Seite:Die Gartenlaube (1877) 450.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


wenn dieser Augenblick mein letzter wäre, ich kann’s nicht anders sagen, als daß ich unschuldig bin. – Wie könnte man mich also verurtheilen – unschuldiger Weise?“

Der Beamte sah wohl, daß Wildl sich keine Blöße gab, und stand kopfschüttelnd von seinem Vorhaben ab. „Und doch,“ sagte er dann, „ist es so: Ihr seid nicht freigesprochen; Ihr seid nur von der Instanz entlassen.“

„Was bin ich?“ fragte Wildl. „Das versteh’ ich nicht.“

„Ich werde es Euch schon ausdeutschen,“ war die Antwort des Assessors, welcher den inhaltsschweren Bogen ergriff und das lange Erkenntniß mit den Entscheidungsgründen verlas.

Es lag im damaligen Strafverfahren, daß zur Verurtheilung eines leugnenden Angeschuldigten ein ganz bestimmter Beweis vorgeschrieben war. Es mußten zwei der That vorausgehende Anzeichen oder Verdachtsgründe zugleich mit zwei gleichzeitigen und zwei nachfolgenden vollkommen erwiesen sein. Ohne diese Erfordernisse konnte eine Verurtheilung nicht erfolgen, sondern es mußte ausgesprochen werden, der Angeklagte könne zwar nicht überwiesen werden, allein er bleibe verdächtig, so daß die Untersuchung jeden Augenblick wieder aufgenommen werden könne, sobald irgend ein neuer Anhaltspunkt sich dazu ergebe.

„Das versteh’ ich nicht,“ wiederholte Wildl nach der Verlesung und Erklärung des Beamten.

„Ihr werdet’s schon lernen,“ wiederholte dieser, dem die Sache lästig zu werden begann, „wenn Ihr erst draußen seid.“

„Draußen?“ rief Wildl auflodernd. „Ich muß also nicht mehr im Gefängniß bleiben? Ich darf hinaus?“

„Ihr seid frei.“

„Frei! Und ich kann hingehen? Ueberall hin? Auch in’s Himmelmoos?“

„Wenn Ihr es selbst wollt, wenn Ihr Euch nicht davor scheut, kann es Euch Niemand verwehren. – Ihr könnt Euch bei dem Mörder bedanken, der Euren Vater in die andere Welt befördert hat. Ihr seid der einzige Sohn. Alles gehört also unbestritten Euch. Ihr habt nichts zu thun, als daß Ihr Euch bei’m Gemeindevorsteher meldet und ihm dieses Schreiben übergebt; der wird Euch dann das Weitere sagen. Der Gerichtsdiener wird Euch Eure Kleider und Alles geben, was Ihr mit in den Arrest gebracht habt, und dann macht, daß Ihr weiter kommt! Ich will für Euch wünschen, daß wir nicht wieder zusammen kommen.“

Ein Wink nach der Thür machte das Wort noch deutlicher, und wie ein Taumelnder verließ Wildl die Amtsstube, um vom Gerichtsdiener seine Effecten in Empfang zu nehmen. Er wußte kaum, wie ihm geschah, als dieser ihm nun seine Kleider statt der Gefängnißtracht wieder einhändigte. Nur die Joppe, woran der losgerissene Knopf fehlte, blieb mit diesem in den Händen des Gerichts zurück.

„Die Joppe bleibt schon da; man weiß nicht, ob man sie nicht wieder braucht,“ sagte der Gerichtsdiener höhnisch, denn es machte ihm immer Verdruß, wenn ein Angeschuldigter, den er einmal in seine Hand bekommen, wieder losgelassen werden mußte. „Ich habe schon vorgesorgt und eine andere Jacke für Euch holen lassen.“

Noch wie betäubt, trat Wildl durch das vom Gerichtsdiener geöffnete Thor des Gefängnisses in’s Freie, und die kalte Octoberluft, welche ihm ein Gewirbel von Schneeflocken entgegentrieb, weckte ihn zur völligen Besinnung.

