabzusteigen, so werden wir nach kurzer Zeit in der Ferne ein leuchtendes Johanniswürmchen erblicken. „Ein Johanniswürmchen am Wintermorgen?!“ wird der Leser fragen. Nun ja, gewiß würde er gleich uns auf dasselbe Bild verfallen, wenn er jetzt in einiger Entfernung einen kleinen Lichtpunkt durch Nacht und Nebel näherschweben und verschwinden, gleich darauf mehrere ähnliche an verschiedenen Stellen auftauchen, verglimmen und wieder erscheinen sähe. Wir gehen einem solchen Lichtpunkte nach und erkennen schon aus der Ferne am Schritt, daß dem Johanniswürmchen jedenfalls massive Beine eigen sind, zu denen sich beim Näherkommen die übrige Zuthat zu einem Manne gesellt, der eine kleine runde Blendlaterne am Gürtel und einen mit einem Tuche bedeckten Korb auf der Schulter trägt, welcher mit Weißgebäck angefüllt ist. Es ist der Brodmann, den wir jetzt auf seinem Gange begleiten wollen.

Ehe wir dies aber thun, müssen wir zur Erklärung seiner weiteren Thätigkeit eine Bemerkung vorausschicken. Wenn ein Fremder des Abends, und zwar zu einer Zeit, wo der Gerechte sich schon eines gesunden Schlafes erfreut, zum ersten Male in Hamburg seine Treppe hinaufsteigt, wird er mit Erstaunen bemerken, daß eine wunderbare Sammlung von Körben und Körbchen, Säcken und Säckchen, alten und neuen Handtaschen u. dergl. m. in je einem Exemplare an der äußeren Klinke der Vorsaalthüren auf den Treppengang hinausgehängt ist. Für den ersten Moment sieht es fast aus, als wäre das ganze Haus von einem Drange nach Almosen befallen worden und wollte denselben nun in verschämter Weise unter dem Schatten der Nacht befriedigen, indem es dem müden Wanderer Gelegenheit für ein Scherflein biete. Die Bedeutung dieser Einrichtung wird uns aber klar, wenn wir nun mit dem Brodmann die Stufen zum erhöhten Parterre hinaufsteigen. Hier wiegt sich ein zierlich geflochtenes Körbchen coquett an der Thürklinke; der Brodmann öffnet den Deckel und zählt aus seinem Korbe die ihm wohlbekannte Anzahl von Rundstücken hinein. Damit ist seine Aufgabe aber noch keineswegs ganz erfüllt, denn neben seinem eigentlichen Berufe vertritt er noch allenthalben die Stelle einer Weckuhr, sowohl für das dienende Hauspersonal wie für alle diejenigen, welche frühzeitig an Arbeit und Geschäft müssen – eine Dienstleistung, für welche man sich dann auch zu Weihnachten erkenntlich zu erweisen pflegt.

Nachdem der Brodmann also scharf an der Klingel gezogen, steigen wir zur ersten Etage hinauf, wo ein umfangreicher leinener Sack die Waare aufnimmt. Da aber hier das Fenster der dienenden Geister nach dem Gange heraus liegt, so ändert sich die Technik des Weckens: mit den Knöcheln wird ein kräftiger Wirbel executirt – noch einer – ein dritter – dann wird der Korb geschultert, und es geht weiter in die zweite Etage hinauf. Hier klammert sich eine alte Handtasche nur mit einem Henkel an die Thürklinke, während der andere, halb abgerissen, über die Fettflecke herunterhängt, welche das Antlitz eines in Wolle gestickten, aber vom Zahn der Zeit benagten Schooßhundes verunzieren. Auch diese invalide Tasche erhält ihr tägliches Brod; dagegen – das weiß unser Brodmann ganz genau – hat er es hier mit einem hartnäckigen Kunden zu thun; um den zu erwecken, genügen ein paar Trommelwirbel nicht, und er sieht sich daher genöthigt, zum Radetzkymarsch überzugehen, bis ein unarticulirtes Stöhnen von drinnen das Erwachen der Lebensgeister documentirt. In der dritten Etage verändert sich die Situation insofern, als an Stelle des hängenden Behälters ein altes verbogenes Kaffeebrett tritt, welches auf der Treppenflur steht. Ist einmal das Hinaushängen oder Hinausstellen eines jener Geräthe am Abend zuvor vergessen worden, so macht der Brodmann kurzen Proceß und placirt die Waare wohlabgezählt einfach auf die Treppe, mit welcher Möglichkeit wir jedoch Niemandem, der in Hamburg Frühstück einnimmt, den Appetit zu verderben beabsichtigen.

Freilich kommt es auch ab und zu vor, daß bei dieser patriarchalischen Vertheilung des Weißgebäcks ein Semmelmarder sich in’s Haus schleicht, doch ist dies bei weitem nicht so häufig der Fall, wie man der Leichtigkeit der Ausführung gegenüber annehmen sollte; es sind doch meist nur arme Teufel, welche auf der tiefsten Stufe volkswirthschaftlicher Bildung stehen und von der Occupation leben, denn an eine Verwerthung des Gestohlenen ist ja nicht zu denken, da Semmeln weder an der Börse noch beim Hehler Cours haben.

Mit der Vertheilung des Weißgebäcks ist dem Hamburger nun auch der dritte Factor seines Frühstücks übermittelt – wenn er aber frühstückt, wenn er die Sahne in den duftenden Kaffee gießt und die Zeitung zur Hand nimmt, denkt er wohl schwerlich daran, welche Summe von Arbeitskräften und Apparaten thätig war, ihm diesen Frühstückstisch zu serviren, während er selbst noch in süßem Schlummer lag.




Blätter und Blüthen.


Strauß als Selbstbiograph und Dichter. Als David Friedrich Strauß vor nunmehr drei Jahren gestorben war, haben wir in ausführlicheren Schilderungen auf die eingreifende geschichtliche Bedeutung des großen Kritikers und Schriftstellers mit dem Bemerken zurückgewiesen, daß der Inhalt dieses Lebens noch nicht voll und allseitig zu überblicken, das ganze Verständniß seiner inneren Zusammenhänge und äußeren Geschicke durch die vorhandenen biographischen Ermittelungen noch keineswegs erschlossen sei. Unser in drangvoller Hast vorwärts treibendes Jahrhundert stürmt sonst mit erschreckender Schnelligkeit über die Gräber seiner verdienten Todten hinweg. Dennoch hat es in seinem Verlaufe Persönlichkeiten sterben sehen, deren Wirken ein so mächtig breiter Strom von Licht und Wärme entflossen ist, daß selbst diese eilige und leicht vergessende Zeit den Blick nicht wieder von ihnen abzuwenden vermag. Wie die längst entschwundenen Gestalten eines Lessing, eines Goethe und Schiller bis heut ein Gegenstand unablässigen Forschens und Sinnens geblieben sind und es in aller Zukunft auch bleiben werden, so ist auch die Nachwelt mit dem Bilde eines Strauß nicht in jenem bewegten Momente fertig geworden, als trauernde Liebe und Bewunderung seinem frischen Grabe den reichsten Lorbeerschmuck gespendet hatte. In der That sind denn auch seit seinem Tode manche tiefere Urtheile über ihn, manche interessante Aufschlüsse und Ergänzungen zu seiner Lebensgeschichte veröffentlicht worden, aber das Beste und Bemerkenswertheste in dieser Hinsicht ist doch von ihm selbst gekommen. Es hat der Todte über seine Person und sein Wirken zu den Ueberlebenden gesprochen.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 426. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_426.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)