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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


Buchstaben das ganze Wort, so erleichtert er auch wohl dem Anfänger die Mühe, indem er dasselbe ausspricht und ihm so die langsame Procedur erspart.

Sonst gestattet ihm, wie gesagt, die fast zerstörte Sehkraft seiner Augen keinen An- und Ueberblick, keinen Genuß an der Natur – nur da, wo die Bäume schattig dicht zusammentreten, wie z. B. im Friedrichsgrund bei Pillnitz, fällt ein Schimmer des grünen Lichtes in seine erloschenen Augensterne und von einem solchen Frühlingsgruß zehrt Lorm dann lange Zeit. Auch der blaue Strahl eines Kindesauges, der seiner Sehkraft erreichbar ward, übt einen seltsam ergreifenden Zauber aus auf das Gemüth des weltabgeschiedenen, duldenden Mannes.

Und doch fallen gerade in jene Zeit des größten körperlichen Elends, das einen Mann von Bildungsdurst und regsamem Geiste treffen kann, die Hauptwerke Lorm’s, welche die eigentliche Veranlassung geben, von ihm zu sprechen; es erschienen, außer jenen schon erwähnten philosophisch-kritischen Streifzügen, in diesem Zeitraume noch die „Gedichte“ (Hamburg 1870, 2. Aufl. 1875), „Geflügelte Stunden“ und „Der Naturgenuß, eine Philosophie der Jahreszeiten“ (Berlin 1876). Wie kein Leidender, der zufällig geistig producirt, eben um seines Leidens willen literarisch verherrlicht werden kann und darf, und wie ich deshalb auch bei der Werthschätzung der Lorm’schen Schriften gänzlich von dem Unglücke des Menschen absehe, den Schriftsteller Hieronymus Lorm absolut von dem Leidenden, Heinrich Landesmann, abscheide, so ist auch in seinen Büchern nichts enthalten, was auf einen persönlichen Schmerz zurückzuführen, aus einem solchen heraus zu erklären wäre: Lorm’s Schriften sind nicht das Spiegelbild seines subjectiven, erschütternden Elends, wiewohl es, wenn es so wäre, wahrlich nicht wunderbar sein könnte. –

Ein jetzt oft genannter Journalist hat in einem Essay „Hieronymus Lorm“ die Behauptung aufgestellt, Lorm sei der bisher berufenste dichterische Ausleger des Pessimismus, ein Vertreter derjenigen Weltanschauung, nach der alles, was da ist, vom Uebel ist. Dieser Satz ist falsch, ist aber nichtsdestoweniger durch alle Blätter gegangen und zu einem Gemeinplatze, zu einer im Publicum allgemein verbreiteten Ansicht geworden, die der Bedeutung, dem Verständnisse und vor Allem den Erfolgen der Lorm’schen Werke unendlich geschadet hat.

Lorm ist ein Anhänger des Optimismus, jener Lehre, nach welcher Alles gut und schön ist; er ist der Philosoph und Dichter des „Optimismus ohne Grund“, welcher ebenso die Ueberwindung des Pessimismus, wie die des gemeinen schönseligen Optimismus, der sich durch die Thatsachen der Welt für begründet hält, zur Voraussetzung hat.

Niedergeschmettert und fast überwältigt von der ungeheuern Last seines Leidens, wurde Lorm mit Naturnothwendigkeit zunächst – Pessimist; die Spuren dieser Thatsache finden wir in seinen Poesien, wie z. B. im „Sphärengesang“:

So lang die Sterne kreisen
Am Himmelszelt,
Vernimmt manch’ Ohr den leisen
Gesang der Welt:
„Dem sel’gen Nichts entstiegen,
Der ew’gen Ruh’,
Um ruhelos zu fliegen –
Wozu? Wozu?“

Mit dem zauberischen Wohllaut dieser Verse vermag sich nur noch das bekannte Heine’sche „Frühlingslied“ zu messen.

Denselben Standpunkt kennzeichnet auch jenes andere, in weiteren Kreisen bekannt gewordene Gedicht „Zwei Wanderer“:

Zwei Wand’rer schritten durch den Wald,
Den Schlag auf Schlag das Beil durchhallt.
Was jeder wünschte sehnsuchtsvoll,
Ihm aus dem Klang entgegenscholl.
Der Rüst’ge sprach: „Dort liegt der Strand;
Man baut ein Schiff nach fernem Land.“
Der Müde sprach: „Man baut ein Haus;
Die Liebe schmückt’s mit Blumen aus.“
Sie drangen durch das Baumgeflecht.
Und sieh! da hatten Beide Recht.
Man baut ein Schiff nach fernem Land,
Ein Haus, umpflanzt von lieber Hand.
Man zimmert, was der Wald verbarg,
Aus neuen Brettern einen Sarg.

