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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)

Heuchelei und Arglist neben unerschrockenster Aufopferungsfähigkeit, von Phantastereien neben planvollster, geriebenster Leitung von Seiten des Propheten und seiner Apostel wie ein Buch der Fabeln und Mythen. Sie ist voll von Bacchanalien eines wüsten Fanatismus, voll von Kämpfen mit den Nachbarn, vor denen sie Jahre lang unaufhörlich aus der civilisirten Welt in die wilde Ungebundenheit der westlichen Grenzländer, von New-York nach Ohio, von Ohio nach Missouri, von hier nach Illinois und von dort nach Utah zurückwichen. Dort trotzen sie jetzt dem Gesetze und werden ihm weiter trotzen, bis die große Pacific-Bahn ihnen wieder so viel ungläubige Nachbarn gegeben haben wird, daß man der Theokratie und Polygamie mit allem daran sich knüpfenden Unfug und Unrath ein Ende machen kann.

Ohne hier näher auf den Gegenstand einzugehen und diese Wunder und Wunderlichkeiten aus den Mängeln der amerikanischen und englischen Cultur zu erklären – mehr als die Hälfte der Mormonen in Utah sind eingewanderte Engländer und Waliser – beschränke ich mich für heute darauf, eine Inhaltsangabe und Charakteristik des „Buchs Mormon’s“ folgen zu lassen, mit dessen angeblicher Auffindung – in Wahrheit war es ein von einem gewissen Spaulding ungedruckt hinterlassener, von Smith und dessen Spießgesellen, dem Campbelliten-Prediger Rigdon, in ein Religionsbuch umgeprägter Roman – jene Dogmenentwickelung und jene kirchliche, sociale und politische Geschichte begann.

Das Buch Mormon’s, welches Smith vor nunmehr einem halben Jahrhundert auf dem Berge Cumorah bei Palmyra gefunden haben wollte, hatte nach ihm in einer Steinkiste gelegen, in der sich zugleich das „Schwert Laban’s“, eine Brustplatte und eine große Brille „wie ein Bogen“ befanden, mittelst welcher letzteren der Prophet das auf Goldplatten eingegrabene, „in neuägyptischer Sprache“ verfaßte und mit alterthümlichen Charakteren geschriebene Manuscript in’s Englische übertrug. Das Buch liegt mir in der ersten europäischen Ausgabe (Liverpool, 1841) vor und bildet in dieser einen Band von sechshundertvierunddreißig Seiten, die beinahe so viel Lesestoff enthalten wie das Alte Testament ohne die Apokryphen. Dieser Stoff zerfällt in die Bücher Nephi 1 und 2, Jacob, Enos, Jarom, Omni, Mosiah, Alma, Helaman, Nephi des Jüngeren, Mormon, Ether und Moroni, und die Ereignisse, welche das Buch erzählt, fallen in die Zeit vom Bau des Thurmes zu Babel bis zum Jahre 424 nach Christi Geburt.

Das heilige Buch belehrt uns über mancherlei Dinge, von denen wir bisher keine Ahnung hatten. Wir lernen durch dasselbe, daß die amerikanischen Indianer aus Mesopotamien und Palästina stammen und daß ihrem gegenwärtigen wilden Zustande eine großartige Epoche der Civilisation vorangegangen ist; wir erfahren Ausführliches über die großen Thaten Gottes auf dem westlichen Continente. Wir lesen im Buche Ether, daß bei der Verwirrung der Sprachen auf der Ebene im Lande Schinear die Jarediter vor dem Angesichte des Herrn Gnade fanden und wegen ihres gerechten Wandels beim bisherigen Gebrauche ihrer Zunge belassen wurden. Der Herr aber führte sie zunächst in das nördlich von Schinear gelegene Thal Nimrod und dann in die Wildniß des Gebirges Schelem am großen Ocean, wo ihnen befohlen wurde, Schiffe zu bauen, um nach dem gelobten Lande in Amerika zu fahren. Diese Schiffe, acht an der Zahl, waren „dicht wie eine Schüssel“ und wurden jedes inwendig durch zwei weiße Steine erhellt, welche der Bruder Jared’s gesammelt und Gott auf dessen Gebet durch Berührung mit seinem Finger leuchtend gemacht hatte. Als die Fahrzeuge in das Wasser gebracht waren, ließ der Herr einen gewaltigen Wind wehen, der immer nach der Richtung ihres Zieles blies und sie in dreihundertvierundvierzig Tagen an die Küste des Landes der Verheißung im Westen führte. Und Gott versprach, ihnen dasselbige zum Erbtheil zu geben, und er schwur in seinem Zorn, daß der, welcher dieses Land besitze, fortan und in Ewigkeit ihm dienen solle, wo nicht, so solle der Brand seines Grimmes über ihn kommen. Wenn sie aber fromm blieben und seine Gebote hielten, wollte er sie zu einem zahlreichen und gewaltigen Volke machen, sodaß kein größer Volk auf Erden erfunden werden sollte.

