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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


Freilich sind jetzt nur die Rudera der verschiedenen Abtheilungen im Hauptgebäude zusammengetragen. Dafür aber ist das noch Vorhandene übersichtlicher, und während vorher der überwältigende Eindruck des Ganzen das Einzelne verschlang, herrscht diesmal das Einzelne über die Gesammtheit. Störend jedoch wirken die vielen stehen gebliebenen leeren Pavillons und Portale von Brasilien, Mexico, Japan, China etc., die sich wie fortgeworfene Hülsen ausnehmen. Und fragte Jemand gar: „Wo ist jetzt des Deutschen Vaterland?“ so zeigte man ihm hier einen weiten öden Raum, wie sich ihn Frankreich wohl heute noch in der Rheinpfalz wünschen mag.

Endlich beschränkt sich der hauptsächliche Theil des noch Vorhandenen auf Artikel amerikanischer, und darunter wieder Philadelphier, oder von dasigen Geschäftsleuten vertretener Industrie. Was vom Auslande noch zurückgeblieben, sind meist schwerfällige und kostspielig zu transportirende Dinge, wofür man augenblicklich noch keine anderweitige Verwendung fand. Mit einem Worte: die dereinstige Weltausstellung ist in der gegenwärtigen auf eine Localausstellung für Philadelphia und Umgegend reducirt, und als solche ist sie immerhin noch imposant genug. Sie würde auch ihrem Zwecke, den dortigen Industriellen und Kaufleuten ein Muster- und Annoncenmagazin zu sein, weit mehr entsprechen, wenn nur, wie gesagt, die Besucher zahlreicher als bisher dahin kämen.




Aus dem Beamtenleben.
Nr. 7. Der Vagabundenrichter.


Wer ist ein Vagabund? Dieser Begriff ist bekanntlich sehr weit; sprach doch der Graf zur Lippe jüngst im preußischen Herrenhause davon, daß die Richter in Folge allzu hoher Umzugskostenvergütung anfangen würden, zu vagabundiren. Unser Strafgesetzbuch definirt so: Vagabunden sind Diejenigen, welche sich mittellos, erwerbslos und ohne eine Gelegenheit zu ihrem Unterhalt aufzusuchen, umhertreiben. Solcher negativen Individuen, auf welche diese Kriterien Anwendung finden, giebt es nun im lieben deutschen Reiche leider erschrecklich viele. Es wäre interessant, eine Vagabundenstatistik anderer Culturvölker zu haben, allein diese existirt unseres Wissens nicht, und so müssen wir denn den Franzosen und Engländern glauben, wenn sie uns erzählen, daß Frankreich Vagabunden im deutschen Sinne fast nicht kennt, und daß England sich nur einer sehr geringen Anzahl derselben erfreut.

Sind es unsere in socialer Beziehung so zerklüfteten Verhältnisse, ist es der urteutonische Wandertrieb, der keine Ableitung nach Colonien findet, welche das Vagabundiren verursachen? Darüber kann man streiten, man kann aber nicht die Thatsache leugnen, daß bei uns ein wahres Heer von unnützen Bummlern tagtäglich auf der Landstraße liegt. Es ist gar nichts Seltenes, an einem Tage auf der Chaussee ihrer fünf bis zehn zu zählen. Und nun gar erst die Menge auf einer Tour-Straße der Vagabunden! Denn sie haben zu bestimmten Zeiten auch ihre bestimmten Wege. So z. B. wandert ein großer Haufen im Sommer die Ostseeküste entlang. Sie beginnen ihren Weg an der östlichen Seite von Holstein und gehen über die mecklenburgischen Bäder, Häringsdorf, Swinemünde, Kolberg, Zoppot bis nach Königsberg; dann schlagen sie sich, nachdem sie überall die Badegäste angebettelt und fette Weide gehabt haben, landeinwärts.

