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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


„Sage, welch' ein Jahrhundert, Kind! Die ganze Welt leidet darunter,“ tröstete die Aebtissin, sich zu ihr niederneigend und ihr die Stirn küssend. „Der böse Feind geht leibhaftig um auf Erden. Wohin das Auge blickt, sieht es seine Spuren. ... Das sündhafte Erbe der schrecklichen Hussiten hat er durch Sectirer unter die Völker gestreut; die Sprache der alten Heiden verbreitet er durch Schwarzdruck. In das christliche Byzanz hat er den Saracenen geführt; jenseits des Canals schürt er das Morden der beiden Rosen. Deinen unglücklichen Vater mit der Blüthe der Ritterschaft warf er freiheitstrunkenen Bauern zum Opfer, und den ehrbarsten Städten predigt er Aufruhr um Privilegien – o Gott, o Gott!“

Noch immer lag Maria an ihrer Brust.

„Ach Base,“ schluchzte sie, „lasset mich meinen Kummer ausweinen! Zum ersten Male seit langer Zeit ruhe ich wieder an einem treuen Herzen.“

Es war eine Gruppe für den Bildner, aber mehr noch für den Maler, die schlanke Gestalt der jungen Fürstin an der Brust der ehrwürdigen Aebtissin, die Arme um ihren Nacken geschlungen.

Von den beiden trotz der eben verflossenen Trauerzeit noch in Schwarz gekleideten Frauen bot allein schon das Antlitz der älteren, obgleich es vom Scapulier bis an den Mund mit dem weißen „Rissentuche“ verhüllt war, die dankbare Aufgabe, durch überraschende Gegensätze zu wirken.

Die Sonne von sechzig Sommern hatte es dunkler, als gewöhnlich, gefärbt, aber eben so viel Lenze hatten die Wangen rosig erhalten, und doch wieder sechzig Winter ihr Haar mit dem hellsten Schnee übergossen. Und so auffallend hoben sich von dem dunkelen Colorit der Stirn und den noch dichten Brauen über schwarzen Augen die schneeweißen Löckchen ab, die unter dem spitzenbesetzten Flügeltuche hervorquollen, daß man hätte versucht sein können, diese ihre Hauptzierde für ein Gebilde von Menschenhand zu halten. Allein wie berechtigt auch eben ihre frommen Vorwürfe gegen ihr Jahrhundert gewesen sein mochten: so gottlos hatte der „böse Feind“ es doch noch nicht gemacht, daß es sich, seinen Nachfolgern gleich, vermessen hätte, den Schöpfer selbst zu verbessern – die Löckchen waren echt, gerade so echt, wie die braunen Ringeln um das Köpfchen an ihrer Brust, die dort in natürlichen Arabesken das blühende Gesicht eines neunzehnjährigen Mädchens umflossen.

Und welch eines Mädchens!

Aus dem Hermelinbesatze ihres schwarzen Obergewandes hob sich züchtig ein Hals, den selbst die beiden Streifen feinsten Linnens über dem dreieckigen Ausschnitte an ihren Schultern nicht in Schatten stellten, und ein Antlitz schaute darüber hervor, das, weich wie ein Kindergesicht und offen wie ein Buch, zu sagen schien: Sehet her – ich bin zum Lachen geschaffen, aber an Thränen gewöhnt. – Und in der That, wer Maria kannte, der wußte auch: dieselben Lippen, die jetzt, geschlossen, einen Schmerzenszug in die linke Wange gruben, dieselben hellbraunen Augen, die jetzt matt wie hinter einem Trauerflore schimmerten, konnten sich wie durch Zauberschlag in ihr Gegentheil verwandeln, sobald nur ein heiteres Wort ihre wahre Natur hervorlockte. Dann war es, als wäre plötzlich hinter dem Auge ein Vorhang hinweggezogen; ein heller Lichtblick glänzte daraus hervor; die Mundwinkel schoben sich in die Höhe und öffneten, zugleich mit den Lippen, zwei Perlenreihen, hinter denen wie aus einer Thür der Schalk hervorsprang – der Schalk des Glückes, der von Kindheit an ihr Milchbruder gewesen war.

Der Schalk des Glückes – wann sollte sie ihn wiedersehen, die junge Herrin von Burgund, Artois, Picardie, Hennegau, Flandern, Brabant und Holland mit sammt Zütphen und Gelderland – jetzt kaum anders als eine Gefangene in ihrer eigenen Hofburg!