Und so geschah es im Lauf der Zeit. Die Jarediter erwuchsen, indem ihre Ehen sehr fruchtbar waren, zu einer mächtigen Nation. Ihr erster König war der fromme Orihah, der zweiunddreißig Kinder, darunter vierundzwanzig Söhne hatte, deren jüngster, Kib, ihm auf dem Throne folgte. Unter diesem empörte sich sein Sohn Corihor, zog in das Land Nehor und kehrte nach einiger Zeit mit einem Heere zurück, um seinen Vater zu stürzen. Dies gelang ihm, aber endlich von seinem Bruder Schule mit einer Armee angegriffen, die mit stählernen Schwertern bewaffnet war, mußte er den Thron wieder räumen und Schule regierte an seiner Statt.

So ging es weiter. Durch Empörungen und Auswanderungen zerfiel das Reich in verschiedene von Königen beherrschte Theile. Aber im Allgemeinen geriethen die Jarediter, die vorzugsweise den Norden Amerikas inne hatten, in allen Gegenden desselben ausgedehnte Städte erbauten und überhaupt ein seßhaftes und erleuchtetes Geschlecht waren. Doch verfielen sie zuweilen unter gottlosen Königen in Sünde, und dann wurden sie mit Krieg und Hungersnoth etc. heimgesucht, bis Buße predigende Propheten sie zur Besserung bewogen. Als ungeachtet jener warnenden Stimmen unter den Königen Ethem und Moron die Gottlosigkeit des Volkes endlich allgemein überhand nahm, ließ ihnen der Herr durch einen letzten heiligen Seher, Namens Ether, androhen, er werde sie gänzlich von der Erde vertilgen, wofern sie nicht von ihrem bösen Wandel ließen. Sie gaben auch dieser Mahnung keine Folge, und so brach ein gewaltiger Krieg aus; in ungeheuren Schlachten im Thale Corihor und dem Berge Schurr kamen Millionen um, und sämmtliche Städte des Landes wurden niedergebrannt. Zuletzt standen sich nur noch die beiden Könige Koriantumr und Schiz mit geringen Resten ihrer Heere gegenüber. Auch diese rieben sich in mehreren Treffen an den Wassern von Ripliancum und beim Hügel Ramah vollständig auf; die beiden Fürsten tödteten sich gegenseitig im Zweikampfe und von der ganzen Nation blieb nichts übrig als die Trümmer ihrer Städte und ihre Chroniken, welche auf Goldplatten geschrieben waren und von jenem letzten ihrer Propheten in der Weise niedergelegt wurden, daß sie von den Nachkommen Joseph’s, welche bald nach Vollzug dieses Strafgerichts von Jerusalem nach Amerika geleitet wurden, gefunden werden konnten.

Dieser Rest nämlich von Joseph’s Stamm, bestehend aus Lehi, dessen Weib Sariah und dessen Söhnen Laman, Lemuel, Sam und Nephi, verließ auf Jehova’s Geheiß, um dem herannahenden Unheil zu entgehen, die Stadt David’s im ersten Jahre der Regierung Zedekia’s, des Königs von Juda. Sie wurden zuerst nach dem Ostrande des Rothen Meeres geführt, worauf sie sich, einer ihnen von Gott als Führerin gesandten messingnen Kugel folgend, mehr östlich wendeten, bis sie an das große Wasser Irreantum kamen. Hier bauten sie sich ein Schiff, in welchem sie den Stillen Ocean überschifften und an der Westküste Amerikas landeten.

Und im elften Jahre der Herrschaft Zedekia’s, zu der Zeit, wo die Juden in die babylonische Gefangenschaft abgeführt wurden, brach abermals ein Zug Auswanderer von Jerusalem, worunter sich Etliche vom Stamme Juda befanden, nach dem großen Festlande jenseits des Meeres auf. Sie stiegen in Nordamerika an’s Land, begaben sich indeß kurz darauf nach dem Süden, wo sie ungefähr vierhundert Jahre später von den Frühergekommenen entdeckt wurden.

Die Letzteren schieden sich einige Zeit nach ihrem Eintreffen in Amerika in zwei Völker – eine Spaltung, die dadurch veranlaßt wurde, daß ein Theil derselben die Uebrigen wegen ihrer Gottesfurcht und Gerechtigkeit verfolgte. Diese Frommen wanderten nach Centralamerika aus, während der gottlose Rest des Volkes im Süden verblieb. Die Ersteren hießen nach dem Propheten, der sie führte, Nephiter; die Letzteren wurden nach einem sehr bösen Manne, der sich unter ihnen Geltung verschafft hatte, Lamaniter genannt.

Die Nephiter hatten in ihrem Besitze eine Abschrift des Gesetzes Mosis und der Propheten bis auf Jeremia, in dessen Tagen sie Jerusalem verlassen hatten. Diese Ueberlieferungen aus dem Lande ihrer Vorfahren waren in neuägyptischer Sprache auf Erztafeln verzeichnet und erhielten eine Fortsetzung in andern Platten, welche von den Weisen und Sehern der Nation mit den Thaten ihrer Könige und Helden, sowie mit den Wundern, Gesichten und Offenbarungen, deren Gott das fromme Volk würdigte, gefüllt wurden. Und der Herr segnete sie mit Gedeihen und verhieß ihnen und ihrem Samen das Land zum ewigen Erbe, wofern sie seinem Willen unterthan und gehorsam

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 617. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_617.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)