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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


„Wenn wir heute Nachmittag hinübergingen?“

„Gut, gehen wir heute Nachmittag.“

Die Sonne warf einen goldenen Strahl, gleich einem Kometenschweif, über die breite, wunderschön geschnitzte Treppe des alten Hauses, als wir, von Caspar Raick geführt, zum ersten Stockwerk hinanstiegen.

„Die eigentliche Façade des Hauses,“ sagte er, „liegt dem Hofe zugewandt; auf dieser Seite liegen auch alle Zimmer, mit Ausnahme des Erkersaales, welcher ursprünglich die ganze Tiefe des Hauses einnahm und späterhin durch eine Holzwand in zwei Theile getheilt wurde.“

Caspar Raick hatte eine ruhige Art zu sprechen und sprach, im Gegensatze zu seiner Schwester, sehr wenig. Sein graublaues Auge war ehrlich und verständig und seine Haltung würdig und bescheiden. Das Grauen, welches mir die Erinnerung an ihn bisher in alle Nerven schüttete, verlor sich indeß nie ganz, und Caspar Raick und ich wurden nur kühle Freunde.

Wir traten in ein Vorzimmer und von da in einen mäßig großen Salon, dessen braune Ledertapete ein hohes Alter verrieth; die Goldsternchen, mit welchen sie besäet war, hatten nur noch einen matten Glanz. Gelblich-weiße, mit bunten Blumen durchwirkte schwere Vorhänge hingen zusammengezogen von den Fenstern nieder, welchen gegenüber ein Kamin von fleischfarbenem Marmor sich erhob. Zwischen den beiden hohen Fenstern hing, vom Boden bis zur Decke reichend, ein Spiegel, dessen Rahmen aus buntem, mosaikartig zusammengesetztem Glase bestand und sozusagen hunderte von farbigen Spiegeln enthielt. „Alles dies,“ sagte Caspar Raick, „gehört zum Hause; Alles ist sehr alt. Man sagt, nach Befreiung der Niederlande sei das Haus bis Anfang dieses Jahrhunderts im Besitze der brabantischen Familie Tourstenaert gewesen und, nachdem dieselbe ausgestorben, von einem reichen Tuchfabrikanten angekauft worden, dessen Familie es längst nicht mehr bewohnt, sondern vermiethet. Es ist ein wenig melancholisch, das Haus“ – er lächelte – „aber Madame Venloo liebt das.“

Henry deutete auf die zusammengezogenen Vorhänge, welche ein köstliches Halbdunkel, ähnlich einem schwachen Gewitterscheine, im Zimmer verbreiteten. „Madame Venloo liebt die Stimmungen,“ flüsterte er mir zu; „wie sehr ist diese Frau innerlich!“

Da trat sie durch eine hohe braune Thür herein und sagte, traurig lächelnd: „Geht es Ihnen auch wie mir? Ich träume jede Nacht von unserm Schiffbruche, und am Tage kommt mir die Thatsache selbst wie ein Traum vor.“

„Manchmal däucht sie auch mir ein Traum zu sein; in diesem Augenblicke aber habe ich die Gewißheit, daß sie wirklich ist,“ erwiderte Henry.

Sie bat uns, einen Jeden, ihr zu erzählen, was mit uns vom Zusammenstoße der Schiffe bis zum Verluste unseres Bewußtseins geschehen war und was wir gedacht und empfunden. Henry wußte nicht viel zu erzählen, da er gleich das Bewußtsein verloren hatte, und da ich ihr nicht sagen konnte, was ich wirklich gedacht und empfunden, so log ich mich in eine brutale, egoistische Angst für mein Leben hinein, die nichts weniger als einen günstigen Eindruck auf sie hervorbringen konnte.

„Nun will auch ich aufrichtig sein,“ sagte sie. „Mein erster Impuls war gut und tapfer; ich dachte nur an Caspar, der eine Tochter hat, während ich Niemanden habe, Niemanden, und da ich nicht wußte, was geschehen war, und dachte, Sie, mein gütiger Herr“ – sie wandte sich zu mir – „könnten wohl eine, aber nicht zwei Personen retten, so empfand ich gar kein Entsetzen, als das Wasser mich von Ihnen losriß. Wenn nur Caspar gerettet wird, dachte ich; dann kam ein Moment der Betäubung. Als er vorüber war, wunderte ich mich, daß ich noch lebte, und dachte: Caspar ist ertrunken, Du nicht – und es war mir recht, daß nicht ich ertrunken war. Jetzt machte das Schiff eine entsetzliche Bewegung, und ich glitt nach vorn in die Tiefe. Ich empfand die furchtbarste Todesangst; ich dachte an die Qual des Ertrinkens und schrie – ich schrie, bis ich das Bewußtsein verlor. So wenig heldenhaft, so ganz jämmerlich bin ich gestorben, meine Herren. Ich versichere Sie, daß ich vor mir selbst beschämt bin.“