„Ach, Base,“ nahm sie, endlich sich aufrichtend und mit dem Spitzentuche in der Hand die Augen trocknend, das Wort, „so schlimm es in der Welt sein mag, hier ist es am schlimmsten. Sehet!“ – und sie führte die Aebtissin an den offenen Balcon – „da liegt nun mein altes Gent, scheinbar friedlich wie sonst, aber es sonnt sich wie dieser heuchlerische Apriltag, der am frühen Morgen die jungen Blüthen geknickt hat. O, was habe ich ihnen gethan, daß sie mich behandeln wie eine gekrönte Sclavin, die man auf dem Prinzenmarkt für den Meistbietenden feil hält! Ja, Base, all der prunkvolle Schmuck, der um mich glänzt, ist das Bild meiner selbst. Dieser Hermelin, das Zeichen meiner fürstlichen Würde, bedeckt ein Trauergewand. Dieser Rosenkranz von Edelsteinen, der mir zum Gürtel dient, deutet mein tägliches Nothgebet, und dieses goldene Vlies“ – und ihr Finger hob spielend die Halskette mit dem Goldschäflein an ihrer Brust – „dieses höchste Ehrenzeichen, das mein Großvater Philipp für die Herrscher Burgunds gestiftet, es ist zum Sinnbild meiner Krone geworden. Schrecken aller Art umgeben es, wie das goldene Widderfell der Griechensage; ein schlimmer Drache bewacht es, aber immer noch lockt es die Bewerber von nah und fern.“

„Kind, Derer, die in scharlachenen Kleidern gehen, ist keine glücklich,“ seufzte die Aebtissin.

„Aber ich, Base, bin der unglücklichsten eine, und heute zumal. Ja, heute mußte ich meine mütterliche Freundin ihrem stillen Kloster entreißen, denn die böse Stunde, die über mein Glück entscheidet, ist nahe, und er, der Einzige, der es mir geben könnte, mein Maximilian, bleibt fern.“

„Wo weilet er denn, mein Kind?“

Scheu sich umsehend, ob auch kein Lauscher in der Nähe, versetzte Maria, den Finger an den Lippen:

„Er ist in Köllen. Ich habe ihn wiederholt zur Eile gemahnt. Aber ach, wenn er noch immer ohne Heer oder großes Gefolge ist, wie kann ich da hoffen, ja nur wünschen, daß er kommt? Aufrührerische Banden durchziehen das Land; in der Umgegend hauset ein schrecklicher Geheimbund, den sie den 'Hugh' nennen und von dem Niemand weiß, was er bezweckt; die Wege nach Deutschland soll der Herzog von Cleve besetzt haben, und hier in Gent – o, welcher Empfang würde hier seiner warten!“

„Mein Gott, läßt ihn denn sein Vater ohne Hülfe?“

„Ach, Kaiser Friedrich – Ihr kennt ihn ja – hat im Osten zu sorgen und heget, fürchte ich, noch Groll gegen uns seit dem bösen Tage von Trier. Base, Base, das war mein Unglückstag! O, mein edler, ritterlicher Max, so von mir lassen, so mit mir brechen zu müssen! – Ach, und seit sie nun auch Margarethe von York, meine edle Stiefmutter, verbannt, habe ich Niemand mehr, der mir helfen, mir nur zum Besten rathen könnte, wenn Ihr nicht helft, Ihr nicht rathet.“

„Nein, Kind, das vermag auch ich nicht; das vermag nur Einer, nur Gott. Denn auch der Hellsehendste auf Erden sieht nicht in die Zukunft, und auch der Selbstloseste steht unbewußt noch unter dem Einflusse eigener Wünsche. Darum bete mit mir zum Allmächtigen, daß er Deine Gedanken erleuchte, und dann thue nach seiner Eingebung! Aber sage mir endlich, was steht Dir heute bevor? In der beschaulichen Einsamkeit meiner Abtei Allerseelen, ob auch kaum eine Stunde von Gent, kümmere ich mich wenig um die Händel der Welt und erfahre nur vom Hörensagen.“

„So habt Ihr nichts von der Gesandtschaft des Königs von Frankreich vernommen, die heute hier eingetroffen ist?“ fragte erstaunt Maria.

„Man sagte mir, sie werde mit Friedensbotschaft erwartet.“

„Friedensbotschaft!“ rief bitter Maria. „Sagt 'Unglücksbotschaft'! Denn was kann sie anders zur Bedingung stellen, als was mir auch vom Clever droht, und was will der Clever anders, als was auch die Staaten von mir gewollt, seit sie nach meines Vaters Tode sich Gent zum Vororte gewählt, in offener Empörung ihre alten Privilegien an sich gerissen, ein eigenes Heer angeworben und mich noch jetzt nicht einmal ohne Bewachung aus den Thoren reiten lassen? Mit mir will Jeder nur die Herrschaft über mein Land. Darum hat das Volk meine Stiefmutter verbannt, darum meine Freunde von mir getrennt, darum meine unglücklichen Kanzler, den greisen Hugonet, den freundlichen Imbercourt zum Tode verurtheilt und sie – schrecklich, schrecklich! – trotz meines Flehens auf offenem Markte, trotz meines Händeringens vor dem Gravensteine enthauptet.“

Wie gebrochen von der fürchterlichen Erinnerung sank sie auf dem Damastdivan neben dem Balcone. Die Aebtissin knieete vor ihr nieder und trocknete ihr die Schweißtropfen von der Stirn.

(Fortsetzung folgt.)



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