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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)

No. 32.   1877.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Charlotte Venloo.
Von E. Werber.
(Fortsetzung.)


Wochen waren vergangen. Die Frist, welche Henry von Mistreß Harriet erbeten hatte, war ihrem Ende nahe, und er dachte nicht an die nöthigen Schritte zu seiner Verheirathung. Er war oft von einer beunruhigenden Düsterheit befallen, hauptsächlich an den Tagen, die auf seine der Astronomie gewidmeten Nächte folgten.

Ich fragte ihn nach der Ursache: „Bist Du mit Deiner Stellung am Observatorium unzufrieden?“

„Nein, im Gegentheil, sie ist in jeder Beziehung angenehm.“

„Quält Dich eine astronomische Schwierigkeit? Suchst Du eine neue Nebulose?“

Er schüttelte den Kopf. „Nichts von alle dem. Sieh, wenn ich so eine ganze Nacht in der Unendlichkeit der Himmel gewesen bin und durch diese Straße nach meiner Wohnung gehe und blicke zu dem dunkeln Erker hinauf und grüße im Geiste Charlotte Venloo, so bleibt mir die ganze Erhebung der Seele. Und gehe ich dann weiter und schließe meine Hausthür auf und denke: in einigen Wochen findest du in deinem Zimmer Harriet, deine Frau – dann sinkt der Thermometer meiner Seele auf Null, die Sterne fliehen, und ich verliere mich selbst.“

„Ich weiß,“ sagte ich, „Deine Situation wird unmöglich auf die Länge; Du mußt zu einem Entschlusse kommen, Du bist es Harriet, Dir – und Madame Venloo schuldig.“

„Wie? Glaubst Du, daß sie mich – daß ich ihr nicht gleichgültig bin?“

„Ich weiß nicht, ob ich es glaube; allein ich bin überzeugt, daß sie Dich versteht und zu lieben vermöchte. Nun mußt Du wohl auch bemerkt haben, daß ihr alle Deine Ideen sympathisch sind, daß sie Alles, was Du sagst, so eigenthümlich es auch sein mag, in sich aufnimmt, ihre Ueberzeugungen in den Deinen erlöschen läßt und sich, jedenfalls unbewußt, nichts Eigenes mehr Dir gegenüber bewahrt. Ihr beide spielt mit dem Feuer wie Kinder und merkt nicht, daß Eure Finger schon heiß werden. Gar Du! Du siehst sie mit Blicken an, welche Alles sagen, nur das nicht: ich habe eine Braut in England.“

„O, ich würde sie mit noch ganz anderen Blicken ansehen, wenn ich mir nicht stets vorsagte: du hast eine Braut in England. England! Sieh, dieses Wort, wenn ich es lese – und es steht in allen Zeitungen und in fast allen Büchern – macht mich physisch krank; – es treibt mir alles Blut zum Kopfe; es macht mir die Kniee zittern und das Herz stille stehen. Auf einer ganzen gedruckten Seite lese ich nichts als: England, England, England! – Wäre ich ein Titane, ich würde die ganze Insel in’s Meer stürzen.“

Er bebte, und seine Augen schlossen sich krampfhaft.

„Laß Dir von Mistreß Harriet das Wort zurückgeben!“ sagte ich.

„Wie kann ich das? Sie vertraut mir; sie baut auf mich; ich kann sie nicht unglücklich machen. Ich selbst wäre dann keines Glückes mehr würdig.“

„Es fragt sich, ob sie unglücklich würde. Ich kann, ohne Dich beleidigen zu wollen, nicht glauben, daß sie Dich liebe.“

„Immerhin habe ich ihr mein Wort gegeben.“

„Wenn Du nicht mit ihr brechen willst, so bleibt Dir nichts übrig, als noch in dieser Stunde von Madame Venloo zu fliehen.“

„Schweig, schweig!“ rief er und stürzte zum Zimmer hinaus.

Was war zu thun? – „Schreibe seiner Mutter!“ rief eine Stimme in mir. Sogleich entwarf ich einen Brief an sie, die Situation ihres Sohnes und seine Seelennoth schildernd. Ihre Antwort war kurz und überraschte mich durch ihre Bestimmtheit. Die vortreffliche Frau schrieb:

„Henry kann schwerlich sein Wort zurücknehmen; es wäre gut, zu wissen, ob sie unter Umständen nicht das ihrige zurücknähme. Schreiben Sie mir umgehend, ob Mistreß Stephenson französisch versteht! Drängen Sie Henry vor der Hand zu keinem Entschlusse und lassen Sie ihn zu der Dame gehen, von der Sie mir so viel Gutes sagen!“

Ich schrieb ihr noch kürzer:

„Mistreß Stephenson versteht französisch und spricht es leidlich. Sie sind ein Genie – aus Liebe.“

Ich zerbrach mir den Kopf mit allen möglichen Versuchen, Mutter Flomberg’s Plan zu errathen – ich errieth ihn nicht. Nie wird ein Mann mit all seinem Scharfsinn eine Frau an Erfindung und Kühnheit erreichen, wenn es sich darum handelt, ihr Kind oder den Mann, welchen sie liebt, aus einer Gefahr zu retten.

Zwei Tage nach unserm letzten Gespräche erhielt Henry einen Brief von Mistreß Stephenson, in welchem sie ihn bat, die Verheirathung um noch einen Monat zu verschieben, da sie ihren Bruder von den Azoren erwarte, der ihrer Trauung beizuwohnen wünsche. Henry athmete auf; ich hoffte, der liebe Bruder von den Azoren werde durch eine Windstille eine recht, recht lange Fahrt bekommen.


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 531. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_531.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)