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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


Reisegefährten seine Absicht, die ihm von Gesicht noch gänzlich unbekannten Verwandten zu überraschen. Auf dem Bahnhof angelangt, hat er zu seinem Unglück die Wohnung der Muhme vergessen, weshalb er jeden Vorübergehenden darnach fragt, in der Voraussetzung, daß jeder Mensch in Berlin eine so brave und angesehene Persönlichkeit kennen müsse. Schon verzweifelt der gute Hann Jochen, die Gesuchte zu finden, als er zu seiner größten Freude von einer alten, würdigen Frau angesprochen wird, die sich ihm als die liebe Muhme unter den zärtlichsten Küssen und Umarmungen zu erkennen giebt. Wie sie ihm mittheilte, war sie, durch einen Brief seiner Eltern von seiner Ankunft benachrichtigt, auf den Bahnhof geeilt, um den theuren Neffen zu empfangen, den sie auch sofort an seiner Familienähnlichkeit erkannte. Sie wollte es unter keiner Bedingung zugeben, daß Hann Jochen sich noch länger mit seinen schweren Päcken schleppte, sondern rief einen von ihr bereits zu diesem Zweck mitgebrachten Träger, der die Sachen zur weiteren Beförderung übernahm. Zugleich warnte sie den unerfahrenen Neffen vor den zahlreichen Taschendieben, weshalb sie ihm rieth, ihr seine volle Börse in Verwahrung zu geben, was auch Hann Jochen that, sodaß er nur einiges Kleingeld in seiner Tasche zurückbehielt. Unterwegs erkundigte sich die Muhme nach seinen Eltern und sonstigen häuslichen Angelegenheiten, für die sie sich lebhaft interessirte. Dabei geschah es, daß sie Namen und Personen häufig verwechselte und, obgleich sie aus demselben Dorfe stammte und die Schwester seiner Mutter war, eine auffallende Unwissenheit der Familienereignisse verrieth, was sie jedoch mit ihrer langen Abwesenheit von der Heimath entschuldigte. Hann Jochen war auch viel zu sehr von dem Leben und Treiben der Residenz in Anspruch genommen, um auf diesen Umstand zu achten. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er die Wunder Berlins, die hohen Häuser in den Straßen, die öffentlichen Plätze mit ihren Denkmälern, die schönen Schaufenster mit all den herrlichen Waaren an und mit offenen Ohren hörte er die wunderbaren Schilderungen seiner Begleiterin von all den Freuden und Vergnügungen, welche ihn in der großen Stadt und in ihrem Hause erwarteten, sodaß er darüber die ganze Welt und alle Warnungen und Ermahnungen seiner vorsichtigen Eltern vergaß. Obgleich ihm der Weg sehr weit vorkam und er bereits einige Müdigkeit verspürte, folgte er sorglos der klugen, liebenswürdigen Muhme, ohne zu bemerken, daß es längst dunkel geworden und der Träger mit den Sachen nicht mehr zu sehen war. An einer Ecke, wo ein großes Gedränge war, sah sich der ehrliche Hann Jochen plötzlich auch von seiner Begleiterin verlassen. Vergebens blickte er sich nach ihr um, umsonst rief er laut ihren Namen; sie war und blieb verschwunden. Da stand er allein, einsam und verlassen in der fremden, großen Stadt. Die Leute, welche er nach der Muhme fragte, lachten ihn aus, und als er sein Abenteuer ihnen erzählte, belehrten sie ihn, daß er in die Hände schlauer Bauernfänger gerathen sei. Da unterdessen die Nacht hereingebrochen war und er die Hoffnung aufgeben mußte, seine wirklichen Verwandten noch so spät ausfindig zu machen, so blieb ihm nichts übrig, als eine Herberge aufzusuchen, zu der ihm eine mitleidige Seele den Weg zeigte.

Als der gute Hann Jochen den nächsten Morgen gerade nicht mit den angenehmsten Gefühlen erwachte, beschloß er, zunächst weitere Nachforschungen nach seiner wahren Muhme anzustellen und um jeden Preis ihre ihm noch unbekannte Wohnung ausfindig zu machen, was keineswegs so leicht war, als er sich vorstellte. Da ihm Niemand sichere Auskunft darüber zu geben vermochte, so rieth ihm der Wirth der Herberge, sich an die Polizei zu wenden, um mit Hülfe derselben die Wohnung seiner Verwandten zu entdecken und zugleich seine durch die Bauernfänger ihm entwendeten Sachen und Gelder wiederzuerlangen. Der Rath leuchtete ihm auch ein, und er begab sich nach dem Molkenmarkte, wobei er sich einige Mal verirrte und in eine ganz entgegengesetzte Gegend kam. In seiner Verlegenheit wendete er sich an eine vorübergehende, anständig gekleidete Frau, welche ein zartes Kind an ihrer Hand führte, um sich nach dem richtigen Weg zu erkundigen. Dieselbe war überaus freundlich und erbot sich aus freien Stücken, ihn bis zum Polizeigebäude selbst zu führen, in dessen Nähe sie wohnte, wenn er so lange auf sie warten wollte, bis sie in der vor ihnen liegenden Apotheke ein Recept für ihren kranken Mann abgeholt haben würde. Zum Pfande ließ sie ihm das Kind, ein schmächtiges, blondes Mädchen von fünf bis sechs Jahren zurück, das er zu beaufsichtigen versprach.