Ein anderer Zug geht im Herbst durch Nordwestdeutschland nach Holland, und es ist auf beiden Wegen schon vorgekommen, daß die Gensd'armen ihrer fünfzehn auf einmal abfingen. Ja, wir kennen eine unter den Vagabunden berühmte Herberge in der Nähe der holländischen Grenze, in welcher der Gensd'arm in einer schönen Nacht „revidirte“ und dabei nicht weniger als neun dieser „armen Reisenden“ fand, von denen auch nicht ein einziger Legitimationspapiere besaß. Das ist aber ein seltenes Ereigniß; bei weitem die meisten von ihnen wissen, welchen Werth etwas Geschriebenes für sie hat. Deshalb gehen sie auch oft, wenn sie sich auf redlichem Wege nicht in den Besitz von Arbeitsscheinen, Entlassungszeugnissen oder Führungsattesten setzen konnten, irgend einen schreibkundigen Freund, den sie fast in jeder Herberge finden, darum an, ihnen ein falsches Legitimationspapier auszufertigen. Oder wenn ein Grünling recht viele echte Legitimationspapiere mit auf die „Reise“ genommen hat, so betteln oder kaufen sie ihm einige ab. Die gefälschten Atteste sind oft recht geschickt gemacht, so geschickt, daß man staunt, mit welch geringen Mitteln große Wirkungen erzielt worden sind. So gab es in Stettin einen verkommenen Schreiber, der sich regelmäßig Morgens in der Herberge einfand und dort jedem Vagabunden seine Dienste für fünfzig Pfennig anbot. Er attestirte auf Verlangen das Blaue vom Himmel herunter, nahm, wenn es das Zeugniß eines Fabrikherrn gelten sollte, das schönste Büttenpapier, und wenn es sich um das Zeugniß eines Schusters handelte, den schmierigsten Lappen, den er auftreiben konnte. War niedergeschrieben, was der Vagabunde bescheinigt haben wollte, dann beglaubigte er die Unterschrift des Arbeitsgebers mit irgend einem amtlichen Siegel, welches er oft nur dadurch herstellte, daß er in die untere Fläche eines Holzpfropfens Rand, Umschrift und Wappen schnitt, den Pfropfen schwärzte und ihn vorsichtig abdrückte. Wir haben einen Andern gekannt, der nicht weniger geschickt war, aber die Thorheit beging, in Wanderbücher, Pässe etc. den Namen des betreffenden Vagabunden selbst hineinzuschreiben, den richtigen oder einen falschen. Erwischt nun der Gensd'arm, oder, wie er von den Vagabunden ehrfurchtsvoll genannt wird, der Herr Oberstwachtmeister (statt Oberwachtmeister) einen „Reisenden“, in dessen Papieren sich die Unterschrift vorfindet, so ist es sein Erstes, daß der Vagabund seinen Namen in das Notizbuch des Herrn Wachtmeisters schreiben muß, und da sieht der Name im Notizbuch entweder in Bezug auf die Schrift ganz anders aus als im Legitimationspapier, oder aber der Vagabund hat in der Bestürzung den falschen Namen im Passe vergessen und schreibt wahrheitsgetreu: Karl Müller, obgleich er nach dem Passe Wilhelm Merzer heißen müßte, und ist dann „gefaßt“.

Legitimationspapiere haben für den Vagabunden doppelten Werth, einmal weil er im Besitze von solchen nicht so leicht verhaftet wird, und dann, weil es, wenn er verhaftet ist, für ihn zunächst darauf ankommt, sofort urkundlich nachzuweisen, daß er erst seit kurzer Zeit unterwegs ist, oder daß er unterwegs öfters gearbeitet hat; je länger „seine Reise“ gedauert hat, je weniger Unterbrechungen durch zeitweiliges Arbeiten sie gefunden hat, desto härter die Strafe. Aber wie hart auch die Strafe ausfalle, uns ist nicht bekannt, daß sie ihn jemals geheilt hätte. Ist ihm der Aufenthalt in dem einen Theile unseres weiten Vaterlandes durch Haftstrafen verleidet worden, so entwickelt er seine Reisethätigkeit bald in einer anderen Gegend, die ihm weniger gefährlich erscheint. Könnten wir es wie die Holländer machen, die, sobald sie einen Vagabunden erwischen, ihm einen Gensd'armen beigeben, der sich mit ihm auf die Eisenbahn setzt und ihn über die Grenze befördert, ohne irgend welche Rücksicht auf die dadurch entstehenden, oft großen Kosten, so würden wir uns der lästigen Gesellen bald entledigt haben. Aber das geht bei uns nicht; denn unsere Vagabunden sind ja alle – Landeskinder. Ab und zu trifft man wohl einmal einen Schweizer und öfter noch einen Oesterreicher, doch die Fremden sind im Ganzen sehr selten.

Das Leben der Vagabunden ist ein höchst elendes. Die Wenigsten führen ein Reservekleidungsstück mit sich und der Anzug, den sie tragen, ist bei den Meisten sehr defect. Namentlich sind die Stiefeln in der Regel zerrissen. Die hierdurch an den Füßen entstehenden Schäden verursachen einen leisen, vorsichtigen Gang, und man kann den alten Vagabunden von dem jungen deutlich dadurch unterscheiden, daß der alte schleichend und mit den Füßen stark nach auswärts, meist auf den Fersen geht, der junge noch mit den Sohlen auftritt. Fechten sie viel Geld zusammen, so wird es meist verwandt, um stärkende Getränke anzukaufen. In der Regel reicht aber ihr Verdienst dazu nicht aus und sie sind kaum im Stande, den Herbergswirth zu bezahlen, wenn dieser auch noch so wenig ankreidet. Es ist unglaublich, wie gering dessen Forderungen gewöhnlich sind; in kleinen Städten kostet das Nachtlager zwanzig Pfennig und der des Morgens verabreichte Kaffee fünf bis zehn

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 491. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_491.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)