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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


Drüben ziehen sich die herrlichen blauen Höhen des Balkans hin; die Landschaft ist hier schon großartiger und freundlicher zugleich, als bei Widdin. Rustschuk mit dessen Vorposten, dem am Donaustrande liegenden Bahnhof, streckt sich auf dem Rückgrat des Gebirges hin, wie eine nachlässige Odaliske auf dem Sopha im Serail. Vor und hinter Rustschuk, oberhalb und unterhalb der Stadt bezeichnen weiße Streifen die Stellen, von wo aus die türkischen Batterien die Stadt bestreichen können. In Giurgewo beginnt es sich nach und nach zu beleben. Jene Läden, deren Eigenthümer noch nicht Reißaus genommen haben, öffnen sich zur Hälfte. Ein paar Gestalten im Civilrocke schreiten durch die Straßen, und auf dem Rathhause, auf dem Hauptplatze wagt es sogar ein Zuckerbäcker und ein Kaffeehausbesitzer Stühle und Tische für die löbliche Kundschaft zu placiren.

Ruhig verging der Tag bis fünf Uhr Nachmittags; der Himmel selbst schien für unsere Annehmlichkeit zu sorgen, indem er einen höchst wohlthuenden, ebenso kurzen wie heftigen Platzregen niedersandte, der die Atmosphäre bedeutend abkühlte. Doch kaum war der Wasserfall vorüber, als der in Giurgewo commandirende General, ein Balte Namens Schmidt, erschien und den im Bahnhofe sich die Finger wundschreibenden Correspondenten avisirte, daß man sofort zu schießen beginnen würde. Das nämliche Aviso wurde zu derselben Stunde, aber in viel urwüchsigerer Weise den Einwohnern von Giurgewo zu Theil. Ein Officier mit einem Piquet von zwanzig Mann durchwanderte alle Straßen; er kramte im strengsten Sinne des Wortes alles zusammen, was er sowohl in den Häusern wie auf den Straßen an Weibern, Männern und Kindern antraf, und jagte sie förmlich hinaus. Die Leutchen begriffen wohl rasch, daß man in ihrem eigenen Interesse handelte, und ließen sich auch mit der größten Bereitwilligkeit hinausbefördern. So gab es denn auf der zu beiden Seiten mit Rebengeländer bepflanzten sehr schön angelegten Landstraße eine wahre Völkerwanderung. Es war ein seltsames Gewimmel von sommerlich-europäisch gekleideten Bürgersleuten (freilich in der Minorität) mit Familien, inclusive schmächtig aussehender Fräuleins, Bulgaren in weiten Tuchhosen mit kurzen Jacken und ein Messer in dem Gurt, langbärtigen Walachen, deren ganze Kleidung in einem bis auf die Fersen herabhängenden Wollhemde und Unterhosen bestand, während ihre Damen Kattunkleider, tiefblau oder hochroth gefärbt, trugen. Auch ein Transport rumänischer Dorobanzen, die ihrer zwölf einen Heuwagen escortirten, gehörte mit zum Tableau, da die Russen, die in Giurgewo allein militärisch Herr sein wollten, ihre rumänischen Waffenbrüder genau wie Civilpack behandelten. Hier und da tauchte eine der jetzt bei Allen, die mit der Armee ziehen, also auch bei den Kriegscorrespondenten, so beliebten weißen Tuchkappen auf; ja man hatte auch eine blaue Tuchkappe mit schweren silbernen Borten entdeckt. Dieselbe saß auf dem Kopfe meines Begleiters, Baron V., der dem holländischen Consulat in Bukarest beigegeben worden und erst vor wenigen Tagen aus seiner Heimath in Rumänien angelangt war. Baron V. hatte dem kaiserlichen Hauptquartiere zahlreiche und vermuthlich auch wichtige Depeschen (man kennt ja das Familienverhältniß zwischen den Höfen von Petersburg und Haag) zu überbringen. Der Zug, in welchem er sich befand, kreuzte oberhalb von Braila den kaiserlichen Extrazug, der den Czaren dem operirenden Heere näher brachte.

Als Baron V. erfahren, daß der kaiserliche Extrazug auf dem Geleise neben dem, in welchem er sich befand, stehen bleiben mußte, sprang er, halb angekleidet, aus dem „Sleeping Car“ und überreichte seine Depeschen dem diensthabenden Adjutanten. Dieser aber bemerkte, daß es Gebrauch wäre, solche Depeschen Ihrer Majestät eigenhändig zu überreichen, allein der Niederländer zeigte auf seine Toilette, die aus einem Nachthemde – und einem langen Capot bestand. Die betreßte Kappe saß allerdings auf dem Kopfe, aber das konnte nicht hinreichen, um der Nachttoilette einen salonartigen Stempel zu verleihen. So mußte denn der Adjutant die auf so originelle Weise zugemittelten Depeschen der Majestät vorlegen. Kaum in Bukarest angelangt, mußte Baron V. nach Giurgewo, um das niederländische Consulat hier in Augenschein zu nehmen und mit dem Consul zu conferiren. Letztere Mühe wurde ihm jedoch erspart, denn der Herr Consul hatte für seine Sicherheit gesorgt und war längst außerhalb des Bereiches der türkischen Kugeln, die für sein niedliches Häuschen eine ganz besondere Vorliebe hegten, denn nicht weniger als zwanzig derselben waren consequent theils in den Garten, theils in die Behausung selbst gefallen, so daß es mit der königlich niederländischen Staatsvertretung an der walachischen Donau sehr traurig aussieht. Wir wanderten, während mein Genosse mir seine Wahrnehmungen erzählte, in der Richtung nach Fratesti, um von einer kleinen Anhöhe der Vorstellung mit Muße und ohne Lebensgefahr beizuwohnen, als es schon zu krachen begann. Die russische Batterie am Donaugelände unterhalb des Promenadengartens hatte zwei Schüsse gegeben.