Wir beruhigten sie einigermaßen über diesen Punkt. Natürlich sprachen wir bei diesem ersten Besuche kaum von etwas Anderem, als dem Schiffbruche. Ich bemerkte, daß ihre Augen weniger groß waren, als ich geglaubt, und daß die Wärme ihres Blickes diese Täuschung hervorbrachte, vielleicht auch die langen schwarzen Wimpern. Ihr Lächeln hatte einen ganz besondern Reiz; ihre kleinen weißen Zähne schimmerten feucht wie Kürbiskerne zwischen den sanften Lippen. Sie trug bei unserm ersten Besuche ein Kleid von damascirter Seide, welches vom Halse bis zur Fußspitze durch hellblaue Gazeschleifen geschlossen war. Ich habe Madame Venloo nie anders, als in einem schwarzen Kleide und dem großen weißen Kragen gesehen, welcher in den zwanziger Jahren Mode war. Niemals trug sie andern Schmuck, als die große Goldnadel, mit welcher sie ihre Flechten am Hinterkopfe, ganz der Mode zuwider, aufsteckte.

„Welch reizender Gedanke!“ sagte Henry auf der Straße zu mir, „welch reizender Gedanke, ein Kleid mit Schmetterlingen zu schließen!“

„Schmetterlingen? Ich bitte Dich, es waren keine Schmetterlinge, sondern Bandschleifen.“

Ungeduldig sagte er: „Als ob solch leichte Schleifen etwas anderes wären, als fixirte Schmetterlinge! Die Schleife ist keine Erfindung; sie ist eine Nachahmung; frage Madame Venloo, ob ich nicht Recht habe.“

„Madame Venloo wäre wohl sehr erstaunt, wenn ich sie danach fragte.“

„Erstaunt? Diese Frau versteht Alles, denn sie fühlt Alles. Ich bin überzeugt, daß sie an die Bewohntheit der Welten glaubt.“

„Das ist sehr möglich.“

„Nein, das ist gewiß,“ sagte er und blieb stehen.

„Was denkt Mistreß Stephenson darüber?“ frug ich.

Er warf mir einen scheuen Blick zu. „O, ich verstehe Dich,“ sagte er; „übrigens heirathet man eine Frau nicht, um mit ihr über Astronomie zu sprechen.“

„Das ist wahr, man macht sie im Gegentheil zu einem Stern und wird ihr Trabant, besonders, wenn man so ein lieber, kleiner Master Flomberg ist,“ sagte ich.




Henry hatte stets eine fast absurde Antipathie gegen das „am Fenster sitzen“ gehabt. Die Personen, welche diese Gewohnheit hatten, waren ihm in innerster Seele zuwider; er selbst setzte sich, auch wenn er las, in möglichst große Entfernung der Fenster, und diese waren stets so vollständig verhängt, daß auch nicht die leiseste Lücke zwischen den Vorhängen sichtbar war.

Aber nun! Wenn er zu mir kam – und er kam mehr denn einmal am Tage – war seine erste Bewegung, einen Stuhl an’s Fenster zu rücken, mit einem Papiermesser oder einem Zirkel die Mousselinvorhänge auseinander zu halten und sich genau so zu setzen, daß, wenn er vom Buche, in welchem er bei mir zu lesen pflegte, seitwärts sah, sein Auge durch die Lücke der Vorhänge auf den Erker treffen mußte. Ich beherbergte so zu sagen meinen Doppelgänger. –

„Ich habe Harriet geschrieben,“ sagte er eines Tages, „daß es mir unmöglich ist, in den nächsten vier Wochen eine Wohnung zu suchen und alle zur Verheirathung nöthigen Schritte zu thun. Ich habe sie um Geduld gebeten für zwei, für drei Monate. –“

Er kämpfte.

Wir gingen öfter zu Madame Venloo und brachten in ungezwungener Weise unvergeßliche Stunden bei ihr zu. Selten saßen wir im Salon, meist in einem großen, neben dem Salon liegenden Zimmer, welches die zweite Hälfte des Erkersaales war, was ich sogleich an dem gemalten Plafond und der den Fenstern entgegengesetzten, getäfelten Holzwand errieth. Die Fenster waren ungleich; in der Mitte befand sich ein breites, aus drei Flügeln bestehendes, und zur Seite je ein schmales, die einen maurischen Aufsatz hatten, in welchen farbiges Glas gefügt war. Taubengraue Seidenvorhänge drapirten Fenster und Thüren und milderten den Tag durch einen sanften Silberschimmer. Möbel von gleichem Stoffe standen regellos in dem großen Raume, dessen Mitte ein länglicher, geschnitzter Tisch von mattem Holze einnahm. In zwei der Ecken des Zimmers standen hohe Etageren, welche blühende Pflanzen trugen; an einer der Seitenwände erhoben sich zierliche geschnitzte Bücherschränke;

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 517. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_517.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)