Der Weg nach dem Dorfe und seiner Heimath betrug nur wenige Stunden und war in kurzer Zeit zurückgelegt. Freude und Verlangen trieben den Befreiten vorwärts, etwa wie einen Vogel, der, dem Käfig entronnen, dem Walde zustrebt und fast noch ungläubig die Schwingen prüft, ob sie in der langen Rast die alte Flugkraft nicht verloren haben. Durch das lange Sitzen des Gehens entwöhnt, schienen die Füße ihn nicht mehr tragen zu wollen; einigemale mußte er anhalten und aus tiefster Brust aufathmen, als wolle er Kerkerluft und Kerkergedanken von sich stoßen und den Hauch der neuen Freiheit einziehen. Und welche Gedanken, welche Vorsätze, welche Gefühle des Glücks zogen damit in seine Seele! Wie wollte er das Andenken des unglücklichen Vaters ehren und zeigen, wie sehr man ihm Unrecht gethan mit dem Verdacht! Er wollte aus dem Himmelmoos einen Musterhof machen, daß alle Welt erkennen sollte, daß er auch hierin der tüchtige Erbe eines tüchtigen Vaters geworden. Der Mittelpunkt all’ seiner Hoffnungen aber war der geträumte künftige Haushalt, war eine weibliche Gestalt, die in demselben schaltete und waltete. Diese glückliche und zufriedene Häuslichkeit sollte die Leute vollends beruhigen und dem Gestorbenen, wenn er vom Himmel herunter zu schauen vermöge, beweisen, wie sehr er Unrecht gethan, sich seinem Vorhaben zu widersetzen. Allmählich hatte Wildl sich so ganz in diese Bilder hineingedacht, daß sie ihm als Wirklichkeit erschienen. Die düstern Gebilde des Kerkers waren mit der Kerkerluft vollends von seiner Seele gewichen, wie Thalnebel vor der steigenden Sonne, und freudig strömte ihm das Blut zum Herzen, als er die letzte kleine Anhöhe erreicht hatte, von welcher in der Ferne der Kirchthurm seines Dorfes und seitwärts das überschneite Dach der Heimath zum ersten Male zu überblicken waren. Unwillkürlich blieb er stehen, schwang den Hut über dem Kopf und stieß einen gellenden Juhschrei aus, wie ein Bergschütze, der einen steilen Gemsgrath erstiegen.

Von der Erschütterung der Luft fielen die Schneeflocken von den Bäumen, und ein erschrecktes Rabenpaar fuhr mit schlagenden Flügeln vom Felde auf.

Noch rascheren Schrittes eilte er die Anhöhe hinab, gegen das Dorf zu, über dessen Dächern graue Rauchsäulen aufstiegen und verkündeten, daß man dort mit den Vorbereitungen zum Mittagessen beschäftigt sei; zugleich tönte vom Thurme das bekannte Glockengeläute, welches den Mittag ankündigte und die zerstreuten Arbeiter aus Feld und Scheue in’s Haus um den gemeinsamen Tisch versammelt. Der gewohnte Anblick und die freundlichen Klänge drangen, weil lange entbehrt, ihm um so erweichender an’s Herz; er sehnte sich nach dem Wiedersehen und spielte mit dem Gedanken, wer von seinen Bekannten oder Genossen es wohl sein würde, der ihm zuerst begegnen würde. Er lachte vor sich hin, als er in einiger Entfernung eine Anzahl von Kindern bemerkte, die, auswärtigen Ortschaften oder Einzelhöfen angehörend, eben aus der Schule kamen und schreiend, scherzend und mit Schneeballen werfend einher eilten, um das väterliche Haus und den gedeckten Tisch noch zur rechten Zeit zu erreichen. Jauchzend kam der Schwarm heran und war noch wenige Schritte entfernt, als die Kinder, plötzlich verstummend, anhielten, wie wenn ihnen etwas Entsetzliches in den Weg getreten wäre. Beide Theile standen sich so lange zweifelnd gegenüber, wie das Auge Zeit braucht, sich zu öffnen und zu schließen; dann brachen die Kinder abermals in noch lauteres Geschrei aus und stäubten wie eine Schaar wilden Geflügels, das der Jäger aufgescheucht hat, in der Richtung eines Seitenpfades auseinander, der, halb verschneit, wieder in’s Dorf zurückführte. Die meisten Kinder stießen blos unbestimmte Laute des Schreckens aus; nur einer der Aelteren und Keckeren schrie während des Davonlaufens mit lauter Stimme: „Lauft, Buben! Lauft, was Ihr könnt! Das ist der Himmelmooser Wildl, der seinen Vater umgebracht hat.“

(Fortsetzung folgt.)




Das Geheimniß der Rose.


„Im Rosenbeete strahlt Geheimniß,
Und in den Rosen liegt’s verborgen,“

so versichert ein persischer Dichter des dreizehnten Jahrhunderts, und dem deutschen Mittelalter galt die Rose bekanntlich als das Sinnbild des Verschweigens und vollkommensten Geheimhaltens. Man liest den Spruch: „Was wir all hier kosen – das bleibe unter den Rosen“ nicht selten auf altdeutschen Trinkgeschirren und findet die Rose als Sinnbild der Verschwiegenheit nicht allein an alten Beichtstühlen (z. B. in den Domen von Worms und Wien), sondern auch an der Decke der Versammlungssäle des Raths (z. B. in Lübeck), am häufigsten aber an den Gewölben der Rathskeller angebracht zur Erinnerung, daß Alles, was man hier mit vom Weine gelösten Zungen geredet, eben sub rosa gesprochen sei, „unter der Rosen oder bichtwyß“, wie Murner

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 450. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_450.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)