Ich weiß nicht, wie die Sachen drüben in Rustschuk gewirkt haben. Aber auf dieser Seite hatten sie das Resultat, ganze Schwärme von krächzenden Raben und Krähen aufzuscheuchen, die entsetzt davon flogen. Hier und da breitete inmitten der schwarzen Schaar ein Kranich sein buntes, weiß und roth bordirtes Gefieder aus. Die Vogel-Emigration mit der Menschen-Emigration. Folgen wir dieser ungefähr anderthalb Kilometer von der Stadt! Dort, wo die Gefahr aufhörte, haben sich am Wegesrande Hunderte von Neugierigen gruppirt. Sowohl die Aufmerksamkeit, mit der sie jedem Schuß folgen, wie die Sicherheit, mit der jeder Bauer anzugeben wähnt, wo die Bombe eingeschlagen hat und mit was für Erfolge, sind gleich merkwürdig. Des Erwägens und Folgerns in allen Sprachen giebt es kein Ende; griechisch, bulgarisch, walachisch wird durcheinander gesprochen, und dazwischen ertönen gar nicht selten deutsche Laute, die von jedem halbwegs gebildeten Städter an der Donau verstanden werden.

Einzelne Flüchtlinge haben ihre Anstalten für eine Uebernachtung im freien Felde getroffen. Das Bettzeug brachte man auf dem Rücken gleich mit; ein Leintuch wird zwischen zwei Baumästen gespannt und dient als Zelt. Andere raffinirtere Parteien, die dem Himmel als Zimmerdecke doch nicht ganz vertrauen, hatten sich artige Hütten erbaut und dieselben zu Schlafzimmern verarbeitet. Ebenso wurde für den Mundbedarf gesorgt. Ein speculativer Koch hat in die Erde ein Dutzend Löcher gegraben, und auf diesem sorgsam unterhaltenen Herd braten die landesüblichen Speisen, das knochige Paprikasch, die kleinen saftlosen Hühner, Gänse und kleine Kürbisse. Daneben wird rosafarbiger Landwein, in riesigen Korkflaschen verwahrt, ausgeschenkt, und als Leckerbissen giebt es noch zum Nachtisch saure Milch und eine Ladung allerdings schon stark beschädigter Apfelsinen. Die vernünftigen Familien jedoch verschmähen die Kost der Garküche; sie haben ihren Bedarf von zu Hause mitgenommen, suchen sich ein anmuthiges, schattiges Plätzchen aus, wohin sich nach sicherer Berechnung keine Haubitze verirren kann, und diniren hier auf dem Grase, als wäre das ganze Bombardement, welches hier Schlag auf Schlag erdröhnt, nur ein Feuerwerk, das zu einer Landpartie gehört.

Unter diesen Philosophen, welche es verstanden, einer fatalen Situation die heiterste Seite abzugewinnen, fand sich auch eine Gruppe von Schmausenden, in deren Mitte mir zwei Männer mit langen Bärten sofort als Urtypen deutscher Biedermänner erschienen. Ich irrte nicht; es waren der Posthalter und der Telegraphist von Giurgewo, Beide, wie viele andere Angestellte in dieser Branche hier zu Lande, Oesterreicher aus den Kronlanden. Sie saßen mit Weib, Kind und Großmutter bei einem sauber tranchirten Entenbraten mit Gurkensalat, den die Hausfrau, sorgsam verwahrt in einer hölzernen Schüssel, mitgebracht hatte. Mein sehr leutseliger Compagnon, der holländische Consul, knüpfte bald die Bekanntschaft an, und wir mußten durchaus „zugreifen“. Beide Herren, namentlich der Telegraphist, wußten Manches zu erzählen. Er war bereits während des früheren Krieges in Giurgewo gewesen, und bemerkte, daß es damals eben so ging wie jetzt. Den ganzen Tag über herrschte Ruhe; nur zwei Stunden in der Frühe und zwei Stunden Abends wurde geschossen. Die Einwohner waren avisirt, daß sie während dieser zwei Stunden die Stadt meiden mußten und richteten sich auch darnach ein. Man erkannte Abends recht gut den „letzten Schuß“, und sorglos ging Alles nach Hause. Der untere Theil war jedoch damals derjenige, in dem sich die türkischen Kugeln glimpflicher benahmen als jetzt; sie hatten es nicht so sehr auf die Häuser der Giurgewoner abgesehen. Der Telegraphist konnte überdies noch von Glück reden, daß er im Stande war, uns seine Erlebnisse mitzutheilen. Er arbeitete wie gewöhnlich am Sonntag in dem netten

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 478. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_478.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)