Doch rang sich aus dieser Nacht des inneren Lebens Lorm’s Geist mit Riesenkraft empor:

Mein starkes Herz! In düstrer Einsamkeit
Fühlst du dich selig jetzt nach blut’gem Streit.
Wie hart das Schicksal, härter noch warst du,
Von meines Geist’s dämonscher Kraft gefeit.
Wohl stehn nach heißer Schlacht mit dem Geschick
Erschlag’ne Träume um dich her gereiht,
Wohl ruht dein Glück vor dir im Sarkophag,
Wohl liegt in Schutt der Jugend Märchenzeit –
Du aber wandelst stolz und stark dahin,
Durch wüste Trümmer der Vergangenheit;
Dein Pochen hallt die Harmonie zurück
Der Geister, die von ird’schem Staub befreit. –

Nachdem der Dichter so endgültig abgeschlossen mit den finsteren Mächten seines Lebens, schwingt er sich nach und nach bis zu jener Bergeshöhe der Weltbetrachtung empor, die schon von einem Sonnenstrahl logisch unbegreiflichen Glückes zeitweilig übergossen wird, und so steht denn als Lebenssumme unter jenem ergreifenden Menschenbilde der Spruch Lorm’s:

Und droht auch Nacht der Schmerzen ganz
Mein Leben zu umfassen –
Ein unvernünft’ger Sonnenglanz
Will nicht mein Herz verlassen.

So sind dem Dichter und Denker, je tiefer er in den Abgrund des Schmerzes zu versinken glaubte, desto heller die goldenen Sterne einer grundlosen Freude hoch über seinem Haupte an dem dunklen Himmel seines Lebens aufgegangen. –

Theoretischer, als es in den Gedichten geschehen konnte, hat Lorm dem „grundlosen Optimismus“ schon in der „Muse des Glücks“ und ausführlicher im „Naturgenuß“ Bahn zu brechen gesucht. Hier einige Gedanken unseres Philosophen:

„Das Glück ist weder ein Begriff noch ein Besitz, weder ein Kind der Vernunft noch des Reichthums, sondern ganz und gar eine angeborene Gabe, ein Talent, das sich zuweilen zum Genie steigert.“

„Die Kunst, glücklich zu sein, kann daher nicht gelehrt, sondern nur von Demjenigen, der sie kraft seiner Natur besitzt, geübt werden.“

„Die namenlose Muse des Glückes ist ein innerer Fonds von Lebensfreude, unabhängig von dem äußeren Inhalte des Lebens und nicht anders denn als ein Optimismus ohne Grund zu bezeichnen.“

„Die Muse des Glückes hat keine rationell darlegbare Logik und folglich keine Gründe, und sie kann denen, die ihr die Existenz oder das Recht dazu abstreiten, nicht wieder Gründe entgegensetzen.“

„Die Gründe des Pessimismus können daher alle Gründe des Optimismus siegreich widerlegen, vermögen aber doch den letzteren selbst, den Optimismus ohne Grund, nicht aus der Welt zu schaffen.“

Aber auch in praktischer Prosa hat Lorm diesen seinen Begriff vom grundlosen Optimismus verwerthet, in den „Geflügelten Stunden“, aus denen „Der ungerathene Sohn“ und „Drei alte Häuser“ als Musterstücke origineller Heiterkeit und echt deutschen Humors ausdrücklich mit diesen Bezeichnungen von einer Reihe deutscher Blätter nachgedruckt wurden. Auch die in demselben Werke enthaltene Novelle Lorm’s „Ein adliges Fräulein“ von Heyse in den „Novellenschatz“ aufgenommen, wurde von kritischen Autoritäten als eines der edelsten Producte dieser Gattung charakterisirt, während Buchholz in einer Schrift über den Zusammenhang der Lorm’schen Philosophie und Poesie den hohen bleibenden Werth aller jener Arbeiten betont.

Was war aber nun das literarische Schicksal dieser in ihrer Eigenartigkeit so merkwürdigen Schöpfungen Lorm’s? Sie blieben, nach einer fast beispiellos zu nennenden Würdigung durch die Kritik, von Seiten des Publicums total ungewürdigt: Deutschland und Oesterreich participiren in gleicher Weise an der Wiederherstellung der begründeten Sage „vom armen deutschen Poeten“. Was Lorm einst von Gutzkow sagte, daß in Deutschland der Lorbeer nicht zugleich der grüne Zweig sei, auf den ein Autor wie jeder andere Mensch zu kommen trachten müsse, das gilt leider auch nur zu sehr von ihm selber. Die überaus kleine erste Auflage der Lorm’schen Gedichte wurde fast ausschließlich von persönlichen Freunden angekauft: Robert Hamerling und Betty Paoli beeilten sich sofort nach ihrem Erscheinen in der Wiener „Neuen freien Presse“ auf diese außerordentliche Erscheinung aufmerksam zu machen, aber es giebt in Wien, das

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 587. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_587.jpg&oldid=- (Version vom 30.8.2019)