Während die Frau in den Laden trat, unterhielt sich der gutmüthige Hann Jochen mit seiner kleinen Pflegebefohlenen, deren echt Berliner Sprache und drollige Antworten seine höchste Verwunderung erregten und ihm das größte Vergnügen machten, so gut, daß ihm die Zeit nicht lang und er nicht müde wurde, die seltsamen Redensarten und nie gehörten Ausdrücke anzuhören. Das Mundwerk der Kleinen stand auch keinen Augenblick still, und Alles, was sie sagte, hatte einen solchen Schick, eine solche Anmuth, daß er noch nie ein ähnlich süßes und kluges Ding gesehen zu haben glaubte und alle Kinder in seinem Dorfe ihm dagegen wie die dummen Gänse vorkamen. Da aber fast eine Stunde vergangen und die Frau aus der Apotheke noch immer nicht zurückgekehrt war, das ungeduldige Kind aber nach seiner Mutter schrie, so begab sich Hann Jochen in die Apotheke, um die Frau aufzusuchen und das ihm anvertraute Pfand ihr zurückzustellen. Man kann sich denken, wie groß seine Ueberraschung war, als Niemand hier die von ihm bezeichnete Frau gesehen oder gesprochen haben wollte. Nur zu bald wurde ihm klar gemacht, daß die gewissenlose Betrügerin seine Leichtgläubigkeit und Gutmüthigkeit dazu benutzt habe, um sich ihres oder vielleicht eines fremden, elternlosen Kindes zu entledigen.

Wieder stand nun der arme Bursche ohne Sachen, ohne Geld und noch obendrein mit einem Kinde belastet da. Ein herbeigerufener Constabler brachte ihn mit der Kleinen nach der nächsten Wache, wo man ihn einem strengen Verhör unterwarf und anfänglich für einen gefährlichen Vagabunden hielt, da er sich aus Mangel an den nöthigen Papieren über seine Verhältnisse nicht ausweisen konnte. Vorläufig mußte er in das Polizeigefängniß wandern, bis es ihm mit vieler Mühe gelang, seine Unschuld mit Hülfe der endlich aufgefundenen Muhme, einer ehrlichen Victualienhändlerin, darzuthun. Das Kind sollte er indessen so lange behalten, bis es der Polizei gelungen sein würde, die Eltern desselben aufzufinden und die näheren Umstände festzustellen. So kehrte der arme Hann Jochen, gründlich von seiner Reiselust und seiner Bewunderung Berlins geheilt, mit dem kleinen Mädchen in die Heimath zu seinen Eltern zurück, welche über diesen unerwarteten Kindersegen nicht besonders erbaut waren und ihren verlorenen Sohn mit keineswegs schmeichelhaften Redensarten empfingen.

Vier Wochen lang war in dem Dorf von nichts Anderem die Rede, als von dem dummen Hann Jochen und von dem fremden Kind, das wie ein Wunderthier angestaunt wurde. Es war aber auch eine seltsame Erscheinung, diese echte Berliner Pflanze, welche das launische Schicksal mit einem Mal nach einem mecklenburgischen Dorfe verschlagen hatte. Die Kleine konnte ihre angeborene Natur, ihren schlagfertigen Witz, ihre mit der Muttermilch eingesogene Berliner „Schnoddrigkeit“, ihre großstädtische Großmäuligkeit und das wilde Vagabundenblut nicht verleugnen, die im auffallenden Gegensatz zu dem beschränkten, schwerfälligen, aber ehrenwerthen Wesen und der gediegenen, tüchtigen Gesinnung ihrer ländlichen Umgehung standen. So schwer es ihr auch anfänglich fallen mußte, sich in die gegebenen Verhältnisse zu finden, so legte sie doch nach und nach ihre früheren Gewohnheiten ab, wenn auch hier und da immer wieder das altkluge Berliner Kind mit seinen kleinen und großen Unarten zum Vorschein kam.

Da die Polizei aus guten Gründen nichts von sich hören ließ und Niemand mehr nach der Kleinen fragte, so blieb sie einstweilen bei den Eltern ihres Beschützers, die sich mit dem ihnen aufgedrungenen Kinde um so leichter befreundeten, als sie selbst keine Töchter hatten. Mit der Zeit wurde aus dem schmächtigen, blassen, verkommenen Ding eine wohlgenährte, rothwangige, schmucke Dirne, die tüchtig heranwuchs. In der Schule war sie immer die Erste, und in der Kinderlehre gab sie die besten Antworten, sodaß der Herr Pastor sie allen anderen Mädchen vorzog und sie bei der Einsegnung mit der öffentlichen Ablegung des Glaubensbekenntnisses betraute, worüber das ganze Dorf ein lautes Geschrei erhob. Niemand aber wagte es, mit der Fremden anzubinden, da man ebenso sehr ihre scharfe Zunge wie Hann Jochen’s derbe Fäuste fürchtete, der sie gegen alle

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 620. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_